Eingesetzt in Hitlers VernichtungskriegÜber das schwerwiegende Schicksal des Luxemburger zwangseingezogenen Grenadiers Henri S.

Eingesetzt in Hitlers Vernichtungskrieg / Über das schwerwiegende Schicksal des Luxemburger zwangseingezogenen Grenadiers Henri S.
Wehrmacht-Soldaten schauen zu, wie die Synagoge von Siedlce in Flammen aufgeht. Fotograf unbekannt.  Foto: United States Holocaust Memorial Museum

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Dieser Beitrag ist als Folge des am 18. September 2021 im Tageblatt veröffentlichen Artikels „Kriegsverbrechen versus Nazi-Verbrechen“ gedacht. Im ersten Beitrag stellte der Verfasser fest, dass die Wehrmacht im Osten von Anfang an einen verbrecherischen Vernichtungskrieg führte und dass die zwangsmäßig eingezogenen Luxemburger „Jongen“ dieser Armee angehörten. In diesem Beitrag soll am Beispiel von Henri S. gezeigt werden, dass jemand, der einer solchen Armee angehörte, möglicherweise mit Verbrechen in Berührung kam oder davon Zeuge wurde.

Wie es mehr als zwei Jahre nach dem völkerrechtswidrigen deutschen Einmarsch dazu kam, dass die Besatzungsmacht in Luxemburg am 30. August 1942 die Wehrpflicht für die Jahrgänge 1920 bis 1927 einführte, kann in diesem Beitrag nicht im Detail geschildert werden. Dieser Aspekt der Geschichte des Zweiten Weltkrieges aus Luxemburger Perspektive ist reichlich dokumentiert und bekannt.

Es soll aber eingangs noch einmal betont werden, dass es sich bei der erzwungenen Wehrpflicht um einen Verstoß gegen das internationale Kriegsrecht handelte. Nicht nur galt zu dem Zeitpunkt in der internationalen Weltordnung die Zwangseingliederung in eine fremde Armee als ein Kriegsverbrechen, sondern ebenfalls die erzwungene Eidesleistung auf ein fremdes Staatsoberhaupt.

Mehr als ein Jahr vor der Einführung der Wehrpflicht war am 23. Mai 1941 in Luxemburg die Arbeitsdienstpflicht eingeführt worden. In der betreffenden Verordnung des Chefs der deutschen Zivilverwaltung (CdZ), Gauleiter Gustav Simon, hieß es: „1. Alle männlichen und weiblichen Bewohner von Luxemburg zwischen dem vollendeten 17. und vor dem vollendeten 25. Lebensjahr, die die luxemburgische Staatsangehörigkeit besitzen, können zur Dienstleistung im Reichsarbeitsdienst herangezogen werden.“[1]

Henri S.

Henri S. wurde im Jahr 1923 als jüngstes von insgesamt neun Kindern in eine Bauernfamilie aus Hostert geboren. Drei Jahre nach seiner Geburt kam sein Vater bei einem Unfall ums Leben und die Mutter musste alleine die neun Kinder großziehen. Nach der Primärschule in Hostert besuchte Henri das klassische Gymnasium „Athenäum“ in der Hauptstadt, das er allerdings erst nach dem Krieg abschließen konnte. Entscheidungen der deutschen Besatzungsmacht sollten nämlich sein junges Leben auf dramatische Weise verändern.

Am 5. Mai 1942 erließ der CdZ die Anordnung, in den Monaten März und April 1942 durch die polizeilichen Meldebehörden die Jahrgänge 1923 und 1924 für den Reichsarbeitsdienst (RAD) zu erfassen.[2] Henri S. war von dieser Anordnung betroffen. Nach eigenen Angaben nach dem Krieg[3] hat er allerdings den Stellungsbefehl für den RAD erst im Januar 1943 erhalten, obwohl in der Anordnung stand, die „Einberufung der gemusterten Dienstpflichtigen zum Arbeitsdienst“ erfolge im Herbst 1942. Er kam nach Liegnitz (pol.: Legnica) in Niederschlesien, im heutigen Polen. Welche Arbeiten er dort verrichten musste, konnte nicht in Erfahrung gebracht werden.

Das Soldbuch (Auszug) von Henri S., das ihm gleichzeitig als Personalausweis an der Front diente
Das Soldbuch (Auszug) von Henri S., das ihm gleichzeitig als Personalausweis an der Front diente Quelle: Familienarchiv

Nach eigenen Angaben bekam Henri S. in Liegnitz im April 1943 den Stellungsbefehl für die Wehrmacht. Aus seinem Soldbuch[4] geht hervor, dass seine persönlichen Angaben in Allenstein am 20. Mai 1943 für richtig befunden wurden und dass er der Stamm-Kompanie des Grenadier-Ersatz-Bataillons 2 (St.Kp./Gren.Ers.Batl.2) angehörte. Dieses Bataillon war unter der Bezeichnung „Infanterie-Ersatz-Bataillon 2“ am 23. August 1939 in der ostpreußischen Stadt Allenstein (pol.: Olsztyn), im Wehrkreis I, aufgestellt worden. Im November 1942 wurde das Bataillon zum „Grenadier-Ersatz-Bataillon 2“ umbenannt und im Februar 1944 zum „Grenadier Ersatz- und Ausbildungsbataillon 2“.[5] Allenstein (Olsztyn) liegt 230 km nördlich von Warschau und 400 km westlich von Lida im heutigen Belarus.

Henri S. war mehrfach erkrankt oder verwundet. Bereits am 8. Dezember 1943 wurde ihm das „Verwundetenabzeichen in Schwarz“ verliehen.[6] Nach eigenen Angaben induzierte er sich künstlich mithilfe von Pikrinsäure eine Gelbsucht.[7] Einer früheren Einberufung entzog er sich auf diese Weise, da er im „Sacré-Coeur“ behandelt werden musste. Eine weitere Gelbsucht ist in seiner Personenkarteikarte mit dem Datum 13. April 1944 vermerkt.[8] Er bekam deshalb öfters Genesungsurlaub in Luxemburg. Er verwundete sich durch einen Schuss in den rechten Fuß selbst[9] und tauchte bei seinem letzten in seinem Soldbuch vermerkten Genesungsurlaub, der ihm vom 27. August bis zum 5. September 1944 gestattet worden war, bis zur Befreiung Luxemburgs durch die Amerikaner am 10. September 1944 bei einer Familie in Rammeldingen bei Hostert unter. Über den untersten Dienstgrad „Grenadier“ (Infanterist) war Henri S. nicht hinausgekommen. Nach eigener Angabe habe er mehrmals die Möglichkeit gehabt, im Rang aufzusteigen, jedoch verweigerte er dies bzw. unternahm er keine Anstrengungen dazu.

Lida, Weißrussland

Anfang Juni 1943 wurde Henri S. mit seiner Einheit nach Lida in Weißrussland in Marsch gesetzt. Nach unzähligen Massakern an der jüdischen Bevölkerung, die durch deutsche Polizei- und Wehrmachtkräfte seit der Invasion der Sowjetunion im rückwärtigen Heeresgebiet mithilfe lokaler Hilfswilligen durchgeführt worden waren, wurden im Sommer 1943 alle noch bestehenden jüdischen Ghettos im Reichskommissariat Ostland (Baltikum und Teile Weißrusslands) liquidiert. Dies hatte der Reichsführer-SS und Chef der deutschen Polizei, Heinrich Himmler, am 21. Juni 1943 in der Feldkommandostelle Hochwald so angeordnet. Die (arbeitsfähigen; Anm. d. Verf.) Ghettobewohner sollten in Konzentrationslager (KZ) deportiert werden. „Jeder Arbeitseinsatz von Juden außerhalb der KZ war ab dem 1. August 1943 verboten.“[10]

Von Himmlers Anordnung waren die Ghettos in Riga, Schaulen (Šiauliai), Kaunas, Wilna (Vilnius), Lida und Minsk betroffen. In diesen Ghettos sollen im Juli 1943 insgesamt noch 72.000 jüdische Menschen gelebt haben. Im Ghetto von Lida sollen es 7.500 gewesen sein.[11]

Die arbeitsfähigen männlichen Juden aus den betroffenen Ghettos sollten mehrheitlich „in den KZ im estnischen Ölschiefergebiet eingesetzt werden“. „Nicht arbeitsfähige Juden seien nach dem Osten zu evakuieren‘ – so die Formel der SS für den Massenmord“.[12] Da zu diesem Zeitpunkt die Vernichtungslager Treblinka, Sobibor und Majdanek im als „Generalgouvernement“ bezeichneten Teil des besetzten Polens noch auf Hochtouren liefen, wurden die Todeskandidaten in der Regel nicht mehr durch Massenerschießungen hingerichtet, sondern in diese Vernichtungslager deportiert, wo sie sofort nach Ankunft den Gaskammern zugeführt wurden.

