L’histoire du temps présentGroßherzogin Charlotte im Exil: Royale Protagonistin oder Regierungsmarionette?

L’histoire du temps présent / Großherzogin Charlotte im Exil: Royale Protagonistin oder Regierungsmarionette?
 Foto: Editpress/Didier Sylvestre

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Am 2. September 2014 sendete der TV-Sender France 2 in der von dem Journalisten Stéphane Bern moderierten Doku-Serie „Secrets d’histoire“ den Beitrag „La Grande-Duchesse Charlotte de Luxembourg“ über Leben und Wirken der Monarchin. Besondere Berücksichtigung fand ihre Rolle als Staatschefin, die sich während der NS-Besatzung mit Radioansprachen aus dem englischen und amerikanischen Exil an die luxemburgische Bevölkerung wandte.

In der Sendung erzählt die Sprecherin aus dem Off von „bewegenden Dokumenten“ im Nationalarchiv. Das Manuskript für die erste Ansprache vom 5. September 1940 sei „écrit de la propre main même de la Grande-Duchesse“. In der nächsten Szene erklärt der Historiker Paul Dostert, dass das Dokument offenkundig in mehreren Schritten verfasst worden sei und dass es Korrekturen enthalte, „die nicht von ihrer Hand sind, die wahrscheinlich von der Hand des Außenministers stammen“1). Für den Zuschauer entsteht der Gesamteindruck, es handele sich um einen handschriftlichen Entwurf der Großherzogin, der von anderen korrigiert worden ist.

Dasselbe Manuskript wurde im Sommer 2018 in der Ausstellung „UNexpected Treasures“ gezeigt, als Beitrag des Nationalarchivs zu einer Art Leistungsschau staatlicher Kulturträger. Eine Notiz stellte klar: „Der Text, den Großherzogin Charlotte vorgelesen hat, wurde handschriftlich von Außenminister Joseph Bech verfasst und von Staatsminister Pierre Dupong mit Bemerkungen versehen.“2)

Tatsächlich wurde Außenminister Bech bereits im Film „Léif Lëtzebuerger“ (2008) als Autor des Manuskriptes identifiziert. Die Äußerungen Dosterts in der TV-Sendung von 2014 waren sinnentstellend aus dem Kontext herausgeschnitten und montiert worden. Wobei dies dem Moderator Stéphane Bern hätte auffallen können, denn Bern übernahm 2008 auch die Rolle des Sprechers in der französischen Fassung von „Léif Lëtzebuerger“.

Fehldarstellung historischer Tatsachen

Insgesamt scheint nicht Faktentreue, sondern die Sorge um die bessere Story die Endmontage von „Secrets d’histoire“ bestimmt zu haben. Eine Monarchin, die Reden verfasst, verkauft sich besser als eine Staatschefin, die die Texte ihrer Minister vorliest. Es handelt sich allem Anschein nach um eine Fehldarstellung historischer Tatsachen im Dienst des Narrativs von Charlotte als einer eigenständigen Protagonistin.

Nach jetzigem Kenntnisstand gibt es aus der Hand von Charlotte keine Quellen für Entwürfe von Exilreden oder für Korrekturen an solchen Entwürfen. Die Ansprachen der Staatschefin wurden von Ministern und engsten Mitarbeitern geschrieben. Vermutlich wurden sie vorab besprochen oder nachträglich zur Feinabstimmung vorgelegt.

Ein Selbstverständigungstext der Monarchin in Ich-Form (Portugal, Juli/August 1940) stammt aus der Feder ihres Flügeladjutanten. Hier verfasste Charlotte sogar ein sogenanntes „Ego-Dokument“ nicht selber, sondern beauftragte ihren Sekretär mit der Niederschrift.

Das bedeutet nicht, der Staatschefin eigene Handlungsmacht abzusprechen. In Portugal gab sie ein Telegramm nach Luxemburg in Auftrag (2. August 1940). Entgegen dem Kurs der Minister kündigte sie darin ihre Rückkehr an. Die Sendung wurde nur zufällig unterbunden. Charlotte plädierte auch früh für eine Kontaktaufnahme mit europäischen Herrscherhäusern. Der Besuch mit Bech in England während des Londoner Blitz ging maßgeblich auf ihre Initiative zurück (September 1940).

„Good-will Tours“ in den USA

Nachdem Präsident Roosevelt die Großherzogin ermutigt hatte, sich in a „democratic manner“ an die amerikanische Bevölkerung zu wenden (Januar 1942), agierte Charlotte bei ihren „Good-will Tours“ in den USA als Hauptdarstellerin auf offener Bühne. Ein denkwürdiges Pressefoto aus dem Jahr 1943 zeigt, wie die Monarchin bei einer Feier zum Vergnügen aller Beteiligter einem Soldaten Kuchen in den Mund schiebt. Auf eine subtile Orchestrierung verweist die Überreichung des Luxembourg Bulletin während eines Interviews. Nach der scheinbar spontanen Aufforderung von Charlotte bringt Flügeladjutant Konsbruck dem amerikanischen Journalisten die Ausgabe vom Januar 1943. In der Zeitung The Oregonian vom 27. März 1943 vermerkt der Reporter, das Bulletin sei „merkwürdigerweise“ auf der Seite aufgeschlagen gewesen, wo unter der Schlagzeile „Luxembourg – a true democracy“ die „liberale und demokratische luxemburgische Gesetzgebung“ gelobt wurde.

In Filmaufnahmen für die Exilregierung im Juni 1944 erfüllt die Staatschefin den Part der willigen Teamspielerin. Charlotte trägt bei einem Probedreh geduldig verschiedene Textfassungen derselben Ansprache auf Luxemburgisch, Französisch und Englisch vor. Eine Szene wurde in „Heim ins Reich“ (2004) und in „Léif Lëtzebuerger“ verwendet.

Fazit: Unterschiedlich nuancierte, eigenständige Handlungsweisen von Großherzogin Charlotte sind hinreichend belegt. Fehldarstellungen historischer Tatsachen im Dienst eines TV-gerechten Storytelling sind nicht sachdienlich und werden der Dynastie nicht gerecht.

* Nach seinem Abschluss in Philosophie und Germanistik an der Universität Heidelberg arbeitete André Linden als Psychologie-Experte für Marketing bei einem internationalen Unternehmen. Nach der Pensionierung absolvierte er ein Masterstudium in europäischer Zeitgeschichte an der Universität Luxemburg. Seine Masterarbeit über Luxemburgs Exilregierung und die Entdeckung des Demokratiebegriffs erschien 2021 als Kooperation von capybarabooks und Editions forum.

  

1) Übersetzung A.L.; Originalzitat Französisch

2) Übersetzung A.L.; Originalzitat Luxemburgisch