Jugendschutz-SerieKein Männerhass, sondern Gesellschaftskritik: Facetten des Sexismus

Jugendschutz-Serie / Kein Männerhass, sondern Gesellschaftskritik: Facetten des Sexismus
Frauenstreik im März 2021 in Luxemburg-Stadt Foto: Editpress-Archiv/Anouk Flesch

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Jahrelang konnte ein Lehrer des LCD ungestört seinen Schüler*innen private Nachrichten schicken. Die Schule lehnt ab, von den Vorwürfen gewusst zu haben und die Betroffenen berichten von ergebnislosen Bitten nach Hilfe. Teil drei unserer Jugendschutz-Serie: Ein Gespräch mit den Frauenrechtsexpertinnen Isabelle Schmoetten und Claire Schadeck über strukturellen Sexismus.

„Haben wir die Gleichberechtigung nicht schon längst erreicht?“ Diese Frage müssen sich Frauen immer wieder gefallen lassen. Unter ihnen auch die Frauenrechtsexpertinnen Isabelle Schmoetten und Claire Schadeck. Beide arbeiten für das „CID – Fraen an Gender“ und sind dort für politische und gesellschaftliche Projekte verantwortlich. Das Ziel der Organisation: die Gleichstellung der Geschlechter. Denn auch im Jahr 2021 gibt es immer noch Bereiche, in denen Frauen und Mädchen wegen ihres Geschlechtes benachteiligt, diskriminiert und unterdrückt werden.

Gewalt an Frauen

Wenn über Übergriffe an Frauen und Mädchen berichtet wird, ist schnell die Rede von Einzelfällen. Die Data-Analyse der UN Women aus dem Jahr 2020 widerspricht dieser These. Ihr Ergebnis: Jede dritte Frau wird aufgrund ihres Geschlechtes Opfer von körperlicher Gewalt und/oder Sexualdelikten. Das Risiko, ermordet zu werden, steigt für Frauen fast auf das Doppelte, wenn sie in einer Beziehung mit einem Mann oder verheiratet sind. Obwohl Männer insgesamt öfters Opfer von Gewalttaten sind, spielt ihr Geschlecht dabei nur in den seltensten Fällen eine Rolle.

Gewalt an Frauen macht auch vor unseren Landesgrenzen keinen Halt. Bereits Anfang des Jahres kamen zwei Vorfälle an die Öffentlichkeit, bei denen den Tätern Belästigung vorgeworfen wird. Verschlimmert nur noch durch den Umstand, dass es sich bei den Angeschuldigten um Lehrer handelt. Der eine machte Dick Pics mit dem konfiszierten Handy einer Schülerin und der andere hat Schüler*innen jahrelang über Privat-Messenger angeschrieben und ihnen unangemessene Nachrichten geschickt. Über beide Fälle haben wir bereits berichtet.

Struktureller Sexismus

„Feminismus und Sexismus sind längst keine Nischenthemen mehr“, so Schmoetten. Trotzdem haben sie den Weg in die Mitte der Gesellschaft noch nicht geschafft und es fehle immer noch eine ganzheitliche Betrachtung der Problematik. „Sexismus ist eine unausgewogene Machtverteilung der Geschlechter“, erklärt ihre Kollegin Schadeck, „die durch den strukturellen Sexismus noch bestärkt wird.“ Diese Form des Sexismus ziehe sich durch unsere gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen. Das Ergebnis: ein nicht enden wollender Teufelskreis.

Um den strukturellen Sexismus zu erklären, spricht Schadeck vom Gender Data Gap: „Der männliche Körper ist immer noch die Grundlage für die meisten unserer Daten. Zum Beispiel werden Medikamente hauptsächlich an Männern getestet. Das kann dazu führen, dass Frauen eine Überdosis erleiden.“ Außerdem werden die Auswirkungen der hormonellen Schwankungen nicht berücksichtigt, was unangenehme Nebenwirkungen auslösen oder die Wirksamkeit beeinflussen kann. „Auch unsere Sicherheitsgurte wurden lange Zeit hauptsächlich an Dummies mit männlichen Standardmaßen getestet. Personen mit einer anderen Physiognomie werden dadurch nicht adäquat gesichert“, erklärt Schadeck. Grund dafür sei die sexistische Grundeinstellung unserer Strukturen, in der Männer und der männliche Körper als Norm vorausgesetzt werden und der weibliche Körper als eine Abweichung der Norm gilt.

Bestätigung falscher Annahmen

„Das Thema ist viel komplexer als ‚Frauen und Männer sind gleich’“, sagt Schmoetten. Mit dem Wahlrecht für Frauen und der Erlaubnis, ein eigenes Bankkonto zu besitzen, habe man noch lange nicht die Gleichstellung der Geschlechter erreicht. Das sieht man auch an den vorher genannten Vorfällen an unseren Schulen. „Es wird immer Idioten geben, die sich solche Dinge erlauben. Das Problem liegt darin, dass sie dachten, ihr Verhalten sei akzeptabel und sie müssten keine Angst vor Konsequenzen haben“, so Schmoetten. Die Tatsache, dass der Lehrer des LCD jahrelang ungestört agieren konnte, bestärkt diese Annahmen zudem.

