Interview / Litauens „Lieblingsnachbarn“: Die Angst im Baltikum wächst
Während in der Ukraine Russlands faschistischer Angriffskrieg wütet, liegen im Baltikum die Nerven blank: Wird aus Abschreckung bald Verteidigung? Diese Frage stellt man sich u.a. in Litauen. NATO-Sprecher Joachim Samse beschreibt im Tageblatt-Interview, was diese Angst konkret bedeutet.*
Tageblatt: Was hat sich durch den Ukraine-Krieg hier für Sie in Litauen verändert?
Joachim Samse: Unsere Situation ist bislang unverändert. Die Aufgabe ist die gleiche. Unser Training und unsere Übungen haben sich nicht grundlegend verändert. Wir haben seit Offensivbeginn im Februar Verstärkung erhalten. Aber das Verstärkungskonzept der „NATO Enhanced Forward Presence“ (EFP) wurde bereits zu Missionbeginn 2017 implementiert (siehe Kasten). Bei jeder Rotation erhielten wir eine Verstärkung von 300 Soldaten aus Deutschland, um an der Hauptübung „Iron Wolf“ teilzunehmen. Es ist normal, dass wir unsere Kampftruppe verstärken. Vorher war das nur vor der Übung „Iron Wolf“ so. Jetzt hat Deutschlands Regierung mit Blick auf die politische Situation entschieden, die „Notice“ von 30 auf fünf Tage zu senken. Nach dieser Entscheidung kam fünf Tage später die erste Verstärkung.
Sie haben nicht viel an Ihren Routinen verändert: Können Sie aus Ihrer Perspektive das Worst-Case-Szenario beschreiben? Ist der Kampf gegen Russland Teil Ihres Trainings?
Wir sind seit Tag eins kampfbereit. „Enhanced force Presence“ ist keine Trainingsmission, es ist eine „Battle group“, eine kampfbereite Truppe von der Größe eines Batallions. Wir trainieren in Deutschland oder in anderen Staaten. Wir haben Kampfbereitschaft erlangt, bevor wir hier ankamen. Wenn sich die Situation von der Abschreckungs- hin zur Defensivphase entwickeln würde, sind wir nicht allein. Wir sind in die litauische „Iron Wolf“-Brigade integriert. Wir erhalten unsere Anweisungen, wo wir die Kampftruppen an der Grenze platzieren müssten.
Ist das eine nationale Entscheidung oder ist sie NATO-basiert?
Das ist natürlich eine NATO-Entscheidung. Wir hängen nicht von den Entscheidungen der „Iron Wolf“-Brigade ab. Die NATO entscheidet über den Verteidigungsplan der baltischen Staaten. Also, wo wir unserer Truppen entsenden. Wie groß die Truppe sein wird, welche Truppen, wo verteidigen: Das ist „Opsec“ (Operational secret, Anm. d. Red.). Es gibt einen generellen Verteidigungsplan der NATO. Der existiert selbstverständlich. Wir erhalten die Befehle, wenn der Fall in Kraft tritt.
Wer ist über diesen Plan im Bilde?
Ich glaube, nur ein paar Mitglieder der Kampftruppen kennen diesen spezifischen Aktionsplan: Er ist top secret. Ich glaube, der „Battle group commander“, sein Stellvertreter und maximal fünf weitere Personen wissen darüber Bescheid. Ich gehöre nicht dazu: Ich bin der Medientyp (lacht). Wir sind auf ein allgemeines „Hot war“-Szenario vorbereitet. Die Prozeduren hängen nicht von der Operationsgegend ab: Sie müssen ihre Aufgabe in jeder Umgebung durchführen können. Es ist nicht nötig, in einer bestimmten Umgebung zu trainieren, um für Verteidigung oder eine Verzögerungsoperation bereit zu sein (Verzögerung heißt, Gegner abzunutzen, Zeit zu gewinnen, weitere Truppen für einen Gegenangriff zu sammeln, Anm. d. Red). Wir trainieren allgemeine Fähigkeiten, um auf jeden Bedrohungsfall vorbereitet zu sein.
Wie kompliziert ist die multinationale Kooperation? Sie haben ja unterschiedliche Waffensysteme?
