ForumNord Stream als Wurzel allen Übels?

Forum / Nord Stream als Wurzel allen Übels?
Eine Wartungsstation der Nord-Stream-2-Pipeline bei Lumin in Deutschland Achivfoto: AFP

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Das weltweite Säbelgerassel um die Ukraine resümiert sich schnell auf eine simple Frage: Darf Nord Stream 2 in Betrieb genommen werden?

Nord Stream ist ein Pipeline-Netzwerk, das russisches Erdgas nach Deutschland befördert. Ein erster Strang – Nord Stream 1 – beliefert seit einigen Jahren Deutschlands Konsumenten. Das von der russischen Gazprom getragene Projekt stieß von Anbeginn an auf Widerstände in den Anrainerstaaten des Baltischen Meeres. Welches von Nord Stream 1 wie 2 durchquert wird.

Wie immer wurden Umweltbedenken vorgeschoben. In Wirklichkeit geht es um schnödes Geld. Quert eine Pipeline ein nationales Territorium, sind Transit-Gebühren fällig.

Im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise faseln viele „großen“ Strategen, durch die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 würden sich Deutschland und damit die EU in eine zu große Abhängigkeit von russischem Gas begeben. Die „Experten“ vergessen bloß anzugeben, dass die gleiche Abhängigkeit durch die bestehenden Netze gegeben ist. Etwa die „Brotherhood“-Pipelines, die russisches Gas über Weißrussland und Polen beziehungsweise über die Ukraine nach Deutschland oder Österreich bringen. Wobei die Polen und die Ukrainer „brüderlich“ einkassieren.

Russisches Gas alimentiert Finnland über eine direkte Leitung. In Zusammenarbeit mit NATO-Partner Türkei bringt „TurkStream“ russisches Gas in das Land am Bosporus. Von dort aus nach Europa. Dank der „Tesla“-Pipeline beziehen Bulgarien, Serbien und Griechenland russisches Gas. Ein weiteres Gasnetz kommt in der Slowakei an, von wo aus ein Arm Tschechien beliefert, ein zweiter nach Österreich führt. Mit Anschlüssen für Slowenien und Italien. Über die Slowakei werden auch Ungarn und Rumänien beliefert.

Wer will die Verarmung Russlands?

Kurz, der böse Putin kassiert überall mit. Würde er den Europäern den Gashahn abdrehen, hätte er keine Einnahmen mehr. Immerhin finanziert sich der russische Staat zu 60% aus Öl- und Erdgasexporten.

Eine Kappung der Gasversorgung der EU- und NATO-Europäer hieße für Russland, sich selbst auf Sparflamme zu setzen. Das kann wohl keine ernsthafte Strategie Putins sein.

Kappung der Netze gehört mit Sicherheit zur Strategie der Vereinigten Staaten. Die ihre weltweite Dominanz mit allen lauteren und unlauteren Mitteln absichern wollen. Wozu die Minderung der russischen Energie-Einnahmen gehört.

Die USA gewannen den Kalten Krieg gegen die Sowjetunion, weil sie als wirtschaftliche Supermacht den Widersacher totrüsten konnten. Die bürokratische Planwirtschaft des kommunistischen Regimes schaffte es gerade, im Rüstungswesen mitzuhalten. Wovon das heutige Russland weiterhin profitiert. In allen anderen Bereichen, besonders bei Konsumgütern, blieben die UdSSR und ihre Anhängsel dem Westen hoffnungslos unterlegen.

Der von den Amerikanern eingeläutete neue kalte Krieg gegen Russen und Chinesen folgt alten Mustern. „Containment“, also Umzinglung der gegnerischen Territorien durch Militärbasen (von denen die USA über 100 in 60 Ländern unterhalten). Weiter Allianzen mit möglichst viel „befreundeten“ Staaten sowie wirtschaftliche Sanktionen zur Schwächung der Gegenseite.

