GroßbritannienStreit um die Flüchtlingsboote im Ärmelkanal

Großbritannien / Streit um die Flüchtlingsboote im Ärmelkanal
Schlauchboote in Dover auf einem Bild vom August vergangenen Jahres. Immer mehr illegale Migranten versuchen auf diese Weise, vom Kontinent aus über den Ärmelkanal zu gelangen. Foto: Ben Stansall/AFP

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Beim heiklen Thema Asyl formiert sich in Großbritannien Widerstand gegen die hemdsärmeligen Methoden der Innenministerin Priti Patel.

Der Innenausschuss des Unterhauses hat die „schockierenden Zustände“ in unwürdigen Baracken angeprangert, wo Minderjährige zusammengepfercht werden. Auch die Maßnahmen gegen Flüchtlingsboote im Ärmelkanal finden keineswegs ungeteilte Zustimmung. Die mehrfach von der Regierung kritisierte Seenotrettung RNLI wird mit Spenden überhäuft und vom höchstdekorierten Admiral der Navy in Schutz genommen.

Das bestehende Asylsystem sei „kaputt“, glaubt Patel. Beikommen will die Politikerin vom äußersten rechten Flügel der konservativen Regierungspartei dem Mangel mit der systematischen Kriminalisierung von Migranten. Zukünftig sollen nicht nur verurteilte Menschenschmuggler automatisch lebenslange Freiheitsstrafen erhalten. Dem Entwurf eines neuen Gesetzes zufolge, das derzeit im Parlament beraten wird, werden Flüchtlinge ohne Visum zukünftig sofort in Haft genommen, unabhängig von ihrem Status. Dem „ekelhaften Geschäft krimineller Banden“ müsse das Handwerk gelegt werden, fordert Patel: „Zugang zum Asylsystem sollte von der Notlage abhängen, nicht von der Zahlungsfähigkeit.“

Wer im System steckt, wird schon heute oft menschenunwürdig behandelt. Beim Besuch einer Übergangsunterkunft fand eine Parlamentarierdelegation vergangene Woche 56 Migranten in einem kleinen, ungelüfteten Wartezimmer vor. „Darunter waren Mütter mit Babys und sehr kleinen Kindern, aber auch eine erhebliche Zahl von jungen Männern“, berichtet die Ausschuss-Vorsitzende Yvette Cooper. In einer anderen Baracke seien unbegleitete Kinder und Jugendliche mehr als zehn Tage lang auf sich allein gestellt gewesen. „Das ist vollkommen unangemessen“, schreibt die Labour-Politikerin in einem Beschwerdebrief an Patel.

Die Behandlung von Minderjährigen hat an Brisanz zugenommen, seit die eigentlich für ihre Betreuung zuständigen Kommunen vielerorts die Aufnahme verweigern. Nicht zuletzt scheuen sie die Kosten, die mit der häufig umstrittenen Alterseinstufung der Einreisenden verbunden sind. Die Verantwortlichen der hauptbetroffenen Grafschaft Kent im Südosten Englands haben deshalb mit einer Klage gegen Patel gedroht.

Überfüllte Schlauchboote

Zwischen 2016 und 2020 kamen mehr als 13.000 unbegleitete Kinder und Jugendliche ins Land, vor allem aus Eritrea (2.322), Afghanistan (2.017) und dem Sudan (1.970). Auch aus Iran, Irak und Vietnam gelang jeweils mehr als 1.500 jungen Menschen die Einreise ins Königsreich. In den vergangenen sechs Wochen schickte Kent 170 Minderjährige an andere Kommunalbehörden weiter.

Für Aufregung in der Öffentlichkeit sorgen die TV-Bilder von total überfüllten Schlauchbooten, mit denen Flüchtlinge aus Afrika und dem Nahen Osten die Fahrt über den Ärmelkanal wagen. Die stark befahrene Schifffahrtsstraße weist an ihrer engsten Stelle zwischen Calais und Dover eine Breite von 34 Kilometern auf. Für den Transit bezahlen die Einwanderer pro Person den organisierten Schmugglerbanden bis zu fünfstellige Summen.

Im Vorjahr bewarben sich mehr als 36.000 Menschen um Asyl, 23 Prozent nach der Überfahrt aus Frankreich. In den ersten sieben Monaten 2021 lag die Zahl der Boat-People bereits höher als im ganzen Jahr 2020. Einer Statistik der Grenzschutzbehörde Border Force zufolge waren 87 Prozent der Migranten Männer, drei Viertel gehörten zur Altersgruppe zwischen 18 und 39 Jahren.

Im Kampf gegen die Profiteure des lukrativen Handels haben die Strafverfolger durchaus auch Erfolge vorzuweisen. Die Polizei der Grafschaft Kent und die nationale Behörde NCA bearbeiten derzeit mehr als 50 Ermittlungsverfahren gegen die kriminellen Schmugglerbanden auf beiden Seiten des Ärmelkanals. In Belgien, Frankreich und den Niederlanden seien ihre Undercover-Leute gemeinsam mit Beamten vor Ort im Einsatz, berichtete NCA-Abteilungsleiterin Andrea Wilson der Times.

„Migrantentaxi“

London hat die Nachbarländer auch mit Geldzahlungen zu besserem Grenzschutz ermutigt; zuletzt erhielt Frankreich 54 Millionen Pfund (63 Mio. Euro), um rigoroser gegen die Schlauchboot-Armada durchzugreifen. Jüngsten Erkenntnissen zufolge kommen 60 Prozent der Flüchtlinge via Belgien an die französische Kanalküste. Die Organisatoren des kriminellen Menschenhandels leben vielfach längst in Großbritannien.

Eine größere Rolle als der Ermittlungsdruck auf die Hinterleute des lukrativen Gewerbes spielt aber das Wetter. In der vorletzten, sonnigen und heißen Juli-Woche registrierte der Küstenschutz 1.300 Überfahrten, allein am 19. Juli kamen 430 Menschen in England an. Noch am vergangenen Montag gelang 160 Migranten die gefährliche Reise. In den darauffolgenden Tagen sorgten starker Wind und die Gezeiten für hohen Wellengang; prompt blieben die vollbepackten Schlauchboote aus.

Um von Versäumnissen ihrer Behörde abzulenken, hat Patel mehrfach die traditionsreiche Seenotrettung RNLI angegriffen. Rechtspopulist Nigel Farage verhöhnte die meist freiwilligen Helfer sogar als „Migrantentaxi“. Die Bevölkerung nahm die hoch angesehene Wohlfahrtsorganisation in Schutz: Während das Spendenaufkommen an normalen Tagen bei einigen Tausend Pfund liegt, konnte sich die RNLI allein am Mittwoch über kleine Spenden von insgesamt 200.000 Pfund (234.000 Euro) freuen. Am Sonntag meldete sich der Fünf-Sterne-Admiral Michael Boyce zu Wort. Seine Organisation habe mit Politik nichts zu tun, erläuterte der frühere Chef des Verteidigungsstabs und derzeitige RNLI-Schirmherr. „Wir sind dazu da, Menschenleben zu retten, ohne Ansehen der Person.“