Stadtentwicklung / Beim Vago-Plan stand Funktionalität im Vordergrund
1964 beauftragte Bürgermeister Paul Wilwertz (LSAP) den Urbanisten und Architekten Pierre Vago, einen allgemeinen Bebauungsplan für die Stadt Luxemburg zu erstellen. Dieser wurde 1967 durch den Stadtrat angenommen. Erst 1991 wurde dieser Plan, welcher eine Stadt mit 130.000 Einwohnern im Jahr 2000 vorsah, ersetzt. Robert Joly (1928-2012) legte damals einen neuen Plan zur Entwicklung des Stadtgebiets vor. Ihm folgte 2017 der aktuelle Bebauungsplan der Stadt Luxemburg.
Pierre Vago (1910-2002) war in luxemburgischen politischen Kreisen kein Unbekannter. Der Vorsitzende der „Union internationale des architectes“ hatte beim Bau der Villa der Witwe von Emile Mayrisch de Saint-Hubert 1943 in Cabris (Provence) mitgewirkt. Vago hatte den Bebauungsplan von Roussillon entworfen. Während des Krieges hatte er sich als Spitzel der französischen Marine und als Widerstandskämpfer an der Côte d’Azur hervorgetan.
Der Architekt und Städteplaner hatte sich beim Wiederaufbau von Le Mans, Arles, Nîmes, Tarascon und Beaucaire einen Namen gemacht. Er hatte auch in Tunis und Algerien als Städteplaner gearbeitet. Die Anlage des Campus der Universität in Lille hatte hohen Anklang gefunden. Der Bau der Universitätsbibliothek in Bonn verlieh ihm große internationale Anerkennung. In Lourdes hatte er die Pläne der Basilika Pie X gezeichnet. Auch in Berlin war Vago im Bereich des Wohnungsbaus kein Unbekannter. Bei seinen Projekten stand stets Funktionalität im Vordergrund, Ästhetik spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle.
Der Ruf nach der neuen Stadt
Die Gründe zum Auftrag eines allgemeinen Bebauungsplanes für Luxemburg müssen im Zusammenhang des Fusionsvertrags von 1965 gesehen werden. Die Europäische Gemeinschaft entstand in Folge der Zusammenlegung der Organe, die im Rahmen von EGKS, EWG und Euratom bestanden. Die Zukunft Luxemburgs als Sitz europäischer Behörden musste nachhaltig gesichert werden. Anhand der „Secteurs centraux“ vergrößerte Vago das Stadtzentrum bis nach Limpertsberg, der rue de Hollerich, der rue Fort Wallis.
Im europäischen Umfeld folgten die meisten Stadtplaner damals den Empfehlungen der 1933 verabschiedeten und 1943 veröffentlichten „Charte d’Athènes“. Noch recht unerfahren im Bereich des Einflusses des stark wachsenden individuellen Personennahverkehrs glaubte man, eine in funktionale Zonen aufgeteilte Stadt würde den neuen Ansprüchen der Gesellschaft und der wirtschaftlichen Entwicklung entsprechen.
Arbeiten sollte man anderswo als wohnen, einkaufen oder seine Freizeit verbringen. Man war der Überzeugung, die traditionelle Stadt habe ausgedient und könne mit den Erfordernissen der modernen Gesellschaft nicht mehr Schritt halten. Bestenfalls konnte die historisch gewachsene Stadt durch Straßen-Verbreiterung und Umbau an die Stadt der Zukunft angepasst werden. Nach den schwerwiegenden Erfahrungen des Weltkrieges sollte die europäische Stadt ein globaler Ort aller Weltbürger sein. Verbundenheit mit Heimatstil, schnöden, biederen, lokalen, historisierenden Ornamenten und Architektur rief unangenehme Erinnerungen an die nationalistischen Führungen wach. Der Wiederaufbau historischer Städte im geschichtlichen Gewand wurde strikt abgelehnt.
Die neue Stadt sollte neutral sein, Beton-Bauten als neues Baumaterial feiern, Flachdächer begünstigen. Aktuelle Studien haben mittlerweile nicht nur die Umweltbelastung dieser Bauten gemessen, sondern auch das Verkehrsaufkommen in diesen Städten berechnet. Pierre Pinon schätzt, dass die Zerstörungen der Nachkriegsjahre in Paris mittlerweile höher sind als solche mehrerer Jahrhunderte und Kriege zuvor. Der Abriss der „Halles de Paris“, der Schinkelschen Bauakademie in Berlin oder der „Maison du peuple“ in Brüssel sind bis heute als schwerwiegende Bausünden tief im europäischen Gedächtnis verankert. Hinter diesen Handlungen versteckte sich die Überzeugung, dass nachhaltiges und kulturelles Bauen Geldverschwendung darstelle. Nur eine zeitgenössische Architektur, glaubte man, könne gegenwärtige Probleme lösen. Man näherte sich einer „Wegwerf-Architektur“, ganz nach dem Modell anderer Wirtschaftszweige.
