Editorial Chronisten der Apokalypse – Der Ukraine-Krieg zeigt auf, wie machtlos die UNO ist

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Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht vor dem Sicherheitsrat Foto: UNO

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Eines der denkwürdigsten Ereignisse der jüngeren Geschichte passierte am Dienstag der vergangenen Woche. Es war Nachmittag in New York, als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj per Videoschalte zu den Mitgliedern des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen sprach. Und was er da sagte, haben vor diesem Gremium noch nicht viele mit solchem Ernst und solcher Wahrheit ausgesprochen.

Selenskyj hatte am Vortag Butscha besucht, jene Vorstadt von Kiew, deren Straßen nach dem Abzug der russischen Armee mit Leichen gepflastert waren. „Es ist schwierig, ein Kriegsverbrechen zu finden, das die Besatzer dort nicht begangen haben“, sagte Selenskyj. Menschen sei in den Rücken oder in die Augen geschossen worden, nachdem sie gefoltert wurden. Sie seien in Brunnen geworfen worden, damit sie dort qualvoll starben. Ihnen seien Gliedmaßen abgetrennt oder die Kehle durchschnitten worden. Sie seien vor den Augen ihrer Kinder vergewaltigt und getötet worden. Sie seien in ihren Autos von Panzern mitten auf der Straße zerquetscht worden. „Zum Spaß“, sagte Selenskyj.

„Wo ist die Sicherheit, die der Sicherheitsrat eigentlich garantieren soll?“, fragte der ukrainische Präsident eben dieses Gremium – und man nimmt ihm seine Empörung ab. Der Sicherheitsrat trägt in der Tat „die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“. Das hat er so sogar als ersten Satz auf seine Homepage geschrieben. Auch die Aufgabe der Vereinten Nationen als Ganzes ist nicht sonderlich kompliziert: den „Weltfrieden und die internationale Sicherheit wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen treffen“. Streitigkeiten sollen durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts bereinigt oder beigelegt werden. So steht es jedenfalls in der UN-Charta. Und zwar im ersten Artikel.

In der Praxis sieht das nicht zum ersten Mal anders aus. Aber die Aggressivität, mit der Selenskyj das Versagen des Staatenzusammenschlusses kritisierte, hat eine neue Qualität. „Wo ist also der Frieden, für den die Vereinten Nationen geschaffen wurden?“, fragte der Ukrainer. „Wir haben es mit einem Staat zu tun, der sein Vetorecht im UN-Sicherheitsrat in ein Recht zum Töten umwandelt.“ Das untergrabe die gesamte Architektur der globalen Sicherheit.

Die Vereinten Nationen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen, weil sich die Vorgängerorganisation – der Völkerbund – als zahnloser Tiger erwiesen hatte: Die großen Mächte hatten ihre Interessen dort nicht genügend repräsentiert gesehen. Stattdessen kreierte man 1945 einen neuen zahnlosen Tiger, bei dem nur noch die Interessen der großen Mächte zählten. Deshalb können die Siegermächte eines Krieges, der vor fast 80 Jahren zu Ende ging, auch im Jahr 2022 noch immer tun und lassen, was sie wollen. Mit seinem Vetorecht kann jedes der fünf permanenten Sicherheitsrats-Mitglieder USA, China, Russland, Großbritannien und Frankreich jede Resolution absagen.

Die größte Errungenschaft der UNO und ihres obskuren Sicherheitsrats ist – und das sagt einiges über die Organisation aus – ihre schiere Existenz: Immerhin gab es so während des Kalten Krieges ein Gremium, in dem sich die verfeindeten Blöcke überhaupt gegenübersaßen. Nach dem Fall der Mauer wurde die Handlungsunfähigkeit der Struktur aber eklatant und deutlich. Entweder kriegswillige Nationen schusterten sich über „Beweise“ wie die legendären „Weapons of mass destruction“ Argumente für einen Angriff zusammen oder sie pfiffen gleich komplett darauf. Ansonsten trat die UNO meistens erst dann in einen Konflikt ein, wenn der schon vorbei war. Die Vereinten Nationen sitzen seit jeher daneben und schauen zu. Sie sind Chronisten, keine Akteure.

Im Prinzip sind sie ein weltpolitisches Absurdum. Ohne die Vetomacht im Sicherheitsrat hätte es sie wohl erst gar nicht gegeben. Und dennoch ist genau dieses Vetorecht ihr größter Geburtsfehler. „Wenn das so weitergeht, wird sich am Ende jeder Staat nur noch auf die Macht der Waffen verlassen, um seine Sicherheit zu gewährleisten. Und nicht mehr auf das Völkerrecht und die internationalen Institutionen“, sagte Wolodymyr Selenskyj in der vergangenen Woche zum Sicherheitsrat. „Dann kann die UNO einfach aufgelöst werden.“ Hoffentlich ist nicht noch ein Weltkrieg nötig, damit die Menschheit ein funktionierendes internationales Ordnungssystem bekommt.

JJ
11. April 2022 - 10.46

Wenn Entscheidungen immer einstimmig verabschiedet werden müssen wird es keine Entscheidungen geben. Und dann kommt ein Trump und erklärt UN und NATO gleich zum Wurschtelkabinet. Solange es Fahnen,Soldaten und Waffen gibt werden wir uns wohl immer irgendwo die Köpfe einschlagen während der Papst Frieden ruft.