StandpunktDer IWF ist bei Kapitalkontrollen noch immer nicht auf dem Stand der Zeit

Standpunkt / Der IWF ist bei Kapitalkontrollen noch immer nicht auf dem Stand der Zeit
Kristalina Georgiewa, Direktorin des Internationalen Währungsfonds (IWF)  Foto: KEYSTONE/dpa/Gian Ehrenzeller

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Das überarbeitete Regelwerk des Internationalen Währungsfonds zur Steuerung grenzübergreifender Finanzströme, das im vergangenen Monat vom Exekutivdirektorium des IWF verabschiedet wurde, weitet die Umstände aus, unter denen Länder Kapitalzuflüsse beschränken können. Leider schränkt er die Länder zugleich übermäßig in ihrer Handlungsfähigkeit ein und versäumt es, sich mit den unzähligen realweltlichen Kontexten auseinanderzusetzen, in denen die angebotenen IWF-Ratschläge angemessen bzw. unangemessen sind.

Während also volatile Kapitalflüsse bereits eine laufende Herausforderung für viele Schwellen- und Entwicklungsländer darstellen, verringert das Regelwerk die Optionen dieser Länder zum Erreichen ihrer sozialen Ziele und könnte die Weltwirtschaft letztlich instabiler machen.

Laut dem vorherigen, 2012 verabschiedeten, als „Institutional View“ (IV) bezeichneten Regelwerk des IWF waren Kontrollen in Bezug auf Kapitalabflüsse nur dann legitim, wenn sich ein Land in der Krise befand, und Kontrollen in Bezug auf Kapitalzuflüsse sollten nur als letztes Mittel genutzt werden, wenn ein Land eine Flutwelle an ausländischem Geld erlebte. Der IV war ein politischer Kompromiss. Er spiegelte tiefe Spannungen wider zwischen jenen IWF-Mitgliedstaaten (darunter einigen seiner Mitglieder mit den größten Kapitalanteilen), die eine uneingeschränkte Liberalisierung des Kapitalverkehrs befürworteten, und jenen (darunter vielen Schwellen- und Entwicklungsländern), die den Segen des IWF für politische Maßnahmen zur Abmilderung der Volatilität anstrebten.

Ausweitung der Articles of Agreement

Einige Länder lehnten den IV nicht deshalb ab, weil sie ihm inhaltlich nicht zustimmten, sondern weil sie ihn als „Überhebung“ betrachteten. Sie machten sich Sorgen, dass der IWF seinen durch seinen Gründungsvertrag (die „Articles of Agreement“), der den Ländern erhebliche Handlungsspielräume bei Maßnahmen zur Kapitalkontrolle einräumte, festgelegten Auftrag überschritt und dass ein künftiges IWF-Direktorium plötzlich Kurs ändern und versuchen könnte, diese Handlungsspielräume zu beschneiden.

Die Aufgabe des IWF besteht darin, negative internationale Auswirkungen der nationalen Politik zu verhindern. Die Gründungsväter des Fonds, John Maynard Keynes und Henry Dexter White, waren zutiefst besorgt über die Auswirkungen kompetitiver Währungsabwertungen und betonten in den IWF-Artikeln die Regeln zur Verhinderung einer zu Lasten anderer Länder verfolgten Politik. In jüngerer Zeit haben wir erlebt, was passieren kann, wenn die Finanzprobleme eines Landes auf andere übergreifen, so wie das während der globalen Finanzkrise passierte.

Als die Articles of Agreement des IWF verfasst wurden, nutzten die meisten Länder – auch die heutigen hochentwickelten Volkswirtschaften – in großem Stil Kapitalkontrollen. Daher geben die Articles of Agreement dem IWF nicht die Befugnis, auf eine Kapitalmarkt-Liberalisierung zu drängen. Zudem kam der letzte Versuch zur Ausweitung der Articles of Agreement – auf der Jahreskonferenz des IWF in Hongkong 1997 – zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt, gerade als die von enormen Kapitalabflüssen ausgelöste Asiatische Finanzkrise ausbrach.

So oder so erzeugen kleine Länder ohne unterbewertete Währungen weder negative Externalitäten noch verfolgen sie eine auf Schädigung anderer zum eigenen Vorteil ausgerichtete Politik. Wenn sie Kapitalkontrollen einsetzen, geschieht das gewöhnlich unter Umständen, die mit dem Auftrag des IWF wenig zu tun haben.

Vorsorgemaßnahmen gegen Kapitalzuflüsse

Man betrachte etwa das von vielen hochentwickelten Ländern und Schwellenmärkten verfolgte soziale Ziel, durch Einschränkung ausländischer Käufe inländischer Immobilien bezahlbaren Wohnraum für die Mittelschicht sicherzustellen. Diese Beschränkungen fallen nicht in die Zuständigkeit des IWF, insbesondere wenn sie nicht zu einer wesentlichen Währungsabwertung führen oder auffällige grenzübergreifende finanzielle Auswirkungen haben. Trotzdem drängte der IWF kürzlich Australien, eine kleine Steuer auf Zuflüsse im Immobiliensektor nach Tasmanien (Bevölkerung: 541.000) zu überdenken, obwohl die Maßnahme unmöglich gesamtwirtschaftlich bedeutsam sein konnte. Und das ist nur ein eklatantes Beispiel unter vielen. Derartige Aufforderungen und verwandte Positionen in Bezug auf so unterschiedliche Länder wie Kanada und Singapur untergraben die Glaubwürdigkeit der „Beaufsichtigung“ (Überwachung) durch den IWF.

