Inklusive WohngemeinschaftIn Niederkorn werden Menschen mit und ohne intellektuelles Handicap zusammenleben

Inklusive Wohngemeinschaft / In Niederkorn werden Menschen mit und ohne intellektuelles Handicap zusammenleben
APEMH-Mitarbeiterin Sophie Cardone und der Direktionsbeauftragte Dan Fischer Foto: Sandra Schmit

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Einen Ort schaffen, an dem Menschen mit und ohne intellektuelle Beeinträchtigung zusammenwohnen – das ist das Ziel von der Gründung einer inklusiven WG der „Association des parents d’enfants mentalement handicapés“ (APEMH) in Niederkorn. Gegen Ende des Jahres sollen die ersten Bewohner einziehen; aktuell sucht die Vereinigung nach Kandidaten.

„Sie sind interessiert in einer inklusiven WG zu leben? Dann melden Sie sich bei uns!“ Mit diesem Aufruf wendet sich die „Association des parents d’enfants mentalement handicapés“ (APEMH) über ihre Webseite und bei Facebook an die Öffentlichkeit, um Bewohner für eine inklusive Wohngemeinschaft in Niederkorn zu finden. Vier Menschen werden dort zusammenleben – je zwei mit und zwei ohne intellektuelles Handicap. Jedem steht ein eigenes Zimmer zur Verfügung; zwei Badezimmer, ein Wohnzimmer sowie eine Küche werden von allen genutzt.

Der Alltag wird gemeinsam organisiert. Wenn die Bewohner mit intellektueller Beeinträchtigung Unterstützung benötigen, greifen die anderen ihnen unter die Arme. „Manche können beispielsweise nicht gut lesen. Wenn dann eine Rechnung per Post kommt, können die Mitbewohner dabei helfen“, erklärt Dan Fischer, Direktionsbeauftragter der APEMH, die Idee hinter dieser Wohnform. Man hilft sich beim Kochen, beim Einkaufengehen, beim Wäsche machen. „Eben in Alltagssituationen, die man so hat, wenn man eigenständig lebt“, fügt APEMH-Mitarbeiterin Sophie Cardone hinzu. Sie arbeitet als Erzieherin und begleitet das Projekt in Niederkorn. Gemeinsam mit ihren Kollegen wird sie der inklusiven WG regelmäßige Besuche abstatten und da sein, um Fragen zu beantworten oder zu helfen.

Seltene Wohnform

Wie viele inklusive Wohngemeinschaften es in Luxemburg bereits gibt, ist laut dem Ministerium für Familie, Integration und die Großregion nicht erfasst. Von offizieller Seite heißt es, dass man keine Kenntnis über bereits bestehende inklusive WGs habe. Auch die Verantwortlichen der APEMH kennen keine solche Wohnform im Großherzogtum, weisen allerdings darauf hin, dass es vielleicht trotzdem welche gibt. „Ganz allgemein stellt man fest, dass Wohngemeinschaften in Luxemburg noch nicht gang und gäbe sind. In Studentenstädten gibt es das mehr. Inklusive WGs, wie es sie in unseren Nachbarländern bereits gibt, fehlen hier noch ganz“, sagt Sophie Cardone. Im Ausland können sich Menschen über Plattformen wie www.wohnsinn.org über inklusive WGs informieren.

Auf den Suchaufruf der APEMH für die Wohnung in Niederkorn, der seit rund einem Monat online ist, haben sich bisher hauptsächlich Menschen mit einer Beeinträchtigung gemeldet. Das verwundert einerseits nicht – schließlich gaben sie den Anstoß zum Projekt, wie Dan Fischer berichtet: „Die Idee entstand auf Nachfrage hin. Familien sind an uns herangetreten, haben nach einer solchen Wohnmöglichkeit gefragt und gesagt, wir wollen das‘. Das war für die APEMH der Startschuss.“ Ein geeignetes Haus wurde gesucht und in der 141, avenue de la Liberté in Niederkorn gefunden. In einem vierstöckigen Gebäude wird die WG das gesamte erste Stockwerk beziehen. Aktuell laufen die Renovierungsarbeiten.

Mit einigen Interessenten hat die APEMH bereits Besichtigungen vor Ort durchgeführt. „Viele entscheiden spätestens mit Ende 20, von zu Hause wegzugehen. Auch Menschen mit Handicap gehen diesen Weg. Für sie bedeutet es Lebensqualität, wenn sie auch mit Leuten ohne Beeinträchtigung zusammenleben können“, erzählt Dan Fischer. Wie andere auch wollen sie in einer Wohnung leben und ein selbstbestimmtes Leben führen. Das wird ihnen durch die inklusive WG möglich gemacht – allerdings mit der nötigen Unterstützung, falls diese einmal gebraucht wird.

Die APEMH hofft, schon bald zwei Bewohner mit intellektueller Beeinträchtigung für die Wohnung zu finden. Sie werden dann entscheiden, wer als Mitbewohner zu dem neuen Haushalt hinzustößt. Sophie Cardone ist beim Bewerbungsprozess nur als Unterstützung dabei. Die APEMH will auch ganz bewusst kein genaues Bild davon zeichnen, wie der ideale Bewerber aussehen könnte. Nur einige Eigenschaften sollte die Person mitbringen, wie Sophie Cardone erklärt: „Wer sich meldet, sollte schon offen für Neues sein und sich nicht zu viel zurückziehen – das ist allgemein ja nicht der Sinn einer WG. Man muss auch Kompromisse eingehen können und Lust auf dieses Zusammenleben haben.“

Denn eine reine Zweck-WG soll es nicht werden. Vielmehr soll eine richtige Gemeinschