SolidaritätWie mehrere Flüchtlinge aufgrund eines einzigen Anrufs eine neue Heimat in Kayl-Tetingen fanden

Solidarität / Wie mehrere Flüchtlinge aufgrund eines einzigen Anrufs eine neue Heimat in Kayl-Tetingen fanden
Christian Bombardella war erst mit dem Privatauto und danach mit einem Lastwagen an der ukrainischen Grenze Foto: Editpress/Tania Feller

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Feinschliff könnte man den Teil der Arbeit nennen, welcher den Kayler Gemeindeverantwortlichen bei der Betreuung der ukrainischen Flüchtlinge noch bevorsteht. Denn in den vergangenen Monaten hat die Südgemeinde nicht nur Wohnraum und Platz für Schulklassen aus dem Boden gestampft, sondern mithilfe engagierter Bürger und Klubs ein Klima der Willkommens- und Integrationskultur geschaffen.

Dorfpolitik birgt ihre Tücken. Das dürfte in Kayl-Tetingen ein offenes Geheimnis sein. Allerdings hat sie auch den Vorteil, eine Politik der kurzen und direkten Wege zu sein. Als Christian Bombardella, früher aktiver Feuerwehrmann und Sanitäter der Gemeinde, die Nummer des ersten Schöffen Romain Becker wählt, geht es nicht um banale Sorgen vor der eigenen Haustür – sondern um ein internationales, humanitäres Unterfangen. Zu diesem Zeitpunkt befindet er sich bereits knapp 300 Kilometer vor seinem Zielort in Polen: einer Kampfsport-Basis, in der Flüchtlinge aus der Ukraine Anfang März auf Sportmatten notuntergebracht sind.

In einer Nacht- und Nebelaktion hat der hilfsbereite Tetinger am Tag zuvor entschieden, die ukrainischen Familienangehörigen seines Nachbarn Viktor an der polnischen Grenze abzuholen. Ein Kollege begleitet ihn mit einem weiteren Auto, vollgestopft bis unter das Dach: Verpflegung, Hygieneartikel, Jacken und Decken sowie Diesel-Reserven (die später auf der Autobahn in den Tank geschüttet werden müssen). „Ich habe morgens meinem Arbeitgeber am Telefon mitgeteilt, dass er nicht mit mir rechnen sollte. Das war’s.“ Vier Mütter und deren fünf Kinder – zwischen zwei Monate und 15 Jahre alt – kommen bereits zwei Tage später völlig erschöpft in der Südgemeinde an. Anders als geplant finden letztlich zwei der fünf Ukrainer Unterschlupf bei den Bombardellas. Einer der ersten, der die Neuankömmlinge dort begrüßt, ist Becker. „Ich habe noch nie Menschen gesehen, die so müde waren“, erinnert er sich. „Wir mussten reagieren. Es sind Menschen, keine Kaktusse, die man einfach irgendwo abstellt.“

Nach internen Gesprächen stellt die Kommune die „al Millen“ (die an das Kayler Feuerwehrgebäude angrenzt) als Wohnraum für die ersten Familien zur Verfügung. „Eigentlich ist dieses Haus als Notlösung gedacht, sollte eine Familie ihre Wohnung, beispielsweise durch einen Brand, verlieren.“ Damit kam die Gemeinde einem der größten Wünsche der ukrainischen Mütter nach, die nach den schrecklichen Erlebnissen nicht voneinander getrennt werden wollten. Doch das leerstehende Haus musste erst wieder instand gesetzt werden. Die gesamten Einheiten der Gemeinde brachten die Zimmer binnen kürzester Zeit auf Hochglanz – vom Anstrich bis hin zur Telefonleitung für das kabellose Internet.

In Etappen

Nicht einmal zwei Wochen später wird vom Schöffenrat mitgeteilt, dass für eine regionale Schule („Ecole internationale de Mondorf“) die Gebäulichkeiten der alten Faubourg-Schule dienen werden. Das Angebot für Klassenzimmer geht auf eine Nachfrage des Schulministeriums zurück – und steht vorerst bis Juli 2023, danach besteht Kayler Eigenbedarf. Eine Angelegenheit, die besonders Becker – selbst Lehrer in Esch – am Herzen liegt. „Als ich die Kinder sah, die nach zwei Tagen schon französische Vokabeln lernen wollten …“  Bereits nach den Osterferien stehen in Kayl Lehrkräfte und Schulsäle bereit. „Unsere Handwerker waren alle im Dauereinsatz für diese Mission. Der ‚service technique’ hat sämtliche Räumlichkeiten auf Vordermann gebracht. Sicherheit, Elektronik, Finanzen, alltäglicher Betrieb, Informatik: Neben ihrer normalen Arbeit haben unsere Leute mit viel persönlichem Einsatz dafür gesorgt, dass alles schnell bereitstehen könnte.“

Was sonst in stundenlangen Sitzungen und mit viel Diskussionen geklärt werden musste, lief aufgrund der guten Zusammenarbeit mit den betroffenen Ministerien in diesem speziellen Fall fast reibungslos ab. Selbst Bustransporte, die Ganztagsbetreuung inklusive Kantine, Lehrbücher und Material, wurden innerhalb weniger Wochen durchorganisiert. „Durch die Konvention ist festgelegt, dass wir das Geld für die geschaffenen Posten in der Schule vorstrecken. Der größte Teil der Kosten liegt also beim Staat. Der Rest geht auf menschlichen Einsatz zurück. Wir haben in dieser schweren Zeit Größe bewiesen“, sagt Becker nicht ohne Stolz. 