Seit Jahren versuchen die USA, Nord Stream 2 zu verhindern. Präsident Trump belegte die ausführenden Firmen mit Sanktionen. Präsident Biden bedrängt die Bundesregierung, der dennoch fertiggestellten Infrastruktur keine Betriebserlaubnis zu erteilen. Im Falle eines Waffenganges in der Ukraine soll die definitive Stilllegung der bislang ungenutzten Pipeline die „Ultimative Vergeltung“ darstellen.

In ihrer „uneigennützigen Hilfsbereitschaft“ stellen die USA den Europäern die Lieferung von LNG, also verflüssigtem Erdgas, in Aussicht. Entsprechende Anlagen sind schon im Bau, etwa im Hafen von Rotterdam. Dank Shale-Gas und der in Europa verpönten „Fracking“-Technologie sind die USA in wenigen Jahren wieder Selbstversorger bei Öl und Gas geworden. Was die Regierung Biden nicht daran hindert, zur Aufstockung ihrer „strategischen Ölreserven“ neuerdings massiv russisches Erdöl einzukaufen. Doch die Europäer sollen aus „Solidarität mit der Ukraine“ darauf verzichten, russisches Erdgas über Nord Stream zu beziehen.

Besonders Europas Grüne, darunter viele Rote und manche Schwarze, sind hin- und hergerissen. Einerseits wollen sie schnellstmöglich „Dekarbonisierung“, also das Verbrennen von Kohle, Öl und Gas unterbinden. Andererseits sind die „Erneuerbaren“ nicht so ergiebig wie angepriesen. Sonne wie Wind sind wetterabhängig und für die obligate Aufrechterhaltung der Netzspannung nicht wirklich geeignet. Wasserenergie ist aus topografischen Gründen nicht überall verfügbar. Ohnehin sind Staudämme vielen Umweltschützern ein Gräuel.

Um die unumgänglichen Schwankungen der Sonnen- und Windenergie auszubalancieren, geht es nicht ohne „Backups“, ohne schnell einspringende Kraftwerke, die bei Bedarf sofort liefern können. Das können nur Diesel-Generatoren, Kohle- oder Gasöfen. Emittieren leider viel CO2. Auch Kernkraftwerke können auf Knopfdruck liefern. Emittieren wenig Treibhausgase, sind dennoch verpönt.

Nebenbei: Vor diesem Hintergrund spielt sich die Diskussion um die „EU-Taxonomie“ ab. Die regeln soll, welche Finanzinvestitionen als „klimafreundlich“ anzusehen sind. Dazu gehören wegen ihrer geringen Emissionen mit Sicherheit Kernkraftwerke. Sogar der Weltklimarat IPCC hält in seinem jüngsten Bericht fest, die bis 2050 angestrebten Klimaziele seien nur zu erreichen, wenn die Staaten die Kernenergie nutzen sowie in Kohlenstoffablagerung investieren.

Somit betont die EU-Kommission zu Recht, Europa könne seine „energetische Transition“ nur schaffen, wenn weiterhin in Kernkraft und in Gaskraftwerke investiert wird. Ein gleichzeitiger Ausstieg aus Kohle, Atom und Gas ist einfach nicht zu stemmen.

Eine Bombe namens Dollar

Zurück zu den US-Sanktionen. Zur Konsolidierung ihrer Vormachtstellung will Washington seine Super-Bombe einsetzen: den Dollar. Die US-Währung dominiert den internationalen Handels- und Zahlungsverkehr. Der Dollar ist die Reservewährung der meisten Staaten, erste Abnehmer amerikanischer Schuldverschreibungen. Was es den Amerikanern erlaubt, auf Kosten des Rests der Welt recht günstig zu leben.

Weil der Dollar über 60% des internationalen Zahlungsverkehrs darstellt, kontrollieren die USA die weltweiten Flüsse.

„Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunications“ nennt sich die unter dem Kürzel Swift besser bekannte Verrechnungsstelle für 11.000 Finanzinstitute aus über 200 Ländern. Swift hat seinen offiziellen Sitz in Brüssel. Doch das operative Swift-Zentrum, über das täglich Millionen weltweite Finanztransaktionen laufen, steht im amerikanischen Bundesstaat Virginia. Unterfällt somit der amerikanischen Jurisdiktion. Sowie der „Obhut“ amerikanischer Geheimdienste. Die sich nicht genierten, selbst in Brüssel die Finanzflüsse „abzulauschen“ und mit ihren Erkenntnissen über Verstöße gegen einseitige US-Sanktionen amerikanische Gerichte zu füttern. Viele europäische Firmen und Banken mussten schon „freiwillige“ Bußgelder, manchmal in Milliarden Dollar zahlen, um einer weiteren Strafverfolgung zu entgehen. Ihr „Verbrechen“: Sie machten Geschäfte mit Firmen aus Staaten wie Iran, Kuba, Venezuela usw., die von den US-Behörden auf eine schwarze Liste gesetzt wurden.

Die USA drohen nunmehr, die Russen von den Swift-Operationen auszuschließen. Das wäre ein empfindlicher Schlag gegen die russische Wirtschaft. Würde gleichzeitig alle Handelspartner Russlands treffen. Etwa die Kunden der Gazprom, die für Gaslieferungen nicht mehr bezahlt werden könnten. Was den Europäern sehr schnell frostige Zeiten bringen würde.

Gas ist überall in Europa der wichtigste Heizstoff geworden. Viele Industrien und Gewerbebetriebe benützen Gas als Energiequelle. 20% der in Europa verbrauchten Elektrizität wird von Gaskraftwerken geliefert.

Die Russen sind Europas größter Lieferant. Unproblematische Alternativen gibt es wenig. Katar ist Gastgeber für die kommende Fußball-Weltmeisterschaft. Die das Land sich leisten kann, weil es auf einer riesigen Erdgas-Blase sitzt. Dennoch ist Katar kein Tempel der Menschenrechte. Wie die meisten möglichen Lieferanten: Iran, Algerien, Turkmenistan oder Kasachstan. Die EU-Kommission wurde in Aserbaidschan vorstellig, um von dort aus Erdgas zu beziehen. Das an Erdöl und Erdgas reiche Land am Kaspischen Meer wird seit Jahren von der gleichen Diktatoren-Dynastie beherrscht. Führte erst vor kurzem Krieg gegen Armenien.

Die Welt wird noch lange nicht auf Erdgas verzichten können. Deshalb sollten gerade wir Europäer uns hüten, unsere Versorgungssicherheit auf dem Altar der amerikanischen Geopolitik zu opfern. Nord Stream 2 mag nur ein Bauernopfer sein. Dennoch sollte es uns misstrauisch machen, wenn die USA bei ihrem globalen Schachspiel gerade diese Pipeline ausschalten wollen. Sie beabsichtigen uns nicht nur ihr verflüssigtes Shale-Gas anzudrehen. Sie wollen Russland schwächen und gleichzeitig die notwendige Kooperation der Europäer mit ihrem Nachbar Russland nachhaltig stören.

* Der Autor ist ehemaliger LSAP-Minister und ehemaliger Europaabgeordneter. 

DanV
19. Februar 2022 - 15.20

Ich bin jetzt sehr irritert. ALL unsere Zahlungen gehen über die USA? Und wir regen uns über facebook auf ??? Europa hat seine eigene Währung. Wieso hat Europa kein eigenes Verrechnungssystem, das sich nur im Bedarfsfall in das amerikanische einklinkt? Es kann doch nicht sein, dass die States einfach so den Welthandel stoppen können. Eine "kleine" Population von 300 Millionen Menschen kontrolliert fast 8 Milliarden Menschen???

Beobachter
19. Februar 2022 - 12.42

Die Chinesen freuen sich auf das russische Gas das wir nicht mehr bekommen wenn Biden die Pipeline weggebomt hat!