GroßbritannienTory-Rebellen werfen Johnsons Team Erpressung vor

Großbritannien / Tory-Rebellen werfen Johnsons Team Erpressung vor
Der Abgeordnete aus Bury South, Christian Wakeford (M.), hat am Mittwoch die Seiten gewechselt und ist wegen Johnson von den Tories zu Labour übergetreten Foto: AFP

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Einschüchterungen, Drohungen, ja Erpressung – Boris Johnson musste sich am Donnerstag mit explosiven Anschuldigungen aus den eigenen Reihen auseinandersetzen.

Diesmal ging es nur indirekt um die vielfachen Verstöße gegen Lockdown-Bestimmungen, mit denen der Premier und sein Team in der Downing Street das Land empört hat. Bei ihren Versuchen, den angeschlagenen Regierungschef im Amt zu halten, hätten sich die Einpeitscher der konservativen Fraktion illegaler Methoden bedient, behauptete William Wragg im Unterhaus. Natürlich werde er den Vorwürfen nachgehen, beteuerte Johnson: „Aber mir liegen keine Beweise vor.“

Wragg sprach zu Beginn einer Sitzung des Ausschusses für Verfassungsfragen, dem er seit 2020 vorsitzt. Er gehört zur Handvoll von Torys, die sich öffentlich gegen Johnson gestellt haben. Eine Reihe von Abgeordneten seien Druck und Einschüchterung ausgesetzt gewesen, teilte der 34-Jährige mit. Dazu gehörten Aufforderungen an Zeitungen, peinliche Geschichten über Möchtegern-Rebellen zu veröffentlichen. Zudem sei gedroht worden, bei mangelnder Fraktionsdisziplin öffentliche Investitionen im Wahlkreis zurückzuhalten. „Dies kommt Erpressung gleich“, sagte Wragg und empfahl den Betroffenen die Einschaltung des Parlamentspräsidenten Lindsay Hoyle sowie der Kriminalpolizei.

Dass sich die Manager aller Fraktionen, nicht umsonst im britischen Parlamentsjargon Whips („Einpeitscher“) genannt, gelegentlich robuster Methoden bedienen, gilt als offenes Geheimnis. Vor mehr als 30 Jahren veröffentlichte der heutige Oberhaus-Lord Michael Dobbs den Roman „House of Cards“, dessen zweifelhafter Held ein Chief Whip ist. Das Sujet war so populär, dass Netflix mit großem Erfolg eine US-Version erstellte.

Wraggs allgemeine Behauptung wurde später durch Christian Wakeford konkretisiert: Ihm habe der zuständige Tory-Whip damit gedroht, den geplanten Neubau einer Sekundarschule in seinem Wahlkreis vom Investitionsprogramm der Regierung zu streichen. Dieser Vorwurf klingt nicht unplausibel: Immerhin ergaben Medienrecherchen im vergangenen Jahr, die Regierung plane deutlich mehr Investitionen in konservativ eingefärbten Regionen als in Labour-Wahlkreisen, obwohl letztere statistisch gesehen größeren Nachholbedarf haben. Damals blieb ein Protest von Wragg oder Wakeford aus. Letzterer war am Mittwoch spektakulär zur Labour-Party übergetreten mit der Begründung, der Premierminister sei „zu Führungsstärke nicht in der Lage“.

Panik bei jungen Politikern

Auch aus den eigenen Reihen reißt die Kritik an Johnson nicht ab. Dabei scheint es, als hätten viele Fraktionsmitglieder erst in den letzten Tagen festgestellt, welch ungeklärtes Verhältnis ihr Partei- und Regierungschef zur Wahrheit unterhält. Offenbar überdeckte Johnsons Popularität und Rolle als Brexit-Marktschreier dessen Vergangenheit: wegen Lügen aus zwei Jobs gefeuert, darunter auch vom damaligen Parteichef Michael Howard; zweimal entgegen ausdrücklicher gegenteiliger Versprechungen an seine Arbeitgeber als Kandidat fürs Unterhaus angetreten (und prompt gewählt); immer wieder wegen Sexaffären in den Schlagzeilen, darunter auch mit einer Frau, deren Berufskarriere der damalige Londoner Bürgermeister mit öffentlichen Mitteln förderte.

„Das Land braucht ehrliche Führung“, teilte Mark Logan mit, einer der 2019 auf der Boris-Welle ins Unterhaus geschwemmten Wahlkreisvertreter aus langjährigen Labour-Sitzen („Red Wall“) im urbanen Norden Englands. Von diesen 43 Mandaten, so ergab kürzlich eine Umfrage der Firma JL Partners, würden derzeit 40 an Labour zurückfallen. Die Panik der häufig jungen und unerfahrenen Politiker hat also sehr persönliche Züge.

Die Gefährdung der eigenen Existenz dürfte auch Christian Wakefords Entscheidung für seinen Labour-Wechsel beeinflusst haben. Gesundheitsminister Sajid Javid, einer der Kandidaten für die Nachfolge des Premiers, forderte den einstigen Parteifreund am Donnerstag dazu auf, sich einer Nachwahl zu stellen, schließlich habe die Wählerschaft von Bury und Umgebung vor gut zwei Jahren für die Konservativen gestimmt.