GastbeitragDeshalb brauchen wir eine globale Verfassungsrevision

Gastbeitrag / Deshalb brauchen wir eine globale Verfassungsrevision
 Archivfoto: Editpress/François Aussems

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Unsere Verfassung verkündet und garantiert Grundrechte und Freiheiten, sie legt die Staatsform fest, bestimmt die staatlichen Institutionen, regelt deren Funktionen und Verhältnis untereinander. Das „Grundgesetz“ definiert die drei Staatsgewalten (Exekutive, Legislative und Judikative) und legt fest, wie sie zueinander stehen. Es gibt keinen Staat ohne Verfassung. Sie ist die höchste nationale Rechtsnorm. Sämtliche Gesetze und Regierungsbeschlüsse müssen konform zum Verfassungstext sein. Seit 1999 obliegt es dem Verfassungsgerichtshof zu kontrollieren, ob eine Gesetzesbestimmung der Verfassung entspricht. Ein verfassungswidriger Gesetzestext kommt in der Regel nicht mehr zur Anwendung. Die Verwaltungsgerichte und die ordentlichen Gerichte befassen im Rahmen eines Prozesses die Verfassungsrichter mit der aufgeworfenen Frage eines möglichen Verfassungsverstoßes.

Es ist demnach in unserem Rechtsstaat von großer Bedeutung, dass der von der Verfassung definierte Rechtsrahmen nicht nur dem internationalen Recht entspricht, sondern auch der gesellschaftlichen und politischen Realität der Gegenwart. Als Rechtsnorm muss sie vollständig und präzise formuliert sein, frei von Widersprüchen. Luxemburg braucht einen Verfassungstext, der diesen Ansprüchen gerecht wird und ins 21. Jahrhundert passt.

Die Verfassung anpassen, ein ständiger Prozess

Trotz rund 40 mehr oder minder wichtigen Verfassungsänderungen seit 1868 geht unser Verfassungstext in seiner Substanz auf das 19. Jahrhundert zurück. Als Modell fungierte damals die Verfassung Belgiens aus dem Jahr 1831. Die Formulierung des Kapitels der Grundrechte, die Definition der Rolle des Monarchen, die Behandlung der Regierung, die Rolle des Parlaments: in diesen Texten spiegeln sich mehrheitlich Konzepte und Ideen der Mitte des 19. Jahrhunderts wider, die immer weniger mit den Mentalitäten von heute und besonders auch mit der institutionellen Praxis der letzten Jahrzehnte zu tun haben. Es gibt nichts Riskanteres für einen Rechtsstaat, wenn Gesetzestexte und Wirklichkeit auseinander driften.

Erste Versuche, unseren veralteten Verfassungstext grundlegend zu erneuern, gehen auf die Mitte der 1980er-Jahre zurück. Politische Ränkespiele und die Angst vor Veränderungen haben damals eine globale Revision verhindert und bloß zu einigen punktuellen Änderungen geführt. In diesem Rhythmus ging es auch die nächsten Jahre weiter. Wenn in einem Punkt aufgrund von internationalen Verpflichtungen oder nationalen Begebenheiten Druck entstand, wurde gehandelt und punktuell abgeändert.

1999 sollte alles anders werden, innerhalb von fünf Jahren sollte ein überarbeiteter Verfassungstext verabschiedet werden, durch Referendum gutgeheißen. Dies entpuppte sich als Wunschdenken. Es blieb aber vorerst bei der Revision einiger Artikel. Erst 2005 begann das Parlament im zuständigen Ausschuss konkret an einer globalen Verfassungsrevision zu arbeiten. Diese Ausschussarbeiten führten zum Revisionsvorschlag von 2009, kurz vor Ende der damaligen Legislaturperiode. Drei Jahre später erst legte der Staatsrat sein Gutachten vor, welches die weiteren Arbeiten im Parlament nicht unwesentlich beeinflussen sollte. Eine hohe Zahl von Stellungnahmen verschiedener Institutionen und der Zivilgesellschaft sind in die Arbeiten zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung eingeflossen. Es kam immer wieder, auch aufgrund des Gutachtens der „Venedig-Kommission“ des Europarates, zu Anpassungen des Revisionstextes mit dem Ziel aufgrund eines parteiübergreifenden Konsenses einen möglichst weitreichenden Text zu verfassen. Der Willen zur Reform und zum Kompromiss war über weite Strecken der Diskussion präsent.

Von Anfang an waren die in der Diskussion befindlichen Textversionen nie das Werk einer Person oder einer Partei. Auch wurden diese Arbeiten in völliger Transparenz durchgeführt und von der Presse regelmäßig verfolgt und kommentiert. Der Revisionsvorschlag ist das Ergebnis einer kollektiven Anstrengung im zuständigen Parlamentsausschuss gewesen, der sicherlich von der einen oder anderen Persönlichkeit stärker geprägt worden ist, aber im Endeffekt auf dem gemeinsamen Willen von CSV, LSAP, DP und den Grünen beruht, dieses Reformprojekt voranzutreiben. Déi lénk haben mitdiskutiert und ihren eigenen Gegenvorschlag ausgearbeitet. Sie haben sich 2018 bei der finalen Abstimmung zum Verfassungsentwurf enthalten, mit der Präzision, dass sie diesen von den aktuellen Koalitionsparteien und der CSV gestützten Vorschlag, trotz einiger Mängel, als eine Verbesserung zur bestehenden Verfassung einschätzen. Die ADR hat über diese ganze Periode nicht wirklich versucht, sich richtig in die Debatte einzubringen und sich streckenweise völlig desinteressiert gezeigt.

