TunesienVerfassungskrise nach Entlassung von Regierungschef durch Präsidenten

Tunesien / Verfassungskrise nach Entlassung von Regierungschef durch Präsidenten
Proteste vor dem Parlament in Tunis Foto: AFP/Fethi Belaid

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Lange galt Tunesien als das Musterland des Arabischen Frühlings – nun ist die junge Demokratie in eine Verfassungskrise gestürzt.

Vor dem Parlamentsgebäude in der Hauptstadt Tunis tobten am Montag Straßenkämpfe, nachdem Staatschef Kaïs Saïed Ministerpräsident Hichem Mechichi entlassen und die Arbeit des Parlaments ausgesetzt hatte. Die Regierungspartei Ennahdha prangerte einen „Putsch“ an.

Er habe die Entscheidung zur Entlassung von Mechichi im Einklang mit der Verfassung getroffen, sagte Saïed am Sonntagabend nach Krisenberatungen mit Vertretern der Sicherheitsbehörden angesichts heftiger Proteste im Land gegen die Corona-Politik der Regierung. Er selbst werde die Regierungsgeschäfte mithilfe eines neuen Regierungschefs übernehmen.

„Die Verfassung erlaubt keine Auflösung des Parlaments, aber sie erlaubt eine Aussetzung seiner Arbeit“, sagte Saïed. Die 2014 eingeführte Verfassung sieht einen solchen Schritt bei „unmittelbar drohender Gefahr“ für 30 Tage vor. Anschließend soll das Verfassungsgericht über eine eventuelle Verlängerung entscheiden. Wegen politischer Streitigkeiten hat diese Institution bislang aber nicht ihre Arbeit aufgenommen.

Der Präsident kündigte zudem die Aufhebung der Immunität aller Abgeordneten an. Am Montag entließ er Verteidigungsminister Ibrahim Bartaji und die Interims-Justizministerin Hasna Ben Slimane.

Die islamistisch geprägte Regierungspartei Ennahdha warf Saïed einen „Putsch gegen die Revolution und gegen die Verfassung“ vor und kündigte Widerstand an. Die tunesische Politik war in den vergangenen Monaten von einem Machtkampf zwischen Mechichi und dem Parlamentspräsidenten und Ennahdha-Vorsitzenden Rached Ghannouchi auf der einen sowie Präsident Saïed auf der anderen Seite bestimmt worden.

Unmittelbar nach Bekanntwerden von Mechichis Entlassung zogen tausende Unterstützer Saïeds in Tunis jubelnd auf die Straßen. „Dies ist der Präsident, den wir lieben“, sagte die Demonstrantin Nahla. Ein etwa 40-jähriger Mann dagegen warnte mit Blick auf Saïed: „Diese Verrückten feiern die Geburt eines neuen Diktators.“

Die Polizei schloss am Montag die Büros des katarischen Fernsehsenders al-Dschasira in Tunis. Beamte hätten sich Zugang verschafft „und haben uns aufgefordert, das Büro zu verlassen“, sagte Büroleiter Lotfi Hajji. Erklärungen oder juristische Bescheinigungen hätten sie nicht geliefert. Katar gilt als Unterstützer der Ennahdha-Partei.

Hunderte Anhänger beider politischer Seiten zogen am Montag vor das vom Militär hermetisch abgeriegelte Parlament und lieferten sich Straßenkämpfe. Unter anderem flogen Flaschen und Steine. Parlamentspräsident Ghannouchi und weitere Ennahdha-Abgeordnete forderten Zutritt zum Gebäude. Auch den Regierungspalast riegelte das Militär ab, wie Verwaltungsbeamte sagten.

Gewalt bewusst geschürt

Viele Tunesier sind unzufrieden mit der Corona-Politik der politischen Führung. In dem nordafrikanischen Land steigt die Zahl der Corona-Infektionen massiv, in Krankenhäusern ist der Sauerstoff knapp. Ein hochrangiger Ennahdha-Funktionär äußerte jedoch anonym die Vermutung, dass die Gewalt bei landesweiten Corona-Protesten von Präsidentenanhängern bewusst geschürt worden sei, damit Saïed die Regierung und das Parlament absetzen könne.

Tunesien galt lange als die einzige anhaltende Erfolgsstory des Arabischen Frühlings, der 2011 die Herrschaft von Langzeitmachthaber Zine El Abidine Ben Ali beendet hatte. Allerdings hat es seither in zehn Jahren neun verschiedene Regierungen gegeben. Manche hielten nur wenige Monate, was die dringend nötigen Reformen in Wirtschaft und Verwaltung de facto unmöglich machte.

Die nun erfolgte Verschärfung der innenpolitischen Lage sorgte international für Sorge. Die Regierung der Türkei, die als Unterstützer der Ennahdha-Partei gilt, rief zur „Wiederherstellung der demokratischen Legitimität“ auf. (AFP)