Luxemburg unter dem Hakenkreuz. Gauleiter Gustav Simon (1. Reihe, M.) inspiziert eine Truppe. Der in zivil gekleidete Mann (2. Reihe) ist der Hauptkollaborateur Luxemburgs, Professor Damian Kratzenberg, Landesleiter der Volksdeutschen Bewegung. Nach dem Krieg wurde Kratzenberg zum Tode verurteilt und hingerichtet. Fotograf unbekannt.
Luxemburg unter dem Hakenkreuz. Gauleiter Gustav Simon (1. Reihe, M.) inspiziert eine Truppe. Der in zivil gekleidete Mann (2. Reihe) ist der Hauptkollaborateur Luxemburgs, Professor Damian Kratzenberg, Landesleiter der Volksdeutschen Bewegung. Nach dem Krieg wurde Kratzenberg zum Tode verurteilt und hingerichtet. Fotograf unbekannt.  Foto: United States Holocaust Memorial Museum

Eine solche Evakuierung bzw. Zwischendeportation in ein anderes Ghetto oder in ein KZ beschreibt Henri S. 40 Jahre nach den Ereignissen. Diese müssen so traumatisch gewesen sein, dass sie ihm keine Ruhe ließen und er sie auf drei Schreibmaschinenseiten niederschrieb. Henri S. sandte seinen Bericht 1981 an Simon Wiesenthal nach Wien.[13] Der Gedanke, gegen seinen Willen in irgendeiner Form an der Judenvernichtung beteiligt gewesen zu sein, quälte ihn zeitlebens und er wollte durch diesen Schritt ganz klar zur Aufklärung beitragen. Durch Zufall fiel dieser wichtige Zeitzeugenbericht lange nach Henri S. Tod seiner Tochter bei der Durchsicht eines Buches in die Hände. In der Folge soll nun dieser Bericht mit der Genehmigung der Familienangehörigen von Henri S. hier integral wiedergegeben werden. Orthografie und Interpunktion wurden beibehalten, nur Tippfehler sind verbessert worden.

Henri S. (r.) mit einem Wehrmachtkameraden. Aufgenommen in Wilna (Vilnius), 1943. Fotograf unbekannt. 
Henri S. (r.) mit einem Wehrmachtkameraden. Aufgenommen in Wilna (Vilnius), 1943. Fotograf unbekannt.  Quelle: Familienarchiv

Zeugenbericht über die Räumung des Ghettos bei Lida

von Henri S., Remich/Luxemburg

„Unter all den Greueln, die ich während der mir aufgezwungenen Dienstzeit in der Wehrmacht erlebte, dominiert in meiner Erinnerung die Judenverfolgung. Nach einer dreimonatigen Arbeitsdienstzeit in Liegnitz (Schlesien) kam ich mit einigen Luxemburgern, die alle nicht freiwillig waren zur Ausbildung nach Allenstein in Ostpreussen. Bekanntlich mussten wir Luxemburger gegen diejenigen in den Krieg ziehen, die wir sehnlichst als unsere Befreier erwarteten.

Am 6. Juni 1943 wurde unsere Einheit nach Lida in eine polnische russische Kaserne verlegt. Am äussersten Ende des grossen Kasernenhofes an einem Waldrand, befanden sich damals schon zwei grosse, etwa ein Meter hohe, flache Hügel. Es waren Massengräber von Juden, die dort erst kurz vorher erschossen worden waren. Die genaue Zeit dieser Hinrichtungen erfuhren wir nicht, da die Soldaten, die zu jener Zeit in derselben Kaserne lagen, zur Front abgerückt waren. Es wurde uns lediglich gesagt, bei den Übungen nicht über diese Hügel zu laufen oder zu kriechen.

Anm. d. Verf.: Hier sind möglicherweise die Massenerschießungen vom 8. Mai 1942 in Lida gemeint. Der in diesem Beitrag mehrfach erwähnte Autor Wolfgang Curilla beschreibt im Detail, wie dieser grausame Massenmord vonstattenging. Er fasst zusammen: „Insgesamt wurden am 8.5.1942 in Lida hinter dem Kasernengelände an 3 großen Gruben mindestens 5.670 jüdische Männer, Frauen und Kinder erschossen.“[14]

Wir blieben den ganzen Sommer 1943 in Lida. Während etwa vier Wochen kamen wir auf einen Stützpunkt in der Nähe von Lida. Wir sollten eine Eisenbahnbrücke die über einen Fluss führte, vor den Angriffen der Partisanen schützen. In der Stadt traf man noch öfters meist ältere Juden an, die mit dem gelben Stern gezeichnet, frei spazieren gingen. Von einem Judenghetto in Lida selbst, sahen, hörten und wussten wir nichts.