Klassengesellschaft nach Architekturplan
Neue Wohnformen wurden vorgeschlagen: Wie klein kann Wohnraum eigentlich sein? Der Markt regelte weitgehend das Angebot und schuf feste Wohn-Standards. Zu einem gestaffelten Preis konnte sich jeder nach gleichem Plan, gleicher Größe der Wohnung, ähnlich ausgeführter Küche und Bad für den gleichen Lebensstil entscheiden. Bürgerlicher Konformismus und Klassengesellschaft regelten die Stadtentwicklung in der westlichen Welt. Jahrhundertelang spiegelten Bauten ihre Bauherren wider: Monogramm, Berufsinsignien, Inschriften, Baustil und Ornament verrieten Weltansichten, kulturelle Kenntnisse.
Mehrere Eigentümer teilen sich ein Gebäude als Besitz, sodass eine personifizierte Identifizierung mit einem Haus nicht mehr unbedingt erfordert ist. Immobilien sind wirtschaftliche Tauschobjekte geworden, deren architektonische Neutralität den Besitzerwechsel fördern soll. Moderne Sachlichkeit will ort- und geschichtsneutral sein. Als gemeinsamer Punkt, der den allgemeinen Wert und die Wertstellung des Gebäudes im urbanen Gefüge der Nachkriegsjahre sicherte, gelten verheißungsvolle Namen. Sie führen Marketing und Architektur zusammen: „Résidence Elysée“ oder „Vendôme“, „Forum Royal“, „Résidence de Florence“, „Centre Mercure“ …
Denkmalschutz in Kinderschuhen
Erst 1975, nach dem vom Europarat ausgerufenen Jahr der Denkmäler, sollte sich die Haltung im Denkmalschutz ändern. Damals galt in Luxemburg noch das Gesetz von 1927 „concernant la conservation et la protection des sites et monuments nationaux“. Das allgemeine Verständnis des Denkmalschutzes zur Zeit der Erstellung des Bebauungsplanes von Pierre Vago galt zuerst Gebäuden aus der Zeit des „Ancien Régime“ oder der vorindustriellen Geschichte. Burgen und Bauernhöfe aus der Feudalzeit, Schlösser und aristokratische Residenzen, welche vornehmlich in öffentlicher Hand waren, wurden als schützenswert betrachtet. Dies erklärt, weshalb Pierre Vago die Altstadt und das Regierungsviertel sowie die Unterstädte und das „Plateau du Rahm“ im allgemeinen Bebauungsplan als „secteurs protégés“ eintragen ließ. Diese historischen Stadtteile wurden 1994 zur Kernzone der Unesco-geschützten Altstadt und Festung erhoben. Für industrielles Kulturerbe hatte man in Krisenzeiten der Eisenindustrie kaum Verständnis. Auch das Verhältnis zu Festungsbauten war damals gespalten: Besonders ältere Generationen sahen Festungswerke mit Kriegsgeschehen verbunden, neue Generationen schätzten jedoch das kreative Ingenieurswesen vergangener Zeiten.
Ob technisches Können Kunst sei, darüber stritten die damaligen Experten jahrelang. Für Bauwerke aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert oder Anfang des 20. Jahrhunderts fehlte meist jede innerliche Distanz. So erklärt sich, dass gerade um die Altstadt zu schützen und in Anbetracht des ungenügend verfügbaren Baulands – Kirchberg war noch in Planung und große Straßenbau-Projekte blockierten riesige Areale, auf denen sich die Stadt hätte ausdehnen können – das aus dem 19. Jahrhundert datierende Boulevard Royal der Spitzhacke zum Opfer fiel. 1976 leiteten 4.000 Unterschriften gegen den geplanten Abriss des nur 65 Jahre jungen „Hôtel de Paris“ in der Avenue de la Liberté ein allmähliches Umdenken ein. Ein rechtskräftiges Arsenal an Vorschriften zum Denkmalschutz gab es jedoch nicht.
Das Unesco-Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes wurde 1972 beschlossen, die Charta der historischen Gärten stammt aus dem Jahr 1981, das europäische Übereinkommen zum Schutz des architektonischen Erbes wurde erst 1985 angenommen, die Charta von Washington zur Denkmalpflege in historischen Städten wurde 1987 unterschrieben, das Übereinkommen zum Schutz des archäologischen Erbes 1992 verabschiedet und die Empfehlungen über historische Stadtlandschaften werden erst 2011 verfasst. Luxemburg überarbeitete seine Gesetzgebung zum Denkmalschutz 1983 und schuf damals die Denkmalbehörde „Sites et monuments“. Seit 1994 ist Luxemburgs Altstadt und Festung Weltkulturerbe der Unesco. Es dauerte jedoch Jahre, bis Luxemburg die verschiedenen internationalen Übereinkommen zum Denkmalschutz offiziell ratifizierte.
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