Reaktion auf EU-KritikDas ABC in zwei Sprachen unterrichten: Ministerium plant mehrsprachiges Pilotprojekt an vier Grundschulen

Reaktion auf EU-Kritik / Das ABC in zwei Sprachen unterrichten: Ministerium plant mehrsprachiges Pilotprojekt an vier Grundschulen
In vier Schulen werden Alphabetisierung und Mathematik bald in zwei Sprachengruppen unterrichtet Foto: Pixabay

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In Luxemburg ist die Schule immer ein großes Streitthema. Keine Reform ist bisher auf große Gegenliebe gestoßen. Doch seit Jahren ist auch klar: Es hapert im System. Manche Schüler fallen durch die Maschen oder ihr Bildungsweg wird durch die Sprachen ungleich erschwert. Das stellt auch die EU-Kommission in ihrem jüngsten Länderbericht fest. Wir haben mit dem „Premier conseiller“ des Bildungsministeriums, Lex Folscheid, über die nötigten Änderungen in der Bildung gesprochen.

Tageblatt: Die EU-Kommission hat Luxemburg in dem jährlichen Länderbericht auch wegen seines Bildungssystems kritisiert. Schüler aus schwachen sozioökonomischen Milieus würden benachteiligt, das Sprachensystem sei für viele Schüler eine Hürde. Hat das Bildungsministerium von dem Bericht Kenntnis genommen? 

Lex Folscheid: Der Bericht der EU-Kommission kommt an sich zu keinen neuen Erkenntnissen. Sie basiert sich dabei ja auch auf viele Studien, die das Bildungsministerium in Auftrag gegeben hat. Daraus haben wir schon unsere Schlussforderungen gezogen und das sind Beobachtungen, die nicht neu sind. Etwa, dass unser Schulsystem nicht für alle Schüler ein adäquates Bildungsangebot bereithält. Unsere Mehrsprachigkeit ist eine große Chance für manche Schüler, für andere ist es eine unüberwindbare Hürde. Das zeigen uns auch Studien wie etwa PISA. Wenn zwei Faktoren zusammenkommen, einerseits ein schwaches sozioökonomisches Milieu und andererseits ein Migrationshintergrund, … aus dieser Bevölkerungsgruppe haben es Schüler und Studierende besonders schwer. 

PISA-Studien: Das große Streitthema, jedes Mal, wenn wieder eine Teilnahme ansteht. Wie steht das Bildungsministerium dazu?

Meischs engster Berater: der „Premier conseiller de Gouvernement“ Lex Folscheid
Meischs engster Berater: der „Premier conseiller de Gouvernement“ Lex Folscheid Foto: Editpress/Didier Sylvestre

Als kurze Erinnerung: PISA hat uns immer wieder ein internationales Ranking gegeben. Aber Luxemburg ist nicht mit anderen Flächenstaaten wie Deutschland, Belgien oder Frankreich zu vergleichen. Sondern eher mit einem anderen Ballungsgebiet, mit einer Stadt. Und unsere Sprachsituation ist einzigartig, nicht mit anderen Ländern vergleichbar. PISA hat uns wichtige Erkenntnisse geliefert, zum Beispiel, dass die unteren fünf Prozent unserer Schulpopulation unter denen anderer Länder lagen.

Aber die Studie hat uns nicht gezeigt, wieso das so ist. Das heißt nicht, dass wir das weniger ernst nehmen, aber es hat uns schlicht nicht weitergebracht. Also haben wir uns entschieden, nur jedes zweite Mal (also alle sechs Jahre) teilzunehmen, ein Weg, den auch mittlerweile andere Länder gegangen sind und wo nun auch eine Diskussion entbrannt ist, prinzipiell mehr Zeit zwischen den PISA-Studien zu lassen. Um den Staaten auch Zeit für Reformen zu geben. Statt PISA haben wir unsere eigenen Monitoring-Systeme geschaffen, die viel performanter sind und uns mehr Ansatzpunkte für die Schulpolitik liefern. 

Im Bericht heißt es wortwörtlich: „Pupils’ basic skills are lower than the EU average and strongly linked to socioeconomic background.“ Das hört sich an, als würde Luxemburg, auf gut luxemburgisch, „d’Schlappe verléieren“. Was unternimmt das Bildungsministerium denn nun konkret, um Schüler besser auszubilden?

Die Schlussfolgerung, dass manche Schüler aufgrund ihrer Sprachprofile in unserem Bildungssystem zurückgeworfen werden, hat uns schon in der vergangenen Legislaturperiode der Dreier-Koalition dazu gebracht, auf das System der zertifizierten Europaschulen zu setzen. Vor allem Schüler mit Migrationshintergrund haben einfach nicht das sprachliche Niveau, um auf Deutsch unterrichtet zu werden und sich aktiv am Schulleben in dieser Sprache zu beteiligen. Sie werden also doppelt gestraft, weil sie nicht nur beim Sprachenunterricht, sondern auch in anderen Fächern wie Mathematik zurückbleiben aufgrund der Sprache, auch wenn sie in diesen Fächern vielleicht große Kompetenzen hätten. 

Initiativen auf diesen Europaschulen mit z.B. französisch- oder englischsprachigen Sektionen haben uns gezeigt, dass das eine Lösung sein kann, diesem Problem entgegenzuwirken. Das waren keine leichtfertigen Experimente, sondern ein zusätzliches Angebot, von dem viele Schüler profitieren können. 

Durch die Pandemie wurden wir etwas zurückgeworfen, doch wir wollen nun Pilotprojekte starten, um ein ähnliches System auch in den sogenannten traditionellen Luxemburger Schulen einzuführen. Ab diesem September werden wir in vier Gemeinden, vier Schulen ein System testen, wo zweisprachig alphabetisiert wird. Wir sind sehr zuversichtlich, dass das die richtige Lösung für unsere Problematik ist. 

Wie soll man sich das System denn konkret vorstellen? Läuft dann die ganze Schule nur auf Deutsch oder nur auf Französisch?

In den meisten Schulen gibt es von jedem Zyklus zwei Klassen. Eigentlich werden die Schüler gemischt in die Klassen eingeteilt, doch für die Alphabetisierung und die Mathematik-Klassen werden sie dann in homogene Sprachengruppen aufgeteilt. Ein Lehrer unterrichtet dann auf Deutsch, die andere Lehrkraft auf Französisch. In den anderen Fächern werden sie dann wieder in den gemischten Klassen betreut, also Sport, Basteln, Wissenschaften, Musik und so weiter. Die Pilotprojekte werden dann in drei, vier Jahren ausgewertet, wohl unter der Leitung der nächsten Regierung. Dann werden wir sehen, ob wir dies auch weiter ausweiten werden.

Das klingt sehr innovativ, doch die Diskussionen über „Sprachensektionen“ sind doch alles andere als neu. Da wurde schon vor Jahren drüber gesprochen. Wieso also erst jetzt diese konkreten Pilotprojekte?

Sie müssen bedenken, 2012/2013 gab es eine Reform der Sekundarschule, in der unterschiedliche Sprachenniveaus eingeführt werden sollten. Das sollte eine der Antworten sein auf die immer größere Diversität an unseren Schulen. Das war aber so umstritten, dass es gestoppt wurde. Die Initiative damals war wohl einfach noch zu früh für unsere Gesellschaft.

Wir haben dann aber über die europäischen Programme, die nicht so kritisiert wurden, gezeigt, dass es funktioniert. Heute sind die zertifizierten Europaschulen, die im ganzen Land zu finden sind, nicht mehr aus dem Luxemburger Schulsystem wegzudenken. Jetzt ist auch der Moment reif für neue Pilotprojekte, die auf weniger Gegenwind stoßen werden. Man hat in den Diskussionen in der Chamber und in den Avis der Gewerkschaften gesehen, dass dies heute nicht mehr in Frage gestellt wird, wogegen vor mehr als 10 Jahren noch Sturm gelaufen wurde. Sprachen und Sprachenpolitik sind immer etwas Hochemotionales und müssen im Gleichschritt mit einer gesellschaftlichen Akzeptanz gehen. 

Laut EU-Kommission zeigt sich bei der Analyse der Daten auch, dass benachteiligte Schüler öfter auf die untersten Stufen der Sekundarschule orientiert werden und weniger oft auf die „höheren“ Klassen. Ist es ein strukturelles Problem, dass manche Schüler in Luxemburg schulisch einfach fallen gelassen werden? 

Ich kann da der EU-Kommission nicht vollständig zustimmen. Ja, es gibt Schülergruppen in der Primärschule, wo es unsere Ambition sein müsste, sie auch ins „Générale“ orientieren zu können. Die Pilotprojekte zielen ja genau darauf ab. Darüber hinaus aber kann ich nicht verstehen, wieso das „Générale“ in den Augen der EU-Kommission eine „untere Bildungsstufe“ ausmacht. Die Systeme erlauben es diesen Schülern, mit einer allgemeinen Hochschulreife abzuschließen. Die ermöglicht es einem später zu studieren, eine gute akademische und berufliche Karriere zu machen. Ich meine, es gibt Minister – ganz konkret unseren Bildungsminister! –, die eine „Générale“ absolviert haben. Da muss ich der EU-Kommission einfach einen Mangel an Verständnis für unser System unterstellen. 