Anm. d. Verf.: Da ab dem 1. August 1943 Juden nicht mehr außerhalb von Konzentrationslagern angetroffen werden durften, ist davon auszugehen, dass sich der hier erwähnte Antipartisaneneinsatz im Juni oder Juli 1943 abspielte.

Eines Abends kehrten wir von einem mehrtägigen Einsatz gegen Partisanen zurück. Wir waren froh, wieder in einem Bett schlafen zu können. Gegen Mitternacht aber wurden wir herausgepfiffen. Der Befehl lautete: „Um ein Uhr steht die Kompanie marschbereit im Hof“.

Wir marschierten aus der Stadt heraus im Glauben es handele sich wieder um Partisanen oder es gälte erneut einen Wald zu durchkämmen. Nach einem langen Marsch bis gegen 3 Uhr morgens wurde Halt gemacht. In der beginnenden Morgendämmerung erkannten wir ein Dorf, welches mit hohem Stacheldraht umgeben war. Unser Kompaniechef teilte uns mit, dass es ein Lager von Juden sei. Diese sollten umgesiedelt werden. Wir wurden in Schützenreihe auseinandergezogen und umstellten das Dorf. Um Fluchtversuche zu verhindern hatten wir Befehl sofort zu schiessen. Für uns Luxemburger war das eine Ungeheuerlichkeit. Wir hatten noch nie auf Menschen geschossen und wollten es auch jetzt nicht auf wehrlose Juden tun. Im Gegenteil gaben wir uns das Wort, keine Fluchtversuche zu bemerken.

Im Dorf fielen noch in der Nacht die ersten Schüsse. Jammern und Weinen wurde übertönt von teutonischem Gebrüll. Als es heller wurde konnten wir sehen dass aus den Häusern Gruppen von Menschen kamen. Mit Koffern. Paketen oder Kleiderbündeln bepackt, begaben sie sich mühselig zu einem Sammelplatz. Dort warteten sie stundenlang unter einer drückenden Sonne. Die ganze Zeit waren Schüsse zu hören. Mit meinem Freund Henri T. aus Niederfeulen wagte ich mich ins Ghetto hinein. Wir betraten einige Häuser in denen ein chaotisches Durcheinander herrschte, Schränke und Schreine waren durchwühlt. Wäsche, Kleidungsstücke und Küchengeschirr lagen am Boden herum. Die Bewohner hatten in einer panikartigen Hetze unter den Todesdrohungen der Kommandos des Sicherheitsdienstes ihre Habseligkeiten, die sie mitnehmen durften gepackt, um zur Sammelstelle zu gehen. Das brutale Vorgehen der SS ekelte uns an, aber wir konnten nicht helfen. Die wartenden Ghettobewohner plagte der Durst, doch sie durften nicht zurück in ihre Häuser oder zum Brunnen. Mit zwei weiteren Luxemburgern die sich zu uns vorgewagt hatten (Martin T. aus Schieren und Eugen T. aus Grevenmacher) schafften wir Trinkwasser zum Sammelplatz. Nach einiger Zeit verbot uns die SS unsere Hilfsaktion und wir mussten wieder vor das Tor, zu unserer Gruppe.

Anm. d. Verf.: Hier nahmen die Luxemburger offensichtlich ein großes Risiko auf sich, da es strengstens verboten war, Juden in irgendeiner Weise behilflich zu sein.

Inzwischen hatte es sich herumgesprochen dass Kleinkinder, Altersschwache und Kranke am anderen Ende des Lagers erschossen wurden, denn es fielen immer noch Schüsse.

Anm. d. Verf.: Es bestand der allgemeine Befehl bei allen deutschen Gewaltorganisationen, im Falle einer Ghettoräumung nicht-gehfähige jüdische Personen an Ort und Stelle zu erschießen. Die Bettlägerigen wurden in ihren Betten erschossen. Es bestand auch der allgemeine Befehl, Flüchtende zu erschießen.

Erst im Laufe des Nachmittags kam Bewegung ins Lager. Ein langer Zug wurde aufgestellt und eine erschöpfte Menschenherde wurde abgeführt. Der Zug bewegte sich in Richtung Lida. Wir die Soldaten der Wehrmacht, bildeten die Eskorte.