Je früher sie in Kontakt kommen mit multinationalen Mitgliedern der Kampftruppen, desto besser sind sie in den Prozeduren und der Kommunikation. Wir versuchen, die anderen Nationen schnellstmöglich zu integrieren. Aus organisatorischen Gründen muss man das nicht früh tun. Wir kooperieren sehr eng mit den Niederländern. Wir haben unsere Integration bereits in Deutschland gestartet. Für die anderen Nationen ist es wie ein Zusammenkommen im Theater: Wir werden täglich besser. In allen NATO-Staaten sind die Prozeduren die gleichen. Sie unterscheiden sich nur im Kleinen.
Inwiefern?
Als Deutscher ist z.B. Englisch ein Problem. Nicht alle unsere Leute sind mit dem Englischen vertraut. Die Luxemburger können in Französisch, Englisch und Deutsch kommunizieren. Wir können Deutsch und gelegentlich Englisch. Die Niederländer und Norweger sind besonders gut im Englischen. In der normalen Welt werden alle englischsprachigen Filme in Deutschland übersetzt. Für uns ist es leicht, Filme aus den USA oder aus Großbritannien zu schauen. In den Niederlanden und in Norwegen haben alle Filme Untertitel. Sie haben ein ganz anderes Sprachverhalten. Ich war 2019 zum ersten Mal hier auf Mission. Die ersten 14 Tage waren nicht die Hölle, aber es war ganz anders. Ich komme aus dem Nordosten Deutschlands. Wir reden nur Deutsch.
Am Anfang des Ukraine-Kriegs gab es noch die Vorstellung, man könne mit den Russen reden. Jetzt sieht man, dass man sie zurückdrängen muss. Wie haben die Soldaten hier im Camp diesen Wandel erlebt?
Von der litauischen Seite?
Die Litauer haben ein ganz anderes BedrohungsgefühlNATO-Sprecher in Litauen
Ja, aber auch von weiteren NATO-Mitgliedsstaaten.
Ich kann für mich sagen: Ich war sehr überrascht, dass Putin einen Krieg in Europa beginnt. Es war ein Schock für uns alle. Ich hätte mir das vorher nicht vorstellen können. Auch die Litauer nicht: Sie haben ein ganz anderes Bedrohungsgefühl. Sie waren während Jahrzehnten unter sowjetischer Unterdrückung. Sie lieben die Freiheit. Sie haben einen hohen Preis dafür bezahlt, um in den Neunzigerjahren dort anzukommen. Die Bedrohungswahrnehmung unterscheidet sich komplett von der unsrigen. In Deutschland ist das alles für uns weit weg. Als Soldaten ist es für uns hier in Litauen ein wenig näher. Aber die Sorgen unserer Familie sind größer als unsere eigenen.
Wie meinen Sie das?
Die Ukraine ist nicht die NATO. Russland greift keinen NATO-Mitgliedsstaat an, sondern die Ukraine. Unsere Aufgabe ist Abschreckung und, falls nötig, verteidigen wir Litauen. Wir sind darauf vorbereitet. Unsere Kampfbereitschaft und unser Mindset sind ein wenig anders: Wir sind als Soldaten nicht überrascht, wenn jemand einen Krieg startet, aber als Zivilisten … (denkt kurz nach) Ja … es war ein Schock oder eine große Überraschung, dass das wirklich passieren könnte. Als Soldat ist man natürlich auf den Krieg vorbereitet.
Sie haben etwas Interessantes gesagt: Für Deutschland – auch für uns in Luxemburg – ist all dies weit weg. Wir haben oft die Position zu sagen, die baltischen Staaten übertreiben und fordern stets nur Waffen. Jetzt sehen wir, dass das wohl keine Übertreibung ist. Haben Sie das Gefühl, dass Deutschland möglicherweise im Ukraine-Krieg deswegen nicht mehr als verlässlicher Partner wahrgenommen wird?
Ich habe 2019 auch keine negativen Reaktionen zu den Deutschen erhalten, als ich Teil dieser Kampfeinheit wurde. Sie ist von Deutschen geleitet. Ich habe nur positive Reaktionen bekommen. Wir zeigen während unserer Missionen, dass wir verlässliche Partner sind. Wir schicken viele Truppen als Verstärkung. Nicht nur die 350 Leute, die zur normalen Verstärkung gehören, sondern auch die „Ground based air defense“-Einheit. Die Norweger haben etwas anderes geschickt. Ich glaube, auf die Deutschen ist Verlass.
