PolenStreit wegen Urteil über EU-Recht geht weiter

Polen / Streit wegen Urteil über EU-Recht geht weiter
Der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki (r.) und die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (2.v.r.) kamen sich gestern im Europäischen Parlament nicht näher Foto: AFP/Ronald Wittek

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Die großen europäischen Institutionen waren gestern mit der Krise der Rechtsstaatlichkeit in Polen beschäftigt. In Straßburg debattierte das Europäische Parlament (EP) mit dem polnischen Regierungschef Mateusz Morawiecki im Beisein der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen über ein umstrittenes Urteil des polnischen Verfassungsgerichts zum Vorrang des EU-Rechts. In Luxemburg führten die EU-Europaminister eine Diskussion über die Rechtsstaatlichkeit mit besonderem Augenmerk auf Polen.

Quasi seit ihrem ersten Regierungsmandat Ende 2015 liegt die national-konservative polnische PiS-Partei mit der EU-Kommission über Kreuz. Nach dem Vorbild ihrer Gesinnungsgenossen der ungarischen Regierungspartei Fidesz setzte sich die PiS-Regierung daran, das Justizsystem – und nebenbei auch die Medienlandschaft – im Lande ihren Vorstellungen entsprechend umzubauen. So sehr, dass sich die EU-Kommission gezwungen sah, einzugreifen. Denn die in Warschau entworfene Justizreform stand von Beginn an im Widerspruch zu den in der EU geltenden rechtsstaatlichen Prinzipien. Im Juni und Juli urteilte der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg zu gleich zwei Klagen, die von der EU-Kommission gegen diese Reform eingereicht wurden. In beiden Fällen gegen die Regierung in Polen. Woraufhin der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki sein Verfassungsgericht mit der Frage befasste, was Vorrang habe: polnische Verfassungsbestimmungen oder EU-Recht. In der ersten Oktoberwoche urteilten die obersten Richter des Landes, dass Teile der EU-Verträge nach polnischem Recht verfassungswidrig seien und demnach polnisches Recht vor EU-Recht gehe. Damit war die Krise perfekt.

Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki verteidigte gestern dieses Urteil während einer teils lebhaften Debatte vor den EU-Parlamentarier in Straßburg und verwies darauf, dass die obersten Gerichte auch anderer EU-Staaten bereits zu ähnlichen Feststellungen gekommen seien. Die hätten ebenfalls festgestellt, dass sich die EU Kompetenzen anmaße, die ihr nicht zustünden. Das würde zum Teil auch über die Urteile des EuGH geschehen, so Morawiecki, der darauf bestand, dass das höchste Gericht in Polen „das letzte Wort“ haben müsse.

Das wird unter anderem von der EU-Kommission anders gesehen, deren Chefin sich „zutiefst besorgt“ über die strittige Angelegenheit zeigte. Ursula von der Leyen ging in die Offensive und zählte Morawiecki auf, was sie alles gegen das strittige Urteil unternehmen könne: Neben einem Vertragsverletzungsverfahren könnte die Kommission erstmals – und wie bereits seit Monaten von den EP-Abgeordneten gefordert – den sogenannten Rechtsstaatsmechanismus zum Schutz des EU-Haushalts aktivieren. Damit könnte die Brüsseler Behörde für Polen bestimmte EU-Gelder zurückhalten, da wegen Mängeln bei der Rechtsstaatlichkeit im Land ein Missbrauch der finanziellen Zuwendungen aus dem EU-Haushalt nicht ausgeschlossen werden könnte. Die luxemburgische EU-Parlamentarierin Isabel Wiseler-Lima war eine von vielen Rednerinnen während der Debatte, die dafür plädierten, dass die über 30 Milliarden Euro an Hilfen und Krediten aus dem Corona-Wiederaufbaufonds für Polen einstweilen nicht freigegeben werden.