Ich befand mich mit den anderen Luxemburgern und einigen Lothringern die dasselbe empfanden wie wir, ganz am Ende des Zuges. Unterwegs unterhielten wir uns mit den Juden und sprachen ihnen vom nahen Ende des verlorenen Krieges. Viele Juden sprachenfliessend Deutsch oder sogar Französisch. Die Frage, wo sie hingeführt würden, konnten wir nicht beantworten, denn das wussten wir so wenig wie sie. Die motorisierte SS war dem Zug voraus nach Lida gefahren. Es war schon gegen Abend, als wir am Bahnhof ankamen. Unterwegs hatten Einzelne die Gelegenheit benutzt zu fliehen. Wir rieten es ihnen zu verschwinden und boten ihnen die Gelegenheit zur Flucht. Wir rückten nämlich ganz einfach weiter nach vorn und sahen nicht mehr, was hinter uns geschah.

Ein langer Eisenbahnzug mit Viehwagen stand im Bahnhof bereit. Etwa 80 Menschen wurden mit ihren Gepäckbündeln in jeden Wagen gezwängt, bevor die Tür geschlossen wurden. Hierbei gab es wieder grausame Szenen. Zwei Männer und ein blutjunges Mädchen wurden auf dem Bahnhof erschossen. Ein jüdischer Arzt kniete vor einem Verletzten und behandelte seine Schusswunde.

Während die Viehwagen gefüllt wurden liefen die Männer der SS geschäftig hin und her. Eine Gruppe Offiziere von Wehrmacht und SS stand breitspurig da und redete herrenmenschlich miteinander, zufrieden über die vollbrachte Leistung.

Wohin dieser Transport führte, der ja nur einer von vielen war, haben wir nie erfahren. Ich kann keine Namen der Mörder und keine genaue Zahl der Opfer nennen, nicht einmal das genaue Datum.

Es geschah im Sommer 1943 aber nach 40 Jahren quält mich noch die Erinnerung. Das Leid dieser unglücklichen Menge unschuldiger Menschen kann man nie vergessen.

Henri S.

Bedeutsamer Zeugenbericht

Der Zeugenbericht von Henri S. ist sehr bedeutsam. Um welche Deportation es sich handelte und wohin die Unglücklichen gebracht wurden, ist für die Zwecke dieses Beitrags nicht wesentlich. Dies kann eventuell im Rahmen einer tiefergehenden historischen Erforschung der zu jenem Zeitpunkt im Gebiet Lida stattgefundenen Bewegungen von jüdischen Menschen festgestellt werden. In einem 50 km Umkreis von Lida lagen mindestens sechs weitere jüdische Ghettos: Zoludek (48 km), Wasilischki (38 km), Woronowo auch Voranava (32 km), Iwje (40 km), Schtschutschin (50 km) und Radun (35 km).[15] Ob diese Ghettos allerdings noch alle im Sommer 1943 bestanden, ist unklar.

Es geht bei diesem Beitrag darum, zu zeigen, dass es, wenn man einer Armee angehört, die einen verbrecherischen Krieg führt, es nicht unwahrscheinlich ist, mit Verbrechen konfrontiert beziehungsweise an ihnen beteiligt zu werden. Nur wenige Luxemburger Zwangsrekrutierte oder Angehörige der deutschen Polizei haben sich zu diesem Aspekt des Zweiten Weltkriegs – dem Rassenkrieg, der zeitgleich mit dem territorialen Eroberungskrieg im Osten ablief – geäußert. Und doch waren die an der Ostfront eingesetzten Wehrmachtsoldaten angehalten, nicht nur Eroberungskrieger, sondern auch Ausführer des vom NS-Staat geführten Rassenkrieges zu sein. Als Beispiel kann hier der Befehl vom 10. Oktober 1941 des Oberbefehlshabers der im Osten eingesetzten 6. Armee, Generalfeldmarschall von Reichenau, angeführt werden. Er wies die im „Ostraum“ eingesetzten Soldaten an, „nicht nur Kämpfer nach den Regeln der Kriegskunst“ zu sein, „sondern auch Träger einer unerbittlichen völkischen Idee“. Deshalb müsse der Soldat „für die Notwendigkeit der harten, aber gerechten Sühne am jüdischen Untermenschentum volles Verständnis haben“.[16]

Wehrmacht-Angehörige überwachen jüdische Zwangsarbeiter beim Beladen eines LKW mit Munitionskisten, Izbica, Juli 1941. Fotograf unbekannt.
Wehrmacht-Angehörige überwachen jüdische Zwangsarbeiter beim Beladen eines LKW mit Munitionskisten, Izbica, Juli 1941. Fotograf unbekannt. Foto: United States HolocaustMemorial Museum