Teil des Sprachproblems in der Schule sind ja auch die Schulbücher. Noch vor einigen Jahren bezog Luxemburg viel Material aus dem Ausland, Schulbücher waren nicht unbedingt auf die Bedürfnisse der Luxemburger Schüler zugeschnitten. Hat sich das mittlerweile geändert?

Ich kann ihnen bestätigen, dass wir in diesem Bereich massiv Anstrengungen unternommen haben. Der Script, der dafür zuständig ist, hat seine Mannschaften, die an dem Material arbeiten, mehr als verdoppelt. Wir haben große Kraftakte unternommen, um das Schulmaterial anzupassen und zu reformieren.

Englisch wird immer wichtiger – in der Schule wie in der Berufswelt. Reichen die Anstrengungen in den Luxemburger Schulen, um den Schülern die Sprache nahezubringen?

Englisch ist die Sprache, die bei der jungen Generation eh sehr hoch im Kurs steht. Sie haben täglich mit ihr zu tun, über die sozialen Medien. Sie lernen Englisch in der Regel sehr schnell und haben auch ein hohes Niveau. Da müssen wir uns keine Sorgen machen. Doch ist Englisch die Sprache von morgen, bleibt Französisch die Sprache von heute in Luxemburg. Da müssen verschiedene Schüler aufpassen, dass sie da den Anschluss nicht verlieren. Der schwierigste Zugang herrscht aber zum Deutschen. Diese Sprache spielt für viele, insbesondere Schüler mit Migrationshintergrund, im Alltag überhaupt keine Rolle. 

Es hört sich so an, als wäre Ihre Nachricht: Wir haben die Kritiken zur Kenntnis genommen und arbeiten daran, uns zu verbessern. 

Absolut. Wir versuchen, das Bildungssystem über verschiedene Wege zu verbessern. Aber in der Schulpolitik braucht man Zeit. Gleichzeitig ändert sich unsere Gesellschaft in einem atemberaubenden Tempo. Nur als Beispiel: Es gibt Schulen, insbesondere im Süden des Landes, da finden sich in einer Klasse mehr Nationalitäten als Schüler. Da hatte sich Minister Meisch auch nicht verzählt, sondern das kommt einfach durch die Doppelnationalitäten. Das ist ein Phänomen, das gibt es eigentlich nur in Luxemburg oder in großen internationalen Städten. Damit kommen immer neue Herausforderungen auf uns zu, auf die wir uns einstellen müssen. Damit bedeutet auch eine „stabile“ Position bei PISA, dass viel im Hintergrund richtig läuft. Wir müssen schnell handeln, auch wenn wir manchmal außer Atem kommen. 

Manchmal entsteht aber auch der Eindruck, als handele das Bildungsministerium alles andere als schnell. 

Die Meinungen in der Öffentlichkeit ändern sich auch schnell. Ich erinnere mich, in der letzten Legislaturperiode haben wir von der Opposition vorgeworfen bekommen, wir würden mehr lostreten, als wir am Ende auch stemmen können. Es gibt einfach viel zu tun: Das Sektionssystem auf dem „Classic“ gibt es seit 1969. Als wir 2017 die I (Informatik und Kommunikation)-Sektion eingeführt haben, war das die erste neue Sektion seit der G, fast 20 Jahre davor. Nun kommt im „Classic“ die Sektion P (Pädagogik, Psychologie, Soziologie und Philosophie) in einzelnen Schulen dazu. Und in der „Ecole de commerce et de gestion“ führen wir die N-Sektion ein, für „Entrepreneuriat, Finance et Marketing“. 

Aber ein System von Leistungsfächern, in dem der Schüler seine Fächer selbst zusammenstellen kann, will Luxemburg nicht einführen. 

Nein, diesen Weg zu gehen ist nicht geplant. Das wurde seit 2010 diskutiert. Zum einen bestehen Bedenken, dass es den Schüler überfordern könnte. Und andererseits wollten wir kein System, an dem am Ende ein Abschluss wegen der Leistungsfächer weniger wert ist, als ein anderer, und so unserer Schüler nicht mehr an allen Universitäten angenommen werden. Dazu kommt, dass ein solches Wahlsystem organisatorisch unmöglich in Luxemburg zu stemmen wäre. Am Ende würde eine richtige Auswahl von Leistungsfächern nur in den großen Schulen möglich sein.