Militärisch würde ich Ihnen zustimmen, können Sie sich politisch äußern?
Es ist schwer, als Soldat Fragen politisch zu beantworten (lacht).
Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hat eine realistische Sichtweise: Ergibt das für Sie Sinn?
Als Soldaten müssen wir unsere Aufgaben und Befehle erfüllen. Es ist für mich schwer, Ihnen auf eine für Sie passende Weise zu antworten.
Können Sie die Kommunikationsstrategie der Litauer mit Blick auf Russland beschreiben?
Die Litauer sind sehr klar mit ihren Botschaften für die andere Seite: Sie nennen die Russen ihre Lieblingsnachbarn. Sie sind ziemlich klar darin: „Wartet ab, was passiert.“ Sie wissen, wer der Feind oder der Aggressor ist. Auch 2017, als unsere Seite ein wenig ruhiger war mit der Kommunikation. Oder zumindest nicht so direkt. Die Litauer sind sehr klar. Sie kennen die russische Seite. Viele Litauer litten unter der sowjetischen Okkupation. Wenn Sie Vilnius besuchen, dort gibt es ein KGB-Museum. Die Russen schickten viele Litauer nach Sibirien oder töteten sie wegen der sogenannten „Waldbrüder“ (litauische Widerstandskämpfer, die sich gegen die Okkupation der Sowjetunion wehrten, Anm. d. Red.). Es war eine Partisanenorganisation, die von 1945 bis 1953 aktiv war. Sie lieben ihre Freiheit und kämpfen gegen Okkupationen. Deswegen sind sie sehr streng und sehr klar in ihrer Kommunikation.
Die Politik oder die Medien?
Beide Seiten. Sowohl Medien als auch Politiker sind sehr streng und klar.
Sehen Sie das Risiko, dass zu viel des Guten ein Problem werden könnte?
Ich glaube, diese Frage müssten Sie den Litauern stellen. Ich kann das nicht beantworten. Wir haben als NATO-Soldaten bestimmte Aufgaben. Wir sind hier, um Abschreckung zu zeigen. Glaubwürdige Abschreckung („deterrence“). Wenn sich die Zeiten verändern, verändern wir unseren Job bzw. unsere Aufgabe.
Wir ziehen in den Krieg. Wenn jemand NATO-Territorium angreift, ist es total klar, was unser Job sein wird.NATO-Sprecher in Litauen
Was heißt das?
Wir ziehen in den Krieg. Wenn jemand NATO-Territorium angreift, ist es total klar, was unser Job sein wird.
Wie sehen Sie die Cyberwarfare-Problematik?
Unsere Mission bereitet uns nicht nur auf Cyberwar, sondern auch auf kriminelle Aspekte vor: Sich in die Mobiltelefone … wir sind uns dessen bewusst. Ab und zu geht es den Russen nicht nur darum, Informationen über unsere Taktiken zu erhalten. Es geht auch um kriminelle Probleme. Und nicht nur die russische Seite tut dies, glaube ich.
Sind Kriminelle die größere Gefahr als militärische Akteure?
Ich kann das nicht … ich weiß es nicht. Ich bin kein Experte (lacht).
Die NATO wird inzwischen anders wahrgenommen. Wie haben Sie diesen Wandel erlebt seit Macrons Bemerkung, die NATO sei „hirntot“, bis hin zu Trumps Auflösungsversuchen?
Aus meiner Perspektive als kleiner Lieutenant-Colonel in der großen Militärwelt: Ich glaube, Putin hat etwas ganz anderes erreicht als das, was er erreichen wollte: Die NATO ist jetzt zusammen stärker. Das ist kein Motto und auch keine Phrase. Wir sind uns sehr nahe: Gute Zeiten für die NATO.
Finnland und Schweden stoßen möglicherweise zur NATO hinzu. Können Sie das kommentieren?
Nein, das kann ich nicht beantworten. Ich glaube, wir müssen jetzt weiter. (Die Besichtigung des Camps in Rukla beginnt, siehe Kasten.)
* Das Interview wurde am 4. Mai 2022 in Litauen geführt.
