LuxemburgSoziologe: „Jeder Akt der Verachtung oder Autorität steigert Reaktanz“

Luxemburg / Soziologe: „Jeder Akt der Verachtung oder Autorität steigert Reaktanz“
 Foto: Editpress/Didier Sylvestre

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Auf Luxemburgs Corona-Demos mischt ein neuer Player mit: der „Bloc Lorrain“ – Anarchie, Antikapitalismus und Sprungbrett „Gilets jaunes“ lautet das Selbstverständnis. Ein französischer Soziologe erklärt gegenüber dem Tageblatt, wie es zu dieser Radikalisierung kommt.

Der Soziologe Pascal Marchand forscht und lehrt an der Universität Toulouse zu Medien, Politik, politischer Krisenkommunikation sowie zu Rhetoriken des Engagements in gewalttätigen ideologischen Radikalisierungen. Marchand kommentiert Bewegungen wie den „Bloc Lorrain“ gegenüber dem Tageblatt wie folgt: „Man kann soziale Bewegungen dadurch charakterisieren, ob sie eher lokale oder globale Forderungen vertreten und ob eher eine individuelle oder eine kollektive Mobilisierung erfolgt. Je nachdem, wie man diese Charakteristika kreuzt, lassen sich vier Profile an sozialen Bewegungen erstellen“, so Marchand. Diese sähen wie folgt aus:

  • Reaktanten (lokale Forderungen und individuelle Mobilisierung)

„Das Wort stammt von Brehms Reaktanztheorie, die besagt, dass jedes Gefühl der Freiheitsberaubung eine Motivation zum Handeln zur Wiedererlangung der Freiheit impliziert“, sagt Marchand. „Die Impfpassgegner, die im Namen ihrer Freiheit Forderungen stellen, fallen in diese Kategorie.“

  • Widerstandskämpfer (lokale Forderungen und kollektive Mobilisierung)

„In diese Kategorie fallen etwa die traditionellen Gewerkschaftsbewegungen als Reaktion auf den Entzug von Ressourcen“, sagt Marchand. Er führt als Beispiel die Demonstrationen gegen die Rentenreform an.

  • Reaktionäre (globale Forderungen und individuelle Mobilisierung)

„Der Begriff bezieht sich auf Newtons Gesetz von Aktion und Reaktion, das in der Politik zur Metapher für den Konservatismus gegen den sozialen Fortschritt geworden ist“, sagt der Experte der Universität Toulouse. Man könne feststellen, dass z.B. Gesetze die Demonstranten nicht persönlich treffen könnten, aber dass ihre persönliche Weltanschauung, ihr „Glaube an die Gerechtigkeit in der Welt“ durch diese erschüttert werde, so Marchand.

  • Revolutionäre (globale Forderungen und kollektive Mobilisierung)

„Die Revolutionäre setzen sich für eine Mobilisierung, für eine andere Welt und für eine andere Gesellschaft ein“, erklärt der Wissenschaftler. „Ein Beispiel sind zum Beispiel die Klimamärsche.“

Die Impfpassgegner haben kein Gefühl der Zugehörigkeit zu einem politischen Kollektiv und seien nicht dazu berufen, eine gesellschaftliche Alternative vorzuschlagen – „sie sind keine Revolutionäre“, sagt Marchand. Bei Protest-Forderungen handele es sich nicht um politische Werte und Vorstellungen, auf die man eine Gesellschaft aufbauen könne. Die Bewegung „ist Ausdruck einer sehr persönlichen und punktuellen Ablehnung, die keinen programmatischen politischen Wert hat“, sagt Marchand. Es sei nicht verwunderlich, dass politische Orientierungspunkte verloren gehen und individualistische Motivationen stärker hervortreten würden.

„Man muss vorsichtig sein“, sagt Marchand, „und diese neuen sozialen Bewegungen nicht leichtfertig mit traditionellen Filtern bewerten.“ Die öffentliche Darstellung der Gelbwesten-Bewegung habe dazu geführt, dass diese sich von einer Widerstands- zu einer revolutionären Bewegung entwickelt hätte.

Die Entwicklung der Bewegung sei jedoch schwer vorherzusehen. „Da es sich um einen klaren Konflikt zwischen einer Regierung und einer Bewegung handelt, trägt demnach auch jede der Parteien Verantwortung“, sagt der Soziologe. „Jedes Verhalten der einen Seite führe zu einer Reaktion der anderen Seite.“ Die französische Regierung habe die Passgegner anfangs wie Jugendliche behandelt, die nach Freiheit schreien. Zuerst habe man versucht, mit Autorität und Drohungen auf sie einzuwirken und in letzter Zeit mit Verachtung. „Doch die französische Regierung hat das Misstrauen eines Teils der Bevölkerung gegenüber der Pharmaindustrie unterschätzt.“  Diese habe ihre Fähigkeit, die öffentliche Gesundheit im Namen der Rentabilität zu gefährden, bereits unter Beweis gestellt.