Das haben in der kleinen Gemeinde aber noch viele andere Menschen. Es sind die Anekdoten von Bombardella, die auf die riesige Hilfsbereitschaft hindeuten. Ob Spritgeld, Decken oder einen Einkaufswagen voller Zahnbürsten und Shampoo – es brauchte nicht viele Worte, um Nachbarn und Freunde für den guten Zweck zu mobilisieren. Tochter Laura, Schülerin im Düdelinger LNB, sammelt fast über Nacht so viele Spenden, dass selbst die Garage der Familie nicht mehr als Lager reicht. Der lokale Jugendtreff platzt nach einem Aufruf über Facebook aufgrund der vielen Sachgaben binnen weniger Tagen aus allen Nähten. 

In der 9.000-Einwohner-Gemeinde spricht sich die Ankunft der neuen Nachbarn natürlich schnell herum. Auf Initiative des Jugendtreffs, der einheimischen Elternvereinigung und des Rümelinger Jugendhauses wird in Kayl ein erstes Treffen für Flüchtlinge und deren Gastfamilien organisiert. Als Lokal dienen die ehemaligen Räumlichkeiten des Bahnhofs. Kennenlernen, austauschen, integrieren und etwas Ablenkung – im entspannten, ungezwungenen Kreis. Der erste gemeinsame Abend war ein voller Erfolg, wie Joanne Buchette erzählt. Weitere werden folgen. Die Gemeinschaft soll wachsen. Während die Jüngsten seit Schulbeginn in der „Maison relais“ betreut werden, haben sich die Jugendhäuser zusammengetan, um Kontakte mit und zwischen den Jugendlichen zu knüpfen. Auch auf Vereinsebene ist die Interaktion groß. Ob Fußball oder Karate – die lokale Sportwelt zögert nicht und treibt Trainingsmaterial für die jungen Sportler auf.

Bombardella hilft ein paar Wochen später auch einer anderen Dame von einer Privatunterkunft beim Umzug in die „Millen“. Diesmal ist es umgekehrt, denn es ist der Schöffe, der den Ehrenamtlichen kontaktiert, um zu helfen. „Dann nimmt man sich ein paar Stunden früher frei. Eine Lösung gibt es immer.“ Das gilt auch für die kleinen Bitten der Frauen, die nun eine langfristige Bleibe gefunden haben.

Sie sollen sich nicht wie Flüchtlinge fühlen müssen, sondern wie Menschen

Romain Becker, Erster Schöffe der Gemeinde Kayl-Tetingen

Doch abgeschlossen ist die Hilfe für ukrainische Ankömmlinge in der Gemeinde deshalb noch lange nicht. Erzieher haben sich bereits an die Kommune gewandt, da erste Zeichen von Trauma bei ein paar ukrainischen Kindern aufgetaucht sind. „Da muss schnell gehandelt werden. Die psychologische Betreuung wurde bereits angefordert“, sagt Becker.

Verändert hat Christian Bombardella aber nicht nur das Leben der Familienmitglieder, die er selbst an der Grenze abgeholt hat. Auf dem Rückweg einer seiner beiden Fahrten wurde er auf einer Tankstelle auf eine ukrainische Familie aufmerksam, die absolut planlos in Richtung Mannheim unterwegs war. Die Luxemburger notierten die Adresse des SHUK („Structure d’hébergement d’urgence“, Kirchberg) auf ein Blatt Papier und haben damit einer weiteren Familie Option auf Schutz im Großherzogtum ermöglicht. „Als wir schon fast nicht mehr dran glaubten, dass sie sich noch mal melden würden, rief der Vater an und bat uns, ihm beim Ölwechsel auf Kirchberg zu helfen.“

Geschichten, die nur das Leben schreibt, aber eben auch den Krieg als traurigen Hintergrund haben. „Normalerweise ist Krieg etwas, das man mit anderen Kulturkreisen in Verbindung bringt. Diesmal aber können wir uns mit diesen Menschen identifizieren. Bilder zu sehen, wie Kinder leiden, ist grausam und dramatisch. Da wird einem die Unmenschlichkeit so richtig bewusst“, sagt Becker. Umso wichtiger sei es ihm deshalb stets gewesen, allen neuen Einwohnern aus dem Kriegsgebiet mit Respekt entgegenzutreten, damit diese ihre Würde behalten können. „Sie sollen sich nicht wie Flüchtlinge fühlen müssen, sondern wie Menschen.“ Wohl die beste Einstellung, um ein gesundes Zusammenleben zu garantieren.