Immer wieder kriegen die Frauenrechtsexpertinnen mit, dass Schulen nicht angemessen auf sexualisierte Gewalt reagieren. Egal, ob diese Gewalt von Schüler*innen oder dem Lehrpersonal ausgehen würde, es komme nur selten zu einer Anzeige. „Das mag vielleicht in einigen Fällen mit der Überforderung der Schulleitung zu tun haben, aber manchmal hat man auch das Gefühl, dass versucht wird, alles unter den Teppich zu kehren“, ergänzt Schmoetten.

Victim blaming

In den Kommentarspalten zu unserer Berichterstattung gab es vereinzelt die Bitte, Frauen und Mädchen sollen mehr Rücksicht auf die Männer in ihrem Umfeld nehmen. An dieser Stelle zeigt sich ein weiteres Symptom des strukturellen Sexismus. Anstelle sich auf das Fehlverhalten der Täter*innen zu konzentrieren, gerät das Opfer in den Fokus der Aufmerksamkeit. Welche Kleidungen trug das Opfer zum Zeitpunkt des Übergriffes? Hat es dem oder der Täter*in falsche Hoffnungen gemacht? Anders ausgedrückt: Was hat die Person falsch gemacht, um zum Opfer zu werden? Schmoetten äußert sich dazu mit Nachdruck: „Was haben wir denn bitte für ein Bild von Männern? Das würde ja bedeuten, dass sich die Männer nicht unter Kontrolle haben. Wenn ich ein Mann wäre, würde ich doch hoffen, dass man mir mehr zutraut, als nur meine Triebe unter Kontrolle zu haben.“

Die Frauenrechtsexpertin wird ganz deutlich. Die Täter*innen seien immer für ihr eigenes Verhalten verantwortlich. Zu den Vorfällen an den Schulen sagt sie außerdem: „Klar gibt es auch mal Fälle, in denen die Jugendlichen sich bewusst provokant verhalten, aber ihnen gegenüber steht ein*e Pädagog*in. Egal, was die Jugendlichen tun, das Lehrpersonal ist immer auch in einer Machtposition. Es muss ganz klar sein, dass es hier eine Grenze gibt, die auf keinen Fall überschritten werden darf. Lehrer*innen sollten keinesfalls die Körper der Schüler*innen sexualisieren.“

Es muss sich etwas verändern

Es sollte einzelne Instanzen – wie vor Gericht – geben, an die man mit seinen Problemen herangetreten kann, fordert Schmoetten. Diese Instanzen bräuchte man auf jeder Ebene der Hierarchie, damit es nicht zu einem Stillstand kommt. Sie spricht nicht nur von den Strukturen innerhalb der Schulen, sondern auch der Polizei: „Es kann doch nicht sein, dass Frauen zur Polizei gehen, um dort eine Anzeige zu machen, und dann einfach wieder nach Hause geschickt werden. Oder sie werden gefragt, ob ihnen bewusst wäre, was sie diesem Mann mit einer Anzeige antun würden.“ Bei häuslicher Gewalt käme immer wieder die Frage auf, ob es sich nicht doch um ein Missverständnis gehandelt haben könnte oder einen Streit, der einfach ein bisschen eskaliert sei. Dass es bereits einige Strukturen bei der Polizei und vor Gericht gibt, an die man sich mit diesen Anschuldigungen wenden kann, wird in einem späteren Artikel behandelt.

Trotzdem will die Frauenrechtsexpertin optimistisch bleiben und legt einen Teil ihrer Hoffnung in die Jugend. Durch das Internet konnten sich bereits viele junge Menschen früh politisieren und erleben, welchen Einfluss sie auf die Gesellschaft haben können. So könnte der Druck nach Veränderung ansteigen und das Ganze endgültig ins Rollen bringen.

Annick Goergen
Annick Goergen

* Annick Goergen, geboren 1992 in Esch/Alzette, ging 2014 nach Köln, um dort an der Universität Deutsche Sprache und Literatur sowie English Studies zu studieren. Schnell wurde klar, dass sie im Ausland bleiben will. Sie war zwei Jahre lang im Vorstand des Studierendenradios Kölncampus und hat sich dort als Online-Chefredakteurin engagiert. Außerdem hatte sie die Möglichkeit, an einem Podcast-Projekt des deutschen Bildungsministeriums teilzunehmen und europaweit mit Expert*innen über das Thema Digitalisierung an Schulen zu sprechen. Momentan arbeitet sie als Werkstudentin bei der Produktionsfirma I&U TV und schreibt dort Skripte für das Online-Wissenschaftsformat Breaking Lab.

jan
5. August 2021 - 13.08

Wo findet ein junger Lehrer Hilfe, der fortwährend von Schülerinnen gestalked wird? Glauben Sie etwa, das gibt es nicht? Das gab es noch immer!