Ukraine-KriegKartoffeln statt Autoteile – wie sich die westlichen Sanktionen in Russland auswirken

Ukraine-Krieg / Kartoffeln statt Autoteile – wie sich die westlichen Sanktionen in Russland auswirken
Auf McDonald’s-Restaurants werden auch die Menschen in Russland leicht verzichten können, andere sanktionsbedingte Ausfälle dürften weniger leicht zu verkraften sein Foto: AFP/Natalia Kolesnikova

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Die EU hat das sechste Sanktionspaket gegen Russland auf den Weg gebracht. Doch das Land gibt sich gewappnet. Der Rubel scheint stabil, die Ladenregale sind voll. Alles so wie immer also?

Bei Awtotor in Kaliningrad setzten die Arbeiter noch bis in den März hinein BMWs zusammen, Kias, Hyundais. Bis zu 250.000 Fahrzeuge seien jährlich vom Band gerollt, so preist die Homepage des Unternehmens in der Stadt, die die Jugend dort Kö nennt, als Anlehnung ans einstige Königsberg. 30.000 Menschen arbeiten bei Awtotor. Nun sind alle 30.000 zu Hause, Betriebsferien. Zunächst bis Ende Mai, heißt es offiziell. Viele in der Stadt sind nervös, weil aus den Ferien oder der möglichen Kurzarbeit danach schnell Arbeitslosigkeit werden könnte. Wie auch in Kaluga, 160 Kilometer von Moskau entfernt, wo VW seine Autos für den russischen Markt produzierte und es nicht mehr tut, oder in Toljatti an der Wolga, aus dem sich Renault zurückgezogen und die Zusammenarbeit mit Lada beendet hat.

Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine, den der Kreml offiziell „militärische Spezialoperation“ nennt, stellten viele ausländische Firmen ihre Tätigkeit in Russland ein, fast 1.000 internationale Unternehmen haben sich vom russischen Markt abgewendet, manche „vorübergehend“, andere „für immer“. Die Lieferketten stimmen nicht mehr, die Logistik stockt, Ersatzteile fehlen. So auch bei Awtotor in Kaliningrad. „Eine schwierige wirtschaftliche Lage“, nennt das die Unternehmensführung und bietet sogleich eine Lösung dagegen an: Awtotor stellt seinen Mitarbeitern Parzellen für Gemüsegärten zur Verfügung. Jeder, der wolle, könne 1.000 Quadratmeter Fläche in zwei Dörfern, etwa 20 Kilometer von Kaliningrad entfernt, beantragen. „Hochwertige Saatkartoffeln aus vaterländischer Produktion miteinbegriffen“, so heißt es in einer Mitteilung des Unternehmens. Kartoffeln statt Autoteile.

Russland ist ein Teil der Weltwirtschaft. Wir sind einfach nicht in der Lage, jeglichen Import schnell zu ersetzen.

Alexej Poljakow, Café-Betreiber

Es ist eine russische Antwort auf die massiven Wirtschaftsstrafen, die dem Angriff Moskaus auf die Ukraine folgten. Viele im Land tun bis heute so, als beträfen sie sie nicht. Das Leugnen klappt nicht schlecht. Der Rubel hat sich stabilisiert, die Ladenregale wirken voll, die Restaurants scheinen gut besucht, die Apotheken haben ihre Auslagen wieder so gefüllt, dass Leerstellen kaum auffallen. OBI hat wiedereröffnet, mag die Kette nun unter einem russischen Betreiber laufen. Und selbst den endgültigen Weggang von McDonald’s vom russischen Markt verkauft die Moskauer Stadtregierung als „Rückkehr unter einer neuen Marke schon im Juni“. Auch den Weggang von Renault sieht diese als etwas gut zu Verschmerzendes an. Kommt eben der Moskwitsch zurück, der sowjetische Volksbeglückungswagen.