Der Versuch, den Revisionsprozess partizipativ zu gestalten

Im September 2014 wurden im Rahmen der laufenden Verfassungsarbeiten sämtliche Fraktionen aufgefordert, zusätzliche Fragen vorzuschlagen, die per Referendum den Wählern vorgelegt werden würden. Weder die CSV, noch die ADR machten damals Vorschläge. Der Vorschlag der Linke, die Frage der Monarchie oder der Republik zu stellen, wurde nicht zurückbehalten, unter anderem weil sich je nach Antwort zusätzliche Fragen stellen, auf die es dann wiederum keine klare Antwort gibt. Eine Referendumsfrage muss Klärung schaffen, präzise formuliert sein und nicht eine Spirale von verschiedenen Deutungen und Debatten auslösen, die ins Nichts münden. Es blieb deshalb bei den drei von den Koalitionsparteien vorgeschlagenen Referendumsfragen zur neuen Verfassung.

Anlässlich der Referendumskampagne wurde die Debatte und die Information auf den damals vorliegenden Revisionsentwurf ausgedehnt. Die LSAP ließ den Verfassungsentwurf in luxemburgischer Sprache an sämtliche Haushalte verteilen. Über www.ärvirschléi.lu haben knapp 150 Bürger Vorschläge zur Verfassungsrevision dem Parlament unterbreitet. Nach einem öffentlichen Hearing und insgesamt zwölf Ausschusssitzungen wurden schließlich acht Abänderungsanträge am Entwurf gutgeheißen. Neue Grundrechte wurden eingefügt, andere Punkte wurden umformuliert. Im Rahmen eines wissenschaftlichen Projektes in Zusammenarbeit mit der Universität Luxemburg wurden im Juli 2016 Diskussionen mit repräsentativen Bürgerpanels geführt, um die inhaltliche Richtung und die Verständlichkeit der Verfassungsreform zu überprüfen. Die Reaktionen waren positiv, die Studie wurde öffentlich gemacht.

Der erste Teil der Reform: das Justizwesen

Am 6. Juni 2018 wurde mit den Stimmen von CSV, LSAP, DP und Grünen der Abschlussbericht zum Textvorschlag (proposition de révision portant instauration d’une nouvelle Constitution, document parlementaire n°6030) über eine neue Verfassung verabschiedet.

Dieser Text sollte nach der Abstimmung im Parlament per Referendum endgültig verabschiedet werden. Im Sommer 2019 hat die CSV einseitig den Verfassungskonsens aufgekündigt. Der Grund dieser politischen Kehrtwende war rein taktischer Natur. Die kurzfristigen Parteiinteressen hatten offensichtlich Vorrang vor den Landesinteressen. Nach zähen Verhandlungen wurde sich im Dezember 2019 darauf geeinigt, die wichtigsten Reformpunkte – rund 30 wurden aufgelistet – in Form von Änderungen zum bestehenden Verfassungstext zu retten. Gleichzeitig wurde von den Unterstützern der Reform entschieden, dies in vier Etappen zu tun und von einem Referendum abzusehen.

In diesem Sinne wurde dann auch weiter an der Modernisierung der Verfassung gearbeitet. Der erste Teil der Reform, der das Kapitel Justiz betrifft, wurde am 20. Oktober 2021 von der Abgeordnetenkammer mit 2/3 Mehrheit in einem ersten Votum gutgeheißen. Nach frühestens drei Monaten kommt es zu einem zweiten, endgültigen Votum im Parlament, es sei denn, es finden sich bis zum 20. Dezember 2021 genügend Abgeordnete oder Wählerunterschriften, um die zweite Abstimmung im Parlament durch einen Volksentscheid zu ersetzen, so wie es Artikel 114 der Verfassung vorsieht.

Im Kapitel Justiz wird die Unabhängigkeit der Justiz, sowohl der Richter als auch der Staatsanwaltschaft verfassungsmäßig garantiert. Ein nationaler Justizrat, mehrheitlich – aber nicht exklusiv – aus Richtern zusammengesetzt, gewährleistet das ordentliche Funktionieren des Gerichtswesens und steht ein für eine transparente und unabhängige Justiz. Dieser Rat ist allein für die Nominierung und die Disziplin der Richter zuständig. Jeder Versuch, politischer Einflussnahme auf das Gerichtswesen und die Rechtssprechung ist somit zum Scheitern verurteilt. Die Rechte der Bürger in Bezug auf eine faire Behandlung im Fall von Justizverfahren werden bekräftigt. Der Verfassungsgerichtshof erhält zusätzliche Befugnisse.

Mit dieser Verfassungsänderung wird die Rechtsstaatlichkeit deutlich gestärkt. Ein nicht leugbarer Fortschritt gegenüber der bestehenden Verfassung. Ähnliche demokratiegefährdende Entwicklungen wie zurzeit in Ungarn oder in Polen zu beobachten sind somit ausgeschlossen. Eine politisch unabhängige Justiz und eine freie Presse sind und bleiben die besten Garanten für eine offene und freie Gesellschaft, ein starker Schutz gegen die Willkür einer zu hohen Machtkonzentration im Staat.