Das überarbeitete Regelwerk des IWF erlaubt klugerweise unter bestimmten Umständen Vorsorgemaßnahmen gegen Kapitalzuflüsse. Der Fonds hat inzwischen erkannt, dass es unklug ist, zu warten, bis finanzielle Ungleichgewichte einen Kipppunkt erreichen, bevor man etwas dagegen tut. Diese im Wesentlichen auf die vorsorgliche makroprudenzielle Regulierung zielenden Überlegungen gelten genauso für durch „heißes“ Geld aus dem Ausland hervorgebrachte Ungleichgewichte wie für solche, die durch übermäßige Kreditaufnahmen im Inland bedingt sind.

Doch was ist mit der Kapitalabflussseite der Gleichung? Angesichts der derzeitigen Zinserhöhungen durch die US Federal Reserve ist diese Frage für viele Schwellenländer akut relevant. Doch das neue Regelwerk des IWF weicht dem Thema seltsamerweise aus.

Misstrauen gegen Kontrollen

Ökonomen hegen im Allgemeinen tiefes Misstrauen gegen Kontrollen von Kapitalabflüssen. Dies ist durch ihre Sorge bedingt, dass derartige Maßnahmen zwangsläufig auf eine teilweise Enteignung hinauslaufen. Doch ist das Problem dabei das Design der Maßnahmen und ob die Spielregeln klar und vorab bekannt sind. So könnte etwa eine vorab angekündigte Politik der Besteuerung kurzfristiger Kapitalabflüsse (aber nicht solcher über einen längeren Zeitraum) und der Verhängung umfassenderer Kontrollen im Krisenfall letztlich die gesamtwirtschaftliche Stabilität erhöhen und ausländische Investitionen in dieser Hinsicht attraktiver machen. Es ist Teil der Aufgabe des IWF, zu bewerten, ob Kontrollen von Kapitalabflüssen erforderlich sind, wie ihr Design verbessert werden kann und welche Rolle sie innerhalb des Landes spielen könnten.

Die gängige Meinung hierzu entwickelt sich dank Fortschritten in der Wirtschaftstheorie, die die Klugheit der Verhängung von Kapitalkontrollen unter bestimmten Umständen eindeutig unter Beweis gestellt hat, beständig weiter. Was Ende der 1990er Jahre (als der IWF für eine vollständige Kapitalbilanz-Liberalisierung eintrat) tabu war, unterscheidet sich von dem, was 2012 (als der IWF sich für Kontrollen von Kapitalzuflüssen bei deren sturzflutartiger Zunahme aussprach) und 2022 (als er sich für vorsorgliche Kontrollen von Kapitalzuflüssen aussprach) tabu war.

Es scheint klar zu sein – und zwar auch dem IWF –, dass Kontrollen in Bezug auf Kapitalabflüsse im Rahmen seines Kredits an Argentinien während der Präsidentschaft von Mauricio Macri womöglich wünschenswert gewesen wären. Ohne derartige Kontrollen ließ der IWF einfach zu, dass internationale Investoren ihr Geld außer Landes schafften. Dies hinterließ Argentinien eine Schuldenlast von 44 Milliarden Dollar, ohne dass es dafür viel vorzuweisen hatte. Unter Umständen wie jenen, denen Argentinien ausgesetzt war, sollte der IWF Kapitalkontrollen in Bezug auf Kapitalabflüsse nicht nur zulassen, sondern tatsächlich auf ihnen bestehen.

Die Articles of Agreement des IWF geben den Regierungen der Mitgliedstaaten zu Recht viel Spielraum bei der Anwendung von Kapitalkontrollen, sofern derartige Maßnahmen nicht auf die Schädigung anderer zum eigenen Vorteil ausgelegt sind. Die reichen Länder haben diese Flexibilität vollumfänglich ausgenutzt. Der IWF könnte Schlimmeres tun, als am Geiste seiner Gründer festzuhalten.


*Joseph E. Stiglitz ist Wirtschaftsnobelpreisträger und Professor an der Columbia University sowie Mitglied der Unabhängigen Kommission für die Reform der internationalen Unternehmensbesteuerung (ICRICT). Jonathan D. Ostry übernimmt in Kürze eine Professur für praktische Volkswirtschaft an der Georgetown University. Er ist ehemaliger stellvertretender Direktor des IWF und war dort gemeinsamer Leiter der für den „Institutional View on Capital Flows“ verantwortlichen Arbeitsgruppe. Er ist Mitverfasser von „Taming the Tide of Capital Flows“ (MIT Press, 2018).

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Copyright: Project Syndicate, 2022. www.project-syndicate.org