Schulden mit Rubel begleichen

Russland will seine Auslandsschulden im Falle einer US-Blockade notfalls in Rubel bedienen. Das kündigte Finanzminister Anton Siluanow am Mittwoch auf einem Forum in Moskau an. Russland werde sich nicht selbst für zahlungsunfähig erklären. Sein Land verfüge über genügend Geld, um seine Schulden zu bezahlen.
Die Äußerungen Siluanows sind eine Reaktion auf Pläne der US-Regierung, wegen des Krieges gegen die Ukraine die Möglichkeiten Russlands zu blockieren, seine US-Gläubiger zu bezahlen. Dazu solle eine derzeit noch geltende Ausnahmeregelung nächste Woche auslaufen, sagte ein US-Regierungsvertreter der Nachrichtenagentur Reuters. Das würde Russland näher an einen Zahlungsausfall bringen – es wäre der erste seit der Russischen Revolution 1917, als die Bolschewiken Schulden aus der Zarenzeit nicht anerkannten. (Reuters)

2006 ging der russische Automobilhersteller aus Moskau zwar insolvent, die Automarke soll aber in den Renault-Werken bei Moskau wiederbelebt werden. Die Stadtverwaltung besitzt nun alle russischen Renault-Aktien, die Anteile, die das Unternehmen an Awtowaz hielt, gehen derweil ans Staatliche Institut zur Entwicklung von Automobilen, Traktoren und Motoren (NAMI). Der technologische Partner des Moskwitsch soll der LKW-Hersteller Kamaz sein, dem durch die Sanktionen Bauteile für Getriebe und Einspritzpumpen wie auch verschiedene Chips für die Produktion fehlen. Auch Elektro-Moskwitschs sollen in Zukunft möglich sein, sagte der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin vollmundig. Wie die Partnerschaft funktionieren soll und auf welcher Grundlage die Moskwitschs vom Band laufen sollen, sagte Sobjanin nicht.

Importe lassen sich nicht ersetzen

Rückschritte als Fortschritte zu verkaufen – darin läuft die russische Regierung derzeit geradezu in Hochform auf. Ladas sollen mit alter Technik weiterproduziert werden, ohne ABS und Servolenkung. Die Hälfte der russischen Flugzeugtechnik soll als Ersatzteillager dienen, alte Züge werden schon jetzt auf Strecken eingesetzt, bei denen die Regierung noch vor kurzem für mehr Hochgeschwindigkeitszüge geworben hatte. „Wir können alles selbst“, sagen russische Beamte und pochen auf dem sogenannten „Importosameschtschenije“, der Importsubstitution, die ausländische Importe durch heimische Produktion ersetzen soll. Nur: Plötzlich stellt die heimische Wirtschaft fest, dass ihr Papier für Kassenbons fehlt. Seitdem sind die Kassenzettel kaum mehr lesbar, so klein ist die Schrift, manche Verkäuferinnen schreiben die Bons mittlerweile mit der Hand. Die Tetrapack-Beschichtung wird in Russland gar nicht hergestellt, nun rätseln die Russinnen und Russen, ob sie ihre Milch demnächst wieder in Emaille-Milchkannen holen müssen, wie sie es zu Sowjetzeiten taten. Wursthüllen fehlen genauso wie Saatgut.

Die Geschwindigkeit der Lawine, die auf Russland zurollt, wächst mit jedem Monat. Es findet gerade ein gewaltiger Umbau von allem statt, Ausgang offen.

Natalja Subarewitsch, Wirtschaftsgeografin

„Russland ist ein Teil der Weltwirtschaft. Wir sind einfach nicht in der Lage, jeglichen Import schnell zu ersetzen. Ich muss Schokolade einkaufen, andere müssen anderes einkaufen, um gute Geschäfte machen zu können. Jeder, der sagt, wir könnten alles selbst, ist ein Trottel“, sagt Alexej Poljakow. Der 32-Jährige betreibt ein Café in Kemerowo, in Russlands Steinkohlerevier knapp vier Flugstunden von Moskau entfernt, und kauft seine Zutaten – wie Mandelmehl und Schokolade – im Ausland. Nun stockt das Geschäft. Wie bei vielen anderen im Land. Unternehmen, die in den vergangenen Jahrzehnten auf Innovation und Effizienz setzten, finden sich auf der Verlierer-Seite wieder, weil sie im Eiltempo aus den internationalen Wertschöpfungsketten geworfen werden.

