Editorial„Den Aasch voller Schold“: Wie Luxemburgs politische Klasse versagt

Editorial / „Den Aasch voller Schold“: Wie Luxemburgs politische Klasse versagt
Eine goldige Idee für die Regierung Bettel: Die Immobilienpreise in die Messung der Teuerung aufzunehmen. Ob es dann vielleicht schneller zu einer gerechteren „Logement“-Politik kommt? Foto: Editpress-Archiv

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Die letzten Wochen und Monate zeigen: Ministerwechsel sind nicht unschuldig, ihre Auswirkungen unterschätzt.

Angefangen bei Pierre Gramegna und Dan Kersch. Naiv gefragt: Wäre die Tripartite mit ihnen ähnlich abgelaufen? Ohne die Kompetenz von Vizepremier Paulette Lenert und Finanzministerin Yuriko Backes anzuzweifeln, kristallisiert sich heraus: Premier Bettel hat keine wirklichen Checks and Balances mehr. Gramegna galt zwar als Bettel-Fanboy, wurde jedoch im Laufe der Zeit zum überparteilichen Vermittler. Backes hat als Ex-Diplomatin ein ähnliches Profil. Sie wäre sicher zu Ähnlichem fähig. Aber „Hätte, hätte, Fahrradkette“: Die Quereinsteigerin ist vor dem Superwahljahr dazugestoßen und muss sich erst im Amt und in Gremien wie der Tripartite zurechtfinden. Sich jetzt mit Bettel anzulegen, wäre politischer Selbstmord. Dabei bestimmt das Finanzministerium am Ende über alle politischen Spielräume.

Ähnlich geht es Paulette Lenert: Die von fast allen geliebte Politikerin musste sich noch nicht außerhalb des pandemischen Politgeschehens beweisen. Die harte Realität: Sobald es um Staatsfinanzen und Umverteilungsfragen geht, wird es hässlich. Mit dem Resultat, dass für sie und Wirtschaftsminister Franz Fayot einerseits politischer Zoff mit dem OGBL herrscht, andererseits deckungsgleiche Positionen existieren, wenn es um Aspekte der Krankenhäuser geht – dort dann aber der Knatsch mit der AMMD unausweichlich scheint. Gleichzeitig steht Lenert als Pragmatikerin den Ideen der Ärzteschaft nicht per se feindlich gegenüber. Ihre sich häufenden politischen Volten zeigen aber: „Paulette Nationale“ muss langsam Politik machen. Heißt: gegebenenfalls unbequeme Entscheidungen vor dem Superwahljahr treffen, die so richtig wehtun. Es allen recht zu machen, klappt nicht mehr. Obschon Dan Kersch seit Ende 2021 mit der Gewerkschaft seines Herzens nicht mehr wirklich harmoniert, ist es kaum vorstellbar, dass Bettel Verhandlungen in seiner Anwesenheit so abrupt beendet hätte, wie jetzt geschehen. Denn neben inhaltlichen Fragen scheinen auch Kommunikationsstil und Verhandlungsdynamik der Regierung Bettel zum Scheitern der Tripartite beigetragen zu haben: Ein Raum voller Egozentriker ist nicht zu unterschätzen.

Als einziges politisches Gegengewicht wären also nur François Bausch und Claude Turmes geblieben. Doch auch hier: Die Grünen sind Bettel auf den Leim gegangen. Trug man zunächst das Tripartite-Abkommen mit, distanzierte sich Bausch in gewohnter Manier zeitversetzt. Eine Methode, die er bereits im Umgang mit dem Datenschutz-Dossier anwandte – nach dem tragischen Ausscheiden von Ex-Justizminister Félix Braz aus der Regierung. Auch das Krisenmanagement rund um die Personalie Dieschbourg trägt seine Handschrift, sowohl vom Timing als auch von der Handhabung her: Dass der grüne Vizepremier explizit bei der Nominierung der neuen Umweltministerin Joëlle Welfring auf die Methode Bettel hinweist, zeigt, dass es trotz aller regierungsinterner Kritik am Tripartite-Abkommen einen gemeinsamen politischen Stil gibt: nämlich auf Quereinsteiger wie Backes und Welfring zu setzen. Auch Lenert und Gramegna gehören zu den erfolgreicheren Beispielen dieser politischen Methode. Kritiker nennen sie Technokratie, Befürworter „Anung hunn, wat s de ziels“.