Morawiecki gegen „Bedrohung und Erpressung“

Als dritte Maßnahme nannte Ursula von der Leyen ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrages, an dessen Ende der Entzug des Stimmrechts in der EU für die polnische Regierung stehen würde. Allerdings hat die EU-Kommission im Dezember 2017 den Rat der Mitgliedstaaten dazu aufgefordert, festzustellen, „dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Rechtsstaatlichkeit durch die Republik Polen besteht“. Seitdem ist im zuständigen Rat für allgemeine Angelegenheiten nichts passiert, unter anderem da Ungarns Regierungschef Viktor Orban der Regierung in Warschau seine Unterstützung zugesagt hat und solche Fälle nur mit Einstimmigkeit vorangebracht werden können.

Dennoch, Mateusz Morawiecki sieht seine Regierung und Polen „ungerechtfertigten und parteiischen Angriffen“ ausgesetzt. Er weise „die Sprache der Bedrohung und Erpressung“ zurück, die manche Mitgliedstaaten bereits zur Methode erhoben hätten. Polen würde zur Rechtsstaatlichkeit stehen und habe auch nicht vor, die EU zu verlassen, versicherte der PiS-Regierungschef. „Kann man unter dem Vorwand der Rechtsstaatlichkeit etwas von einem Mitgliedstaat einfordern, was nicht in den Verträgen steht?“, fragte er und meinte, dass lediglich eine Interpretierung mancher Vertragsregeln gegen die polnische Verfassung verstoße. Die Kommissionspräsidentin wieder wies auf den Ernst der Situation hin: „Es ist ein einmaliger Vorgang, dass ein Verfassungsgericht eines Mitgliedstaates Artikel des europäischen Vertrages infrage stellt. Das trifft mitten ins Mark der Rechtsstaatlichkeit. Das hat es so noch nicht gegeben.“

Es ist ein einmaliger Vorgang, dass ein Verfassungsgericht eines Mitgliedstaates Artikel des europäischen Vertrages infrage stellt. Das trifft mitten ins Mark der Rechtsstaatlichkeit. Das hat es so noch nicht gegeben.

Ursula von der Leyen, EU-Kommissionspräsidentin

Wie die Brexiteers

Außer von den Rechtsextremen und Nationalisten im Parlament erhielt die Kommission von allen Fraktionen Unterstützung. „Die Hausordnung der EU ist wichtiger“, sagte etwa der EVP-Fraktionsvorsitzende Manfred Weber, der Morawiecki unter anderem vorhielt, dass sich der russische Präsident Wladimir Putin über den von Warschau losgetretenen Streit in der EU freue. „Seit Jahren vergiften sie das polnische Volk mit Lügen“, meinte der Fraktionsvorsitzende der Liberalen, Malik Azmani, während dessen Pendant bei den Sozialdemokraten, Iratxe Garcia Perez der polnischen Regierung vorwarf, den Weg des „Rückschritts und des Autoritarismus gewählt“ zu haben. Der EP-Abgeordnete Guy Verhofstadt wies seinerseits darauf hin, dass gerade die Artikel 1 und 19 des EU-Vertrags, die laut dem Urteil des Obersten Gerichts in Polen unvereinbar mit der Verfassung seien, von den Brexiteers angeführt worden seien, um den Austritt aus der EU zu begründen. Die PiS-Regierung würde daher das Land und die Bevölkerung „einer existenziellen Bedrohung“ aussetzen, so der belgische Liberale.

In Luxemburg beschäftigten sich am Dienstag auch die EU-Europaminister mit dem polnischen Fall, während sie den am Donnerstag beginnenden EU-Gipfel vorbereiteten. Demnach dürften ebenfalls die EU-Staats- und Regierungschefs das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts auf der Tagesordnung haben. Einige EU-Staaten haben sich bereits dazu in Stellung gebracht. So plädiert Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn, für Polen vorgesehene EU-Gelder vorläufig nicht freizugeben. Auch andere Minister sprachen sich für ein schärferes Vorgehen gegen die Regierung in Warschau aus.