UkraineKampferfahrene Armee mit veralteten Strukturen: Rekrut erschießt fünf Kameraden

Ukraine / Kampferfahrene Armee mit veralteten Strukturen: Rekrut erschießt fünf Kameraden
Der Rekrut Artemij Rjabtschuk bei seiner Festnahme Foto: Ukraine Interior Ministry/AFP

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Artemij Rjabtschuk wurde monatelang von seinen Kameraden während der militärischen Ausbildung gemobbt. Laut der Abgeordneten Julia Jazyk soll der Rekrut der ukrainischen Nationalgarde nur darauf gewartet haben, endlich eine Kalaschnikow zu erhalten.

Als es in der Nacht zum Donnerstag auf dem Gelände der Raketenfabrik „Piwdenmasch“ in der ostukrainischen Millionenstadt Dnipro (früher: Dnipropetrowsk) endlich so weit war, zögerte er keinen Augenblick: Er nahm die AK-47 und mähte zehn seiner Kameraden und einen Wachmann nieder. Fünf Nationalgardisten, darunter zwei Offiziere, starben sofort. Sechs wurden verletzt, zwei davon lebensgefährlich.

Ob die fünf Todesopfer noch vor der erwarteten russischen Invasion die Ukraine aufrütteln, bleibt abzuwarten. Der Fall würde untersucht und entsprechende Konsequenzen im zuständigen Offizierskorps gezogen, hieß es am Donnerstag beim Kiewer Verteidigungsministerium. Von einer russischen Provokation ging offenbar niemand aus. Der Polizei in Dnipro war es innerhalb von sechs Stunden gelungen, den 21-jährigen Artemij Rjabtschuk festzunehmen. Er habe sich in einem Dorf bei Dnipro versteckt und schließlich selbst gestellt, teilt die Polizei mit.

„Rjabtschuk hatte vor zwei Monaten darüber geklagt, im Militärdienst fertig gemacht zu werden, aber offenbar hat kein Vorgesetzter daraus Schlüsse gezogen“, berichtet die Abgeordnete der pro-westlichen Präsidentenpartei „Volksdiener“ in sozialen Medien.

Der tragische Zwischenfall in Dnipro wirft ein Schlaglicht auf Organisation, Strukturen und Rekrutierung des ukrainischen Heeres, die dieser Tage weit seltener diskutiert werden als Mannschaftsstärke und Ausrüstung. Die meisten der 196.000 Soldaten und 102.000 Nationalgardisten sind keine Berufssoldaten, sondern wurden aufgrund der allgemeinen Wehrpflicht, in vielen Fällen gegen ihren Willen, einberufen. Die Wehrpflicht werde völlig veraltet umgesetzt, so als sei die Sowjetunion nicht untergegangen, warnt das „Atlantic Council“ sinngemäß in einer aktuellen Analyse zum Zustand der Streitkräfte in der Ukraine.

Große Mängel bei der Ausrüstung

So ist in der Ukraine allgemein bekannt, dass sich in den Großstädten bis zu zwei Drittel der jungen wehrpflichtigen Männer vor der Einberufung drücken. Oft werden die zuständigen Armeebeamten kurzerhand bestochen. Der Wehrpflicht kaum entziehen können sich materiell Minderbemittelte und junge Bürger mit ungenügenden Kontakten. Viele von ihnen wohnen auf dem Land, in den tausenden wirtschaftlich abgehängten Dörfer. Dort wird teils von der Polizei regelrecht Jagd auf Wehrpflichtige gemacht. Einberufung und Ausbildung der Rekruten müssten „sofort modernisiert“ werden, warnt das „Atlantic Council“.

Jedes Jahr gibt es rund 2.500 Verurteilungen von Rekruten wegen unerlaubten Verlassens der Einheit oder gar Desertion. Bedenklich hoch ist auch die Selbstmordrate im Militärdienst, vor allem an der Frontlinie im Donbas. Jede Woche kommt es durchschnittlich zu 2-3 Selbstmorden im Dienst.

So werden den rund 300.000 ukrainischen Soldaten und Nationalgardisten und den 900.000 Reservisten von Militärexperten zwar allgemein viel Kampferfahrung dank eines Rotationssystems im Donbas attestiert. Doch bei der Motivation bestehen erhebliche Zweifel. Dazu kommt trotz großen Rüstungsanstrengungen seit der russischen Annexion der Halbinsel Krim 2014 eine insgesamt immer noch veraltete Ausrüstung. Vor allem bei Marine, Luftwaffe und bei der Luftabwehr soll es laut dem Londoner Institut für Strategische Studien (IISS) weiterhin große Mängel geben.