Wenn die Luxemburger Kriegsbeteiligten überhaupt über ihre Kriegserfahrungen sprachen, dann erwähnten sie meistens die Einsätze gegen Partisanen, die ja eigentlich die De-facto-Alliierten der Luxemburger Resistenzler waren. Diese kämpften gegen den Aggressor Nazi-Deutschland. Der Höhepunkt des Partisanenkampfes im Osten fand Curilla zufolge im Jahr 1943 statt, in dem Jahr also, als tausende junge Luxemburger Zwangsrekrutierte an der Ostfront eingesetzt waren. Curilla schreibt: „Allein 63 Prozent der in weißrussischen Orten durchgeführten Massaker erfolgten 1943. Insgesamt wurden im Partisanenkampf in Weißrussland 627 Dörfer total zerstört, in Litauen 21, in der Ukraine 250. Die Zahl der Menschen, die bei der deutschen Partisanenbekämpfung in Weißrussland ermordet wurden, werden auf 345.000 geschätzt. […] Allein bei 55 Großaktionen wurden mindestens 142.000 Menschen getötet, darunter 14.000 Juden. Kaum mehr als 10 Prozent der gesamten ca. 345.000 Todesopfer sollen tatsächlich Partisanen gewesen sein.“[17]

Schlussbetrachtungen

Im eingangs erwähnten Artikel vom 18. September 2021 wurde gezeigt, dass Wehrmachtverbände vom Beginn des Zweiten Weltkrieges an, also gleich nach der Invasion Polens am 1. September 1939, Massaker an der jüdischen und katholischen polnischen Zivilbevölkerung durchführten. Gleiches gilt für den Russlandfeldzug, der am 22. Juni 1941 begann. Hier wurden nicht nur während der Eroberungsphase unglaubliche Verbrechen unter der militärischen Hoheit der Wehrmacht begangen, sondern ebenfalls während der Rückzugsphase ab März 1943. Der Historiker Pohl schreibt dazu: „Genauso gewalttätig wie die Besetzung gestaltete sich in Osteuropa der Abzug der deutschen Besatzungsmacht. In den sowjetischen Gebieten betrieben deutsche Stellen eine Politik der ‚verbrannten Erde‘, …“.[18]

Im Zusammenhang mit den Massenerschießungen von Juden hinter der Front ist meist nur von den „Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD“, bestehend aus Angehörigen der Sicherheitspolizei (Sipo), des Sicherheitsdienstes (SD), der Ordnungspolizei (Orpo) und der Waffen-SS die Rede. Aber auch Wehrmachtverbände verübten Massaker an der jüdischen Bevölkerung und an den Sinti und Roma und waren an Ghetto-Liquidierungen und Deportationen beteiligt. So stellt Curilla beispielsweise fest: „Um die Monatswende September/Oktober 1941 begann im Generalkommissariat Weißruthenien (Weißrussland) die Vernichtung der Juden auf dem Lande durch die 707. Infanteriedivision und ihr unterstellte Wehrmachtskräfte“.[19] Der Kommandeur der 707. Infanteriedivision, Generalmajor von Bechtolsheim, gab ebenfalls Anweisung, beim Aufgreifen seien „Zigeuner […] sofort an Ort und Stelle zu erschießen“.[20]

Wie wir aus dem Zeugenbericht von Henri S. ersehen können, war die Judenvernichtung noch lange nicht abgeschlossen, als die Luxemburger Zwangsrekrutierten an die Ostfront gelangten (ca. ab März 1943). Im Gegenteil, zu dem Zeitpunkt lief die totale „Ausrottung“ in den Vernichtungslagern im Generalgouvernement (Aktion Reinhard) sowie u.a. im Lager Auschwitz-Birkenau, das an der Grenze zum Generalgouvernement, in Oberschlesien, also im Reichsgebiet, lag.