Worüber all diese Personalrochaden jedoch nicht hinwegtäuschen sollten: Die Regierungspolitik bleibt unglaublich oberflächlich. Die Index-Frage trägt z.B. eine einzige Handschrift. Dabei könnte eine mutige Regierung, die sich nicht nur nach dem Patronat und nach den Gewerkschaften richtet, auf die Idee kommen, sich das Instrument näher anzuschauen. Aber eben nicht, um über einen gedeckelten Index zu diskutieren oder um Almosenpolitik zu betreiben. Nein, sondern im Gegenteil, um für einen Index zu kämpfen, der das Leid des Großteils der Luxemburger wirklich widerspiegelt. Der nicht nur Mieten im Indexwarenkorb berücksichtigt, sondern auch Assets wie Immobilien und damit verbundene Kreditlinien (von Neu-Akquisitionen oder älteren Immobilien in Eigennutzung). Denn eine Binsenweisheit lautet: Wir Luxemburger „hunn den Aasch voller Schold“. Was das bedeutet, wenn über 70 Prozent der Bevölkerung Immobilienbesitzer sind, würde an dieser Stelle zu weit führen. Nur so viel: Wenn ein Instrument wie der aktuelle Index die konkrete Kaufkraft der Luxemburger noch nicht einmal präzise erfasst, weil Immobilien als Investitionen statt als finanzielle Last angesehen werden: Ja, dann wirken Tripartite-Verhandlungen über einen ohnehin verwässerten Index wie ein schlechter Witz.

Hier eine Regierung, die den Arbeitgebern blind nachplappert, dort eine Gewerkschaft, die sich eigentlich sagen müsste: „Warum gehe ich überhaupt zu so etwas hin? Warum zum Teufel sollte auch nur eine einzige Index-Tranche geschoben werden?“ Denkt man das zu Ende, würde nämlich ein Index, der Immobilien nicht nur als finanzielle Belastung beinhaltet, sondern „Logement“ insgesamt im Indexwarenkorb auch noch stärker gewichten würde, vermutlich zu mehreren Phänomenen führen:

– Erstens müsste dann nicht das Instrument Index infrage gestellt werden, sondern eine politische Klasse, die es jahrelang verpennt hat, dass die Luxemburger Bevölkerung wegen mieser Politik leidet: Die jüngere Mittelschicht kann sich z.B. oft keine eigene Immobilie mehr leisten, selbst wenn alle Bedingungen erfüllt sind, die unsere Leistungsgesellschaft verlangt.

– Zweitens könnte man als Gewerkschaft dem Patronat sagen: „Kanner, sidd frou, dass mer mat dem heite Wischiwaschi-Index negociéieren. E méi präzisen Index géif iech méi oft an e gudde Krack méi deier ginn.“

Kommen dann noch „Gaardenhaischen“-Affären, staatsrechtliche Versäumnisse und der Eindruck hinzu, dass Luxemburg zwar den moralischen Zeigefinger liebt, aber z.B. Kriegstreiber Putins Russland finanzpolitisch eher schont, bleibt nur die Schlussfolgerung: Statt ständiger Personalwechsel bräuchte es einen politischen Systemwechsel – einen, der die ökonomische Verschiebung von der Arbeiter- hin zur Immobilienbesitzerklasse nicht mehr als Zement unserer Demokratie versteht.

charlesplier1960
3. Mai 2022 - 7.21

Xavier 1er L'Infaillible!!

Victor
29. April 2022 - 18.52

Deen Hannergrond vun der Bettels-Foto mécht d'Impressioun an engem "Zarenpalais" ze setzen,waat gudd bei deen klengen iwerhiefléchen Bettelchen passt.

charlesplier1960
29. April 2022 - 13.28

Absolut richteg kommenteiert. Mais wou as eigentlech eisen PM? Vleicht zu Moskau dem VP Leviten liesen. GniarkGniark.

jung.luc.lux@hotmail.com
28. April 2022 - 21.10

Et geet elo duer mam Gambia Wischi Waschi. An der lëtzebuerger Politik geet just nach em Privilegien an Fuddelereien. Gambia scheist sech selwer of. CSV lacht. Op dei awer mei machen steet an de Wolleken. An der Tripartit huet se jo Gambia ennerstetzt.

Jules
28. April 2022 - 11.35

Eemol Gambia daat wor ett. Wou sinn dann nach kompetent Politiker, dreimol neischt, just nach hir Privilegien. Merde alors.

Filet de Boeuf
28. April 2022 - 9.49

"Nur so viel: Wenn ein Instrument wie der aktuelle Index die konkrete Kaufkraft der Luxemburger noch nicht einmal präzise erfasst, weil Immobilien als Investitionen statt als finanzielle Last angesehen werden: Ja, dann wirken Tripartite-Verhandlungen über einen ohnehin verwässerten Index wie ein schlechter Witz." Genau meine Meinung.

H.Horst
28. April 2022 - 9.44

"politischen Systemwechsel – einen, der die ökonomische Verschiebung von der Arbeiter- hin zur Immobilienbesitzerklasse nicht mehr als Zement unserer Demokratie versteht." Schön und gut...aber welchen alternativen "Zement" schlagen sie konkret vor ?