Must-See Movies (3)Ein emotionaler Wirbelsturm: „Un monde“ von Laura Wandel

Must-See Movies (3) / Ein emotionaler Wirbelsturm: „Un monde“ von Laura Wandel
Auch wenn man klein ist, kann das Leben schwer sein – das zeigt „Un monde“ deutlich Foto: Dragons Films

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Die städtische Cinémathèque hat zu Jahresbeginn wieder cinephilen Nachhilfeunterricht im Spielplan. Aus verschiedensten Gründen sind die programmierten Filme nicht oder nur sporadisch auf luxemburgischen Kinoleinwänden zu sehen gewesen. Das Tageblatt stellt die sogenannten elf Must-see-Filme vor.

Der weiße Schulhof/Gebt den Kindern das Kommando/Sie berechnen nicht, was sie tun/Die
Welt gehört in Kinderhände/Dem Trübsinn ein Ende/Wir werden in Grund und Boden gelacht/Kinder an die Macht.
Wenn der Film „Un monde“ der Regisseurin Laura Wandel mit etwas abrechnet, dann mit
der naiven Einsicht – nicht nur 1986 von Herbert Grönemeyer formuliert –, dass auf den
Schultern von Kindern eine bessere Welt aufzubauen sei. Das Gesetz des Schulhofs ist laut dem
belgischen Film zumindest so unerbittlich und unfair wie die sogenannte große Welt.

Die junge Nora trifft man zu Beginn des Films an der Pforte der titelgebenden Welt. Die „rentrée
scolaire“ steht an und es scheint auch Noras allererster Schultag zu sein. Das junge Mädchen liegt
tränenüberströmt in den Armen seines großen Bruders. Nora mag nicht in die Schule gehen. Vor allem
will sie das Familiennest nicht verlassen, in dem sie sich bisher wohlzufühlen schien. Bruder Abel – die
biblische Komponente seines Namens ist alles, nur nicht willkürlich – und die von Karim Leklou
gespielte Vaterfigur stehen Nora bei und sprechen ihr Mut zu. In aller Vorsicht und nicht ganz
überzeugt lässt sich das Mädchen auf die Schule ein und lernt erste potenzielle Mitschülerinnen
kennen. Eines guten Morgens sieht sie jedoch, wie ihr Bruder Abel im Schulhof gehänselt wird. Und
dieser verbietet ihr, dem Vater davon zu erzählen.

Keine einzige Minute verschwendet

Mit „Un monde“ war am Dienstagabend der zweite von im ganzen vier Debütfilmen von Regisseurinnen im
Kontext der elf „Must-See Movies of 20-21“ zu sehen. Laura Wandels Film – der es übrigens auf die
Shortlist von 15 Filmen für den Oscar für den besten internationalen Film geschafft hat – erzählt mit
einer fast schon dokumentarischen Zurückhaltung von den zwischenmenschlichen Dynamiken, mit
denen sich Kinder im Rahmen eines Schulalltags herumzuschlagen haben. Den jungen Maya
Vanderbeque und Günter Duret als Nora und Abel im ganz normalen psychologischen Wirbelsturm
des Schulhofs zuzusehen ist weniger eine objektive Auseinandersetzung mit dem Thema als
vielmehr der Versuch, diesen emotionalen Wirbelsturm beim Zuschauer sinnlich erfahrbar zu
machen.

Dafür setzen Wandel und ihr Kameramann Frédéric Noirhomme – der schon die Bilder für die Filme von Mohamed Ben Attia und „Préjudice“, den völlig unterschätzten, von Samsa co-produzierten Erstlingsfilm von Antoine Cuypers geliefert hat – auf einen formalen Rahmen, der das möglich macht. Die Kamera stets mit reduzierter Tiefenschärfe auf Augenhöhe der Knirpse – vor allem Nora – im Mittelpunkt des Films, müssen sich die Erwachsenen hocken oder setzen, um überhaupt mit dem Gesicht im Bild zu sein. Dass Karim Leklou und Laura Verlinden, zwei durchaus angesagte Schauspieler – Verlinden war in Hanekes „Happy End“ und Leklou im viel besprochenen „BAC Nord“ zu sehen – für Laura Wandels Film zur Verfügung standen, spricht durchaus für sie.

Ohne es zu wollen, steht Nora zwischen ihrem Bruder und ihrem Vater und zerreißt innerlich daran.
Die Regisseurin interessiert sich anhand ihrer Nora-Figur nicht nur für die ersten, scheinbar
aussichtslosen Dilemmas, während deren die kindliche Unschuld notgedrungen ihre ersten Risse
bekommt. Laura Wandel stellt dem romantisierten Blick auf die Kindheit im Kino einen
Gegenentwurf entgegen, der in seiner konsequenten Trockenheit und Unerbittlichkeit der erfahrenen
Realität der meisten von uns sehr nahe kommt. „Un monde“ ist dabei einem Kriegsfilm nicht unähnlich.
Also einem Kriegsfilm, wenn ihn die Dardenne-Brüder inszeniert hätten. Luc Dardenne wird auf jeden
Fall in den Danksagungen im Abspann erwähnt. „Un monde“ verliert mit seinen knapp 69 Minuten
Spielzeit keine Minute, um an die Essenz der conditio des Kinds, jener des Erwachsenen nicht unähnlich, zu
gelangen.


„Un monde“ (2021) von Laura Wandel mit u.a. Maya Vanderbeque und Laura Verlinden. Kritikerpreis „Fipresci“ im Wettbewerb „Un certain regard“ bei den Filmfestspielen in Cannes 2021.