„Das Gefühl der Freiheitsberaubung beruht oft auf der Realität einer bedrückenden Welt“, sagt Marchand. Es gebe also keinen Grund, die Impfpassgegner zu verachten. „Jeder Akt der Verachtung oder Autorität steigert die Reaktanz“, meint der Forscher. Die eigene Meinung zu ändern, komme einer Niederlage, einer Selbstaufgabe gleich.

Dabei sei die Rolle der Demonstrationen bei der Radikalisierung bereits gut erforscht, die Folgen weitestgehend bekannt: fortschreitende Radikalisierung der eigenen Haltung, Widerstand gegen Gegenargumente und die sich daraus entwickelnde Motivation, noch entschiedener zu handeln. „Und so wird man mitunter unverschämte Äußerungen hören, die für Fachleute auf diesem Gebiet an Wahnvorstellungen grenzen können“, erklärt Marchand im Hinblick auf die weit verbreiteten Falschinformationen. „Zudem ist jeder, der eine andere Meinung vertritt, zwangsläufig ,manipuliert‘ ,Schaf‘ oder aber ein ,Komplize‘.“ Die diktaturähnliche Rhetorik drücke somit nur die Ablehnung des Dialogs mit dem „System“ aus.

„Sie sind sicherlich in der Minderheit, aber in den Netzwerken oder auf den Demonstrationen sehr leicht zu finden“, sagt Pascal Marchand von der Universität Toulouse. „Da die Medien aber auch die Regierungsbotschaften über Barrieregesten und Impfanreize weitergeben und manchmal sogar die Gegner verunglimpfen, ist die Abkürzung schnell gefunden und die Journalisten zahlen den Preis dafür.“ Es bleiben nur die populistischen Medien und Parteien, die sich zum Sprachrohr dieser unterdrückten Minderheiten gegen die unterdrückenden Mehrheiten machen.

„Man hätte also bei einer Rhetorik der Vernunft bleiben müssen: die Debatten an Ideen abarbeiten und Spaltungen zwischen Menschen vermeiden, die vorübergehenden Aspekte einer restriktiven Politik beruhigen“, sagt Marchand. „Es ist zu spät, um eine gewaltsame Eskalation zu vermeiden.“ Man müsse jetzt hoffen, dass diese Welle die letzte sei und das Virus bald nur noch eine schlechte Erinnerung sei. Ob sich dann auch die sozialen Unruhen wieder legen? „Es wird wahrscheinlich noch andere Gründe für Unzufriedenheit geben. Man kann davon ausgehen, dass die sozialen Bewegungen noch nicht vorbei sind“, meint Marchand. Dann werde es sich aber möglicherweise weniger um reaktive als um revolutionäre Bewegungen handeln.


Pascal Marchand hat bereits im August mit dem französischen Sender France 3 Occitane die Bewegung der Corona-Demonstranten in Frankreich analysiert. Seine Argumentation lässt sich auch auf die Situation in Luxemburg herunterbrechen. Wir haben die Aussagen des Anführers vom „Bloc Lorrain“ mit Marchands Analyse verglichen. Ein Faktencheck.

Behauptung: Auch in Frankreich gibt es viele Personen aus den rechten Milieus, die an den Demos teilnehmen. Wir sind aber der Meinung, dass die Maßnahmen unsere individuellen und kollektiven Freiheiten beschneiden.

Was sagt der Experte: In einem Interview mit France 3 Occitane hat der Soziologe Pascal Marchand die Entstehung der Corona-Gegner erklärt. „Man darf diese Bewegung nicht mit den ,Gilets jaunes‘ verwechseln, bei denen die mobilisierten Demonstranten einige Gemeinsamkeiten aufweisen und ähnlichen politische Forderungen vorbrachten“, sagt Marchand in dem Interview mit dem französischen Sender. „Die Bewegung der Corona-Gegner ist eine sehr heterogene Gruppe, die nur eine einzige Gemeinsamkeit aufweist: Sie fühlen sich durch die Corona-Politik ihrer Freiheit beraubt.“ 

Behauptung: Der Rückgriff auf Alternativmedizin hilft.