Zur Person
Joachim Samse ist Pressesprecher der NATO-„Enhanced Forward Presence Battle Group” (EFP) in Litauen. Im Jargon heißt das: „Chief Public Affairs Officer“ (CPAO). Zuvor war Samse Freelance-Journalist beim Norddeutschen Rundfunk (NDR). Der gebürtige Deutsche kümmert sich als deutscher Militärvertreter um die Öffentlichkeitsarbeit der EFP. Samse witzelt, dass es eine angenehme Abwechslung sei, wenn er das Camp vier Tage verlassen könne, um seine Lebenspartnerin zu sehen – die im Ausland lebt. Als freischaffender Journalist beschäftigte er sich vor allem mit Militärthemen.
Die „Enhanced Forward Presence Battle Group Lithuania“
Bei der „Enhanced Forward Presence” (EFP) handelt es sich um die Sicherung der NATO-Ostflanke. In Litauen wird die Battlegroup von Deutschland geleitet. Die Mission begann 2017: Entsandt wurden Soldaten nach Polen und ins Baltikum (Estland, Lettland, Litauen). Vor Ort sind multinationale Gefechtsverbände. In Litauen sind beispielsweise sechs Luxemburger Soldaten Teil der „Enhanced Forward Presence Battle Group Lithuania“. Hauptziel der jeweiligen Kampfverbände ist Abschreckung („deterrence“). Einfach ausgedrückt: Dass Russland nicht auf dumme Ideen kommt wie in der Ukraine. In Litauen wird die EFP von Rukla aus betrieben – es befindet sich rund 100 Kilometer von der Hauptstadt Vilnius entfernt. Die Hauptübung des EFP heißt „Iron Wolf“: Prinzipiell geht es darum, Einsatzfähigkeit zu zeigen. Dies wird mit sogenannten NATO-Zertifizierungen überprüft: Ziel ist das sogenannte „Combat ready“. Simuliert wird bei „Iron Wolf“ z.B., dass ein „ein Gegner aus dem nahen Ausland“ – Russland, anyone? – auf litauisches Territorium vordringt. Die Einsatzverbände der EFP wechseln alle sechs Monate. Die Idee ist, dass die multinational zusammengesetzten Streitkräfte im Worst-Case-Szenario alle das gleiche Ausbildungsniveau haben und nationenübergreifend kooperieren können, ohne Friktion. Heißt: Schlimmstenfalls gegen Russland kämpfen – falls es zum NATO-Bündnisfall kommen sollte und alle diplomatischen Anstrengungen gescheitert sind.
Transparenz: Bauschs Reise ins Baltikum
François Bausch war vom 2. bis zum 5. Mai in Lettland und Litauen: Das Tageblatt hat den Vize- und Verteidigungsminister während der Reise begleitet. Während seiner Arbeitsvisite traf er unter anderem seine lettischen und litauischen Amtskollegen und besuchte ein „NATO Strategic Communications Centre of Excellence“. Mit dabei war u.a. Armeechef Steve Thull. Auf dieser Reise traf das Tageblatt auch Joachim Samse, der in Rukla stationiert ist. Entstanden ist daraus eine Artikelserie, die hinter die Kulissen der Dieschbourg-Krise blickt, Luxemburgs Rolle in bewaffneten Konflikten beleuchtet, den Umgang mit russischen Oligarchen kritisch vertieft und alternative Ideen vorstellt, wie Putins Kriegskasse am effizientesten ausgetrocknet werden kann.
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D’Politiker sollen oppassen wat se man, well d’Russen sinn menger Meenung no bereet sech ouni Problem selwer ze versuergen mat allem wat se brauchen. Woubäi mir (déi grouss Intelligenzbolzen, avant-gardistech, opportunistech, Tunnelbléck, drogensüchteg) joerzengtelaang Politik vun der Ofhängegkeet bedriwwen hunn an elo domm drakucken. Ech kennen mech international net aus, mee menger Meenung no wärten d’Europäer an deem ganzen Drama am dommsten drakucken. Wat feelt de Russen dann am Fall vum Krich? Däitsch Autoen? Wäin? Kéis? Windows fir de PC? Android fir den Handy? Ah, ech weess wat hinnen feelt, bessen Sonn! An mir liewen an eiser Seefenblos.