Renault geht, kommt eben der Moskwitsch zurück, der sowjetische Volksbeglückungswagen – wie das gehen soll, bleibt jedoch unklar
Renault geht, kommt eben der Moskwitsch zurück, der sowjetische Volksbeglückungswagen – wie das gehen soll, bleibt jedoch unklar AFP/Kirill Kudryavtsev

Der russische Staat setzt derweil auf Durchhalteparolen und Milliarden, der russische Haushalt ist gut gefüllt. Der Internationale Währungsfonds rechnet jedoch mit einem Wirtschaftseinbruch von 8,5 Prozent in diesem Jahr, die Weltbank mit 11,2 Prozent. Der Prozess ist schleichend, weil auch nicht klar ist, wie schnell Russland westliches Know-how aus anderen Ländern wird ersetzen können. China und Indien, auf die der Kreml so sehr hofft, sind vorsichtig, weil sie nicht in den Sog westlicher Sanktionen geraten wollen.

Das Land kann nicht ewig von Reserven leben

„Die Geschwindigkeit der Lawine, die auf Russland zurollt, wächst mit jedem Monat. Es findet gerade ein gewaltiger Umbau von allem statt, Ausgang offen“, sagt die Wirtschaftsgeografin Natalja Subarewitsch, die als Professorin an der Moskauer Staatsuniversität lehrt. Die Unberechenbarkeit sei äußerst hoch. Die Zentralbank habe zwar als Feuerwehr gut funktioniert und den Kollaps des russischen Finanzsystems und der Währung verhindert, aber sie könne nicht ewig die Feuer löschen. Noch verpflichtet der Staat russische Firmen, 80 Prozent ihrer ausländischen Devisenerlöse sofort in Rubel zu wechseln, der Zwangsumtausch stützt den Kurs massiv. Die Preise aber sind dadurch künstlich, im Rubelkurs spiegeln sich Angebot und Nachfrage nur noch eingeschränkt wider, der reale Kurs ist unbekannt. Diese Maßnahmen müssten nach und nach zurückgefahren werden, das Land könne nicht ewig von den Reserven leben, sagt selbst die Zentralbank-Chefin Elvira Nabiullina, die diese Maßnahmen eingeführt hat. Das Land müsse nach neuen Geschäftsmodellen suchen.

Derweil geht die Erdölförderung zurück, im März sei sie um neun Prozent gefallen, die Erdölverarbeitung um sieben Prozent, schreibt die russische Wirtschaftszeitung Kommersant. Auch der Export falle, heißt es darin. Genaue Daten aber fehlen, weil Russland seit März keine Statistiken diesbezüglich mehr veröffentlicht. „Die Inflation, jetzt schon bei 18 Prozent, wird steigen, die Jugendarbeitslosigkeit ebenfalls. In den Bereichen Metallurgie, Holz, Auto sehen wir schon jetzt eine Minus-Dynamik“, sagt Natalja Subarewitsch. Ihre Prognose: „Es wird schlimmer. Im Herbst lässt sich besser sehen, wie die Sanktionen wirken und was sie bewirken.“

In den Awtotor-Gemüsegärten bei Kaliningrad dürfte im Herbst die erste Kartoffelernte heranreifen.

jeff
19. Mai 2022 - 7.56

Alles nëmmen Heuchlerei mat deenen Sanktiounen. Se treffen ons vill méi wéi d'Russen. De Rubel huet sech méi wéi stabiliséiert, an een importverbued vu Wueren kann een ëmgoen andeems een z.b. iwwert China akeeft. Mir ginn wierklech fir domm verkaaf 

w.d.
19. Mai 2022 - 7.08

Sehr interessant wäre es auch einmal zu erfahren, wie sich diese Sanktionen auf die EU selbst auswirken. Oder wird das mit der geplanten Solardachpflicht, Sparzwängen und EU Sonderzahlungen zur angeblichen Abkehr von russischer Energie übertüncht? Und ob der Weggang von McDonald's nun eine Reverenz darstellt, sei mal dahin gestellt! Und wenn man sich noch gut erinnert, fuhren Moskwitschs auch hier in der westlichen Welt sehr erfolgreich herum. Nach einer Beendigung dieser Sanktionen, die sich auch die EU nicht ewig leisten kann, werden sich die Russen wahrscheinlich sehr genau überlegen, mit wem sie noch Partnerschaften und Kooperationen eingehen werden. Und wer dann weniger in der Haushaltskasse habe wird, diese Frage kann man sich selbst beantworten!