Was sagt der Experte: Der Soziologe Pascal Marchand erklärt, dass die Zuwendung zur Alternativmedizin vor allem aus einem anekdotisch begründeten Misstrauen gegenüber den großen (Pharma-)Industriellen herrühre. „Die großen Industrien, darunter auch die Pharmaindustrie, haben es einige Male geschafft, teils toxische Substanzen unter der Bevölkerung zu verteilen. Diese Industrievertreter haben Bevölkerung und Politik angelogen – teilweise war die Politik sogar als Komplize beteiligt“, sagt Marchand. In der Bevölkerung herrsche ein allgemeines Misstrauen gegenüber den Politikern und der hiesigen Industrie, wozu auch die Medienbranche zählt. Das Gefühl des Freiheitsentzuges gepaart mit dem Misstrauen rufe dann diese fast schon jugendliche Reaktion hervor. Diese Reaktion lasse sich nicht anhand politischer Entscheidungen, sondern nur durch eine emotionale Antwort auf den empfundenen Freiheitsentzug erklären.

Behauptung: „Wir haben auch während der Demo skandiert ,A bas l’Etat, les flics et les fachos.‘ Wir sind eben der Ansicht, dass weder der Staat noch die Polizei in der jetzigen Form existieren darf.“

Das sagt der Experte: Das Engagement einer Person hat drei Konsequenzen. Erstens werden sich die Ansichten der Person radikalisieren, wodurch das Engagement für die Person an Wichtigkeit gewinnen wird. Diese Radikalisierung wird sie dazu treiben, das eigene Vorgehen immer weiter zu rationalisieren. Zweitens wird sich die Person immer weiter abschotten, um die eigene Weltansicht zu schützen. Entscheidungen der Regierung werden als persönliche Attacken gegen die eigene Freiheit gewertet. Das führt dazu, dass diese Personen immer weniger empfänglich für den politischen Diskurs und Argumente für die öffentliche Gesundheit werden. Drittens werden die radikalisierten Personen sich immer stärker engagieren – was dazu führen wird, dass die Mobilisierung größer und intensiver wird.

Vorwurf: Lügenpresse: Die Medien sind gelenkt und nicht frei.

Das sagt der Experte: Die Medien werden zunehmend als Machtinstrumente wahrgenommen. Einige sehen in den Medien die Sprachrohre der Regierung, andere wiederum sehen in den Medienhäusern lediglich privatwirtschaftliche Interessen. Beides führt dazu, dass sie zunehmend an Glaubwürdigkeit verlieren und dass auf alternative Medien zurückgegriffen wird. Die „Gilets jaunes“ haben des Öfteren auf Russia Today zurückgegriffen – die Corona-Demonstranten hingegen greifen vornehmlich auf die sozialen Medien als Hauptinformationsquelle zurück, die den „Mainstream“ stärker und unter verschwörungstheoretischen Aspekten infrage stellen.

Behauptung: Wir wollen die vorgegebenen Machtverhältnisse herausfordern.

Das sagt der Experte: Letzten Endes wird die vorherrschende Mehrheitsmeinung infrage gestellt. Die Regierung hat den kommunikationstechnischen Fehler gemacht, der radikalisierten Masse auf Augenhöhe begegnen zu wollen. Eine Regierung kann auf das Argument des Freiheitsentzuges nicht mit Solidaritätsparolen reagieren. Man hätte klar kommunizieren müssen, dass jede Pandemie seit dem 15. Jahrhundert anhand mehr oder weniger drastischer sanitärer Maßnahmen bekämpft wurde.

Die moderne Politik hat zudem das Problem, dass mit der Einführung neuer Einschränkungen auch administrative und verwaltungstechnische Maßnahmen getroffen wurden, die mit polizeilichen und juristischen Mitteln kontrolliert werden, anstatt auf die Ausnahmesituation hinzuweisen. Mittlerweile hat die Politik in den radikalisierten Bevölkerungsschichten aber jedes Vertrauen und jede Glaubwürdigkeit verspielt, sodass diese Aufrufe nun auch nichts mehr bringen würden. Das führt letztendlich dazu, dass wir mittlerweile ein gewisses Niveau an Gewaltbereitschaft auf den Demonstrationen feststellen müssen.

Hary
18. Januar 2022 - 20.08

Ech duecht mir hätten e Gesetz wou all Agrëff an de Schinneverkéier drastesch bestrooft gëtt?

Michel Mueller
14. Januar 2022 - 17.10

Pascal Marchand liegt mit einer Behauptung falsch. Die Maßnahmen sind schon im 14. Jahrhundert getroffen worden und nicht erst im 15. Jahrhundert.

Johnny
13. Januar 2022 - 21.48

Mengen de Bëttel kann sech dei next Wochen e Kärcher zouléën...

Johny
13. Januar 2022 - 15.21

Also wann déi bis elo zu Lëtzebuerg matmëschen, da muss den Policeminister sech awer waarm undinn. Déi sinn net esou zahm wéi de guddgleeweche Luxusbuerger. Ech hoffe just, dass se net och nach mierke wéi gutt a kann op der Gare Geschäfter maachen!