Der größte Feind der von den Nationalsozialisten imaginierten deutsch-arischen Herrenrasse war „der Jude“. Auf der niedrigsten Stufe der imaginierten Untermenschen angesiedelt, stellten die Juden doch die größte Gefahr für die imaginierten deutsch-arischen Herrenmenschen dar. Und diese „parasitäre Rasse von Untermenschen“ musste „ausgerottet“ werden, denn nach Auffassung der Nationalsozialisten war es nicht die Religion, welche das Judentum ausmachte, sondern minderwertige jüdische Eigenarten, die über ein unveränderliches, biologisch bestimmtes Erbe von Generation zu Generation weitergereicht werden würden.[21] Deshalb mussten auch alle Kinder getötet werden, weil sie im Erwachsenenalter zu einer großen Gefahr für die Arier werden würden. Hitler hatte es in seiner antihumanistischen Hassschrift „Mein Kampf“ bereits 1925 angemahnt: „Den gewaltigsten Gegensatz zum Arier bildet der Jude“.[22]

Der Bericht von Henri S. ist auch ein Zeugnis dafür, dass junge Luxemburger Männer, die zwangsweise in der Wehrmacht dienen mussten, diesen Rassenwahnsinn ablehnten und ihre Menschlichkeit nicht aufgegeben hatten. Und trotzdem wurden möglicherweise tausende von ihnen Zeugen dieser unvorstellbaren Mordaktionen. Wie viele von ihnen waren, gegen ihren Willen, an solchen Aktionen beteiligt?

Heute, wo die meisten Zwangsrekrutierten bereits gestorben sind, ist es Aufgabe der Geschichtsforschung, auch diesen Aspekt der Luxemburger Geschichte aufzuarbeiten, damit sich nicht noch einmal ein Amalgam zwischen Opfern der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik und gefallenen Luxemburger Angehörigen einer der Haupttäterorganisationen, der Wehrmacht, wiederholt. Die Zwangsrekrutierung war ein Verstoß gegen das internationale Kriegsrecht. Die gefallenen „Jongen“ waren sowohl Opfer eines Kriegsverbrechens als auch Kriegsopfer, aber sie waren keine Opfer des Nationalsozialismus im Sinne der Rassenpolitik. Sie konnten gar nicht Opfer des nationalsozialistischen Rassenkrieges sein, denn sie gehörten aus NS-Sicht der sogenannten „Arier-Rasse“ an.

Rote Punkte: Massenerschießungen von Juden; rote Raute, gelb umrandet: Vernichtungslager
Rote Punkte: Massenerschießungen von Juden; rote Raute, gelb umrandet: Vernichtungslager Karte: mr-kartographie, Gotha, BRD

Fußnoten:
[1] Verordnung über die Arbeitspflicht in Luxemburg vom 23. Mai 1941. In: Livre d’Or des victimes luxembourgeoises de la guerre de 1940 à 1945, Luxembourg 1971, S. 553.

[2] Anordnung über die Arbeitsdienstpflicht der Geburtsjahrgänge 1923 und 1924 vom 5. März 1942. In: Livre d’Or op. cit., S. 555.

[3] Ehemalige Deserteure und Refraktäre, denen geholfen wurde, konnten Ende der 1960er Jahre ein 29-Punkte-Formular ausfüllen, damit ihren Helfern die „Médaille de la reconnaissance nationale“ zuerkannt werden konnte. Henri S. füllte das Formular am 27.7.1968 aus. http://www.ons-jongen-a-meedercher.lu/archives/personnes/schmit-henri/documents (zuletzt aufgerufen am 9.11.2021).

[4] Das Soldbuch war eine Urkunde, die alle wichtigen Angaben über einen Angehörigen der Wehrmacht enthielt. Das Dokument diente dem Soldaten im Kriege als Personalausweis und berechtigte ihn zum Empfang der Gebührnisse (Sold), die ihm zustanden. Das Soldbuch von Henri S. wurde dem Verfasser freundlicherweise von seiner Tochter zur Verfügung gestellt.

[5] Lexikon der Wehrmacht. Verkürzter Link: https://bit.ly/3mPDOKz (zuletzt aufgerufen am 9.11.2021).

[6] Soldbuch op. cit.

[7] www.ons-jongen… op. cit.[

[8] Bundesarchivsignatur: B 563-1 KARTEI/S-713/208.

[9] www.ons-jongen… op. cit. (zuletzt aufgerufen am 17.11.2021)

[10] Vgl. Uhl, Matthias u.a. (Hg.): Die Organisation des Terrors. Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1943-1945, München 2020, S. 323.

[11] Vgl.:(1) Curilla, Wolfgang: Die deutsche Ordnungspolizei und der Holocaust im Balitkum und in Weissrussland 1941-1944, Paderborn 2006, S. 327; (2) Arad, Yitzhak: Ghetto in Flames. The Struggle and Destruction of the Jews in Vilna in the Holocaust, Jerusalem 1980, S. 402 (zitiert in Curilla).

[12] Uhl op. cit.

[13] Ein diesbezügliches Schreiben vom „Dokumentationszentrum des Bundes Jüdischer Verfolgter des Naziregimes“ liegt dem Verfasser vor.

[14] Curilla, S. 886.

[15] Vgl. Curilla, S. 886, Anm. 528.

[16] Das Dokument kann auf der Webseite der Bundeszentrale für politische Bildung unter diesem gekürzten Link eingesehen werden: https://bit.ly/3HiymZ6 (zuletzt aufgerufen am 13.11.2021).

[17] Curilla, S. 742.

[18] Pohl, Dieter: Verfolgung und Massenmord in der NS-Zeit 1933-1945, Darmstadt 2011, S. 147.

[19] Curilla, S. 895.

[20] Curilla, S. 163, Anm. 120.

[21] Vgl.: Opfer der NS-Zeit: Nationalsozialistische Rassenideologie, Holocaust-Enzyklopädie, USHMM, gekürzter Link: https://bit.ly/2Yng8np (zuletzt aufgerufen am 9.11.2021).

[22] Hitler: Mein Kampf. Eine kritische Edition, Band I, München-Berlin 2016, S. 777.

Wieder Mann
28. November 2021 - 12.48

@Lorang:Wir sollten uns endlich der Wahrheit stellen , den Realitäten ins Auge sehen und uns bewusst werden , jeder der im Dienste dieses Unrechtsregime stand , bewusst oder unbewusst, beitrug den Krieg , das Leiden der Opfer zu verlängern, sich mitschuldig am Tod vieler Menschen gemacht hat. Jeder der im Dienste dieses Unrechtsregime stand hatte die Wahl sich zu entscheiden dem Unrecht zu dienen oder sich dagegen zu wehren . Ob in Deutschland ,….. ,…,…,Luxemburg haben Menschen , in vollem Bewusstsein welche Konsequenz solch Entscheidung für das eigene Leben, das ihrer Familien hat,sich dem Unrechtsregime entzogen, Widerstand geleistet.

Henri Juda
28. November 2021 - 7.47

jetzt bin ich mal gespannt auf das nächste "Treibjagd" -Communiqué der Fédération des Enrôlés de Force, victimes du nazisme et du judéo bolchévisme Vor 5 Jahren erschüttete deren Präsident die erstaunte Welt , mit der tiefgründigen Mitteilung , dass er das Comité pour la Mémoire de la 2 Guerre Mondiale verlassen würde , wegen "Machenschaften" die darin bestünden , dass ein Vertreter der Shoahopfer und Historiker die Rolle Luxemburger Zwangsrekrutierter in den Judenmorden hinterfragten . Im gleichen Kontext hatte er auf einem Kongress antisemitische Sprüche geklopft für die er dann vom Regierungsrat demissioniert wurde. Entschuldigt hat er sich bis dato nicht , darf aber im Gegenteil am 10.Oktober 2021 behaupten Zwangsrekrutierte wären "deportiert" worden

Robert Hottua
28. November 2021 - 3.38

Mir ist eine sinnentstellende Formulierung unterlaufen. Es muß heißen: ... Es ging um die Vernichtung von Psychiatriepatienten und von von den international agierenden Eugenikern als "minderwertig und erblich belastet" eingestuften "Asozialen". ... MfG Robert Hottua

Robert Hottua
27. November 2021 - 19.42

Guten Tag Herr Lorang, 1920 haben der Jurist Binding und der Psychiater Hoche das in der ganzen Welt diskutierte Buch "Die Vernichtung lebensunwerten Lebens" geschrieben. Es ging um die Vernichtung von Psychiatriepatienten und von von den international agierenden Eugenikern als erblich belasteten minderwertigen "Asozialen". Lothrop Stoddard und Madison Grant, US-Eugeniker, schrieben zur selben Zeit Bibeln der Nazis: "Der Untergang der großen Rasse" und "The Rising Tide of Color Against White World-Supremacy". Juden wurden von Stoddard&Grant als gefährliche Bastard-Rasse bezeichnet. Die darwinsche Gleichsetzung von Menschen mit Tieren ermöglichte ab 1850 ein internationales züchterisches Denken und Handeln nach dem dekalogfreien Konzept von Wert und Unwert. Aus diesen historischen Tatsachen ergeben sich auch für den luxemburgischen Rechtsstaat erhebliche, bis heute tabuisierte Konsequenzen. MfG Robert Hottua