Ukraine-KriegDie Kämpfer von Mariupol verlassen die Stahlwerk-Bunker, ihre Zukunft bleibt ungewiss

Ukraine-Krieg / Die Kämpfer von Mariupol verlassen die Stahlwerk-Bunker, ihre Zukunft bleibt ungewiss
Ein russischer Soldat durchsucht einen ukrainischen Infanteristen nach der Evakuierung  Foto: AFP/Russisches Verteidigungsministerium

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Nach mehr als 75 Tagen in den Bunkern unter dem Stahlwerk bleibt die Zukunft der letzten Verteidiger der ukrainischen Hafenstadt Mariupol unklar. Viele sollen in pro-russische Separatistengebiete evakuiert worden sein. Doch es gibt auch ein gutes Zeichen: Kiew und Moskau verhandeln miteinander.

Nach der Evakuierung Dutzender Soldaten aus dem Asovstal-Werk in Mariupol ist am Mittwoch ein heftiger Streit zwischen Moskau und Kiew entbrannt. Laut russischen Angaben haben sich alleine in der Nacht auf Mittwoch 694 Soldaten in dem seit 1. März umzingelten Industriegelände ergeben. „Niemand hat sich ergeben“, protestierte indes das Verteidigungsministerium in Kiew. Es würde weiterhin in aller Ruhe und unter Geheimhaltung daran gearbeitet, alle „Helden von Mariupol“ lebend zu retten, hieß es in Kiew.

Eine erste Gruppe von 260 bis 265 ukrainischen Soldaten hatte das einstige Stahlwerk im Stadtzentrum von Mariupol am Dienstag nach Verhandlungen der beiden Kriegsparteien in sieben Autobussen verlassen. Darunter haben sich nach übereinstimmenden Angaben gut 50 Schwerstverletzte befunden. Sie wurden ins Spital von Nowoasowsk in der 2014 selbst-ausgerufenen „Volksrepublik Donezk“ gebracht. Die Küstenstadt liegt rund 35 Kilometer östlich des Asowstal-Werks. Rund 200 Kämpfer kamen dagegen in ein sogenanntes Filtrationslager im pro-russischen Separatistengebiet. Laut Kiewer Angaben hat man sich mit Moskau darauf geeinigt, diese Gruppe zusammen mit den Verwundeten gegen russische Kriegsgefangene einzutauschen. „Wir brauchen diese Helden in der Ukraine“, sagte der ukrainische Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj in seiner nächtlichen Ansprache.

Viele noch unter der Erde

Laut Vize-Regierungschefin Irina Wereschtschuk sollen in den nächsten Tagen sämtliche Verteidiger von Mariupol, die sich noch in den Bunkeranlagen von Asovstal befinden, evakuiert werden. Sie alle hätten ihre Mission erfüllt, und eine Befreiung des Geländes sei im Moment militärisch unmöglich, sagte Wereschtschuk. Aus Sicherheitsgründen sagt Kiew nicht, wie viele Kämpfer sich dort noch aufhalten. Bisherige Schätzungen des Kiew-treuen Rathauses von Mariupol gingen von 2.000 bis 3.000 Marine-Infanteristen, Mitgliedern des umstrittenen nationalistischen Freiwilligenbataillons „Asow“, früheren Hafen-Grenzschützern und früheren Stadtpolizisten aus.

Nach über 75 Tagen Belagerung sind den Verteidigern nicht nur die Munition, sondern auch die Essensrationen und das Trinkwasser ausgegangen. Nur einmal gelang es offenbar einem Helikopter der ukrainischen Armee, Nachschub ins Asovstal-Gelände für die eingeschlossenen Truppen zu fliegen.

Unter dem Stahlwerk sollen sich bis zu 600 Verletzte befunden haben
Unter dem Stahlwerk sollen sich bis zu 600 Verletzte befunden haben Foto: AFP/Russisches Verteidigungsministerium

Am Sonntag hatte sich ein Verteidiger mit dem Kampfnamen „Polizist“ aus dem mehrmals von russischen Kampfflugzeugen bombardierten Feldspital an die Öffentlichkeit gewandt. „Wir haben rund 600 Verletzte unter schlimmsten Bedingungen hier“, berichtete der Mann. „Von Zeit zu Zeit sammeln wir technisches Wasser im Stahlwerk und bringen es ins Spital, denn Trinkwasser gibt es keines mehr. Wir liegen in einer großen Turnhalle, haben ein paar Dutzend Feldbetten, der Rest liegt auf dem Boden, darunter viele Amputierte“, sagte der „Polizist“. Laut einem Polizeisprecher aus Mariupol wurde erst am Sonntag ein angeschossener Soldat mit einer Tennisball-großen Wunde ohne Anästhesiologie operiert. „Es gibt keine entsprechenden Medikamente mehr“, hatte zuvor aus dem Asowstal-Werk bereits der „Polizist“ berichtet.

Rettungsaktion geht weiter

Dennoch zeigen Videoaufnahmen des Asow-Bataillons, dass bis zuletzt noch zurückgeschossen wurde. Allerdings haben die Russen damit begonnen, die Ausgänge aus dem 1944, 1945 angelegten Bunkersystem unter dem Stahlwerk abzuriegeln. Die entsprechenden Pläne sollen ihnen zuvor von einem einstigen Werk-Elektriker verraten worden sein.

In Moskau nahm inzwischen die von Wladimir Putin kontrollierte Staatsduma Beratungen über eine Gesetzesnovelle auf, die den Austausch von Asovstal-Verteidigern mit Kriegsgefangenen verbieten soll. „Naziverbrecher sollten nicht ausgetauscht werden. Sie sind Kriegsverbrecher, und wir müssen alles tun, um sie vor Gericht zu stellen“, sagte der Duma-Vorsitzende. Russlands Oberstaatsanwalt hat Berichten zufolge den Obersten Gerichtshof des Landes gebeten, das „Asow“-Regiment als terroristische Organisation einzustufen. Kiew indes spielte am Mittwoch diese Schritte herunter: „Das sind politische Erklärungen, die als interne Propaganda dienen, mit Blick auf die internen politischen Prozesse in der Russischen Föderation“, sagte Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maliar. „Von unserer Seite aus können wir sagen, dass der Verhandlungsprozess läuft und dass die Rettungsaktion selbst weitergeht.“

Erster Kriegsverbrecherprozess

Knapp drei Monate nach Beginn des Ukraine-Krieges hat in Kiew der erste Kriegsverbrecherprozess gegen einen russischen Soldaten begonnen. Der 21-jährige Wadim Schischimarin bekannte sich zum Prozessauftakt am Mittwoch vor einem Bezirksgericht in der ukrainischen Hauptstadt schuldig, einen unbewaffneten Zivilisten erschossen zu haben.
Schischimarin wird vorgeworfen, am 28. Februar im nordukrainischen Dorf Tschupachiwka aus einem gestohlenen Auto heraus einen unbewaffneten 62-Jährigen erschossen zu haben. Auf die Frage, ob er sich schuldig bekenne, antwortete Schischimarin vor dem Gericht mit „Ja“. Dem Soldaten aus dem sibirischen Irkutsk droht eine lebenslange Haftstrafe wegen Kriegsverbrechen und Mordes.
Der junge Soldat mit dem kahlgeschorenen Kopf blickte während der Anklageverlesung zu Boden. Der 21-Jährige wollte den ukrainischen Ermittlern zufolge nach einem Angriff auf seinen Konvoi in der Nordukraine mit vier Kameraden in einem gestohlenen Auto fliehen. Das Opfer war demnach Zeuge des Autodiebstahls. „Mir wurde befohlen zu schießen, ich habe einmal auf ihn geschossen. Er fiel hin, und wir sind weitergefahren“, hatte Schischimarin in einem Anfang Mai von den ukrainischen Behörden veröffentlichten Video erklärt. In dem Video sagte der 21-Jährige auch, er sei in die Ukraine gekommen, um „seine Mutter finanziell zu unterstützen“. (AFP)