Michel WelterHeute vor 125 Jahren wurde der „rote Doktor“ in der Chamber vereidigt 

Michel Welter / Heute vor 125 Jahren wurde der „rote Doktor“ in der Chamber vereidigt 
Der „rote Doktor“ Michel Welter in einem Porträt von Ferdinand d’Huart. Foto: Editpress-Archiv

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„Rouden Dokter“, „Freund des Volkes“, Kämpfer für die Arbeiterklasse und für Esch, Begründer der Sozialdemokratie in Luxemburg: Michel Welter war eine prägende Persönlichkeit der Jahrhundertwende. Heute vor 125 Jahren wurde er in der Chamber vereidigt.   

„A l’ami du peuple – Dr Michel Welter 1859-1924 – la classe ouvrière reconnaissante“ prangert auf dem drei Jahre nach seinem Tod eingeweihten Denkmal in Esch. Ein nicht zu übersehendes Monument mit vier Säulen und dem Konterfei Welters, zentral beim einstigen Rosengarten im Park Galgenberg gelegen. Welter war zusammen mit Caspar Mathias Spoo der erste nicht-konservative Politiker im Luxemburger Parlament und mischte das erzkatholische Establishment auf. Was nichts anderes als den Beginn einer Zeitenwende im Großherzogtum markierte. Und die Geburtsstunde der sozialdemokratischen Politik in der Chamber war.

Ende des 19. Jahrhunderts wurde in Luxemburg nach dem Zensuswahlrecht gewählt. Nur Männer ab 25 Jahren durften an die Urnen und sie mussten dafür bezahlen. Das System garantierte lange, dass die „bessere Gesellschaft“ bei den Wahlen unter sich blieb. 1892 wurde die zum Wählen verlangte Summe auf 15 Franken halbiert, was die Wahlbeteiligung quasi verdoppelte. Allerdings auf sehr niedrigem Niveau, nämlich von 3,5 Prozent der Gesamtbevölkerung (damals rund 200.000) auf 6,8 Prozent. 

Dr. Michel Welter
Dr. Michel Welter Foto: Editpress-Archiv

Welters Mitstreiter C. M. Spoo wurde am 10. November 1896 im Alter von 59 Jahren als Abgeordneter vereidigt. Bei Welter dauerte es etwas länger. Nach dem Tod des Deputierten Théodore de Wacquant, einem Arzt aus Foetz, trat Michel Welter zur Stichwahl um dessen Abgeordnetensitz für den Kanton Esch an und setzte sich am 12. Januar 1897 gegen seinen klerikalen Konkurrenten durch. Bei den regulären Wahlen im Jahr zuvor hatte Welter den Einzug ins Parlament noch verpasst. Er wurde heute vor genau 125 Jahren, am 19. Januar 1897, als zweiter „Sozialist“ nach C. M. Spoo vereidigt. 

Freiheit, Gleichheit, Solidarität

Wobei es Sozialisten zu dieser Zeit in Luxemburg noch nicht gab. Die Wahl-Escher Spoo und Welter traten als Demokraten an, wobei sie die sozialdemokratischen Ideen wie Freiheit, Gleichheit und Solidarität propagierten. 1901 bekamen sie in der Chamber mit dem Anwalt Xavier Brasseur Verstärkung, im Jahr darauf gesellten sich Jean-Jacques Diderich und Léon Metzler hinzu. Sie alle wurden im Kanton Esch gewählt, der sich durch die Industrialisierung rasant entwickelte. So verdoppelte sich die Einwohnerzahl der Stadt Eschs ab den 1870er Jahren bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 alle 10 bis 15 Jahre.

Welter, am 21. März 1859 als vierter von elf Kindern einer Bauernfamilie in Heiderscheid geboren, ließ sich nach seinem Medizinstudium im Alter von 27 Jahren als Arzt in Esch nieder. Dort wurde er tagtäglich mit der sozialen Not der Arbeiterfamilien konfrontiert. Fortan schrieb er sich die Arbeiterfrage auf die Fahne und setzte sich im Parlament für Esch ein. Das brachte ihm nicht nur den Spitznamen „rouden Dokter“, sondern auch harsche Kritik aus dem konservativen Lager ein. Als er eine Woche nach seiner Vereidigung die Abgeordneten am Rednerpult nach Esch einlud, damit sie sich selbst ein Bild über die katastrophalen Wohnverhältnisse der Arbeiter machen könnten, wurde Welter von Staatsminister Paul Eyschen gemaßregelt. Deputierte seien für die Belange des gesamten Volkes da, nicht nur für die Arbeiter. Bis dahin war die Chamber der Meinung, das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und -nehmer gehe sie nichts an, genauso wenig wie die sozialen Probleme. 

Das freilich änderten Michel Welter, C. M. Spoo und Co. schnell, sodass sie heute als Wegbereiter der Modernisierung des Landes um die Jahrhundertwende bezeichnet werden können. Unter dem Impuls von Michel Welter wurde 1901 die Schaffung der Arbeiter-Krankenkasse beschlossen, 1902 eine gesetzliche Regelung bei Arbeitsunfällen geschaffen, 1906 der Bau von Arbeiter-Wohnhäusern entschieden und 1908 die Alters- und Invalidenrenten für Arbeiter eingeführt. Zudem traten Spoo und Welter stets für die Republik, gegen den Klerikalismus und für das allgemeine Wahlrecht ein, das schließlich 1919 kam.

„Linksblock“ gegen die Konservativen

Bis dahin war es aber ein langer Weg. Michel Welter gründete am 26. Januar 1902 mit sechs Mitstreitern den „sozial-demokratischen Verein für Luxemburg und Umgebung“, was als Geburtsstunde der heutigen LSAP gilt. Das Parteiprogramm wurde im Escher Journal abgedruckt. Zwar kam es nur zwei Jahre später zur Spaltung, doch der Siegeszug der Sozialdemokratie in Luxemburg war nicht mehr aufzuhalten. Mit den Liberalen bildete man im Abgeordnetenhaus den sogenannten „Linksblock“, kurz Block, gegen die Konservativen. So konnte 1912 das Schulgesetz reformiert und Bildung für alle zugänglich gemacht werden. Vor allem aber konnte der Einfluss der katholischen Kirche auf das Schulwesen auf ein erträglicheres Maß zurückgefahren werden.

1913 wurde das Escher Tageblatt gegründet und fungierte fortan als das Sprachrohr des „Blocks“. Als Zeitungsgründer Paul Schroell im Februar 1915 ins Exil ging, machte er Michel Welter zum politischen Direktor der Zeitung. Bereits ein Jahr später musste Welter den Posten abgeben, denn er kam in der Regierung von Victor Thorn zu Ministerehren. Als Minister für Landwirtschaft, Industrie und Handel war er für den Lebensmittelnachschub verantwortlich. Und scheiterte daran, die durch die Kriegswirren ausgelöste Hungersnot in der Bevölkerung zu lindern. Michel Welter musste im Dezember 1916 zurücktreten, was seine politische Laufbahn mehr oder weniger beendete. Er wurde medizinischer Direktor des Thermalbads in Mondorf und starb am 22. April 1924 an einem Hirnschlag.

In Erinnerung bleibt der „rote Doktor“ aber auch wegen seiner 263 Tagebucheinträge zwischen August 1914 und März 1916, die als Zeitdokument 2015 in Buchform („Le journal de Michel Welter – La grande guerre au Luxembourg“) erschienen. In Esch war er unter anderem maßgeblich an der Gründung der „Maison du peuple“ und am „Meedercherslycée“ beteiligt. „Wir wollen in Esch, was Sie in Luxemburg haben“, sagte er 1901 in der Parlamentsdebatte zur Einführung einer Industrieschule in Esch. Seine Tochter Alice Welter spielte als Studentin eine wichtige Rolle bei der Münchener November-Revolution 1918, starb allerdings im selben Jahr an der spanischen Grippe.   

Quellen:

– Broschüre „100 Joer Sozialistesch Députéiert 1896-1996“ (POSL) – „Michel Welter – L’ami du peuple“ von Jacques Maas

– Centenaire du Tageblatt (2) – Un journal dans son siècle

– Tageblatt-Archiv

Das Denkmal zu Ehren von Dr. Michel Welter auf dem Escher Galgenberg
Das Denkmal zu Ehren von Dr. Michel Welter auf dem Escher Galgenberg Foto: Editpress/Tania Feller
Grober J-P.
19. Januar 2022 - 10.12

"Bis dahin war die Chamber der Meinung, das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und -nehmer gehe sie nichts an, genauso wenig wie die sozialen Probleme." Hab den Eindruck, bei verschiedenen "Volksvertretern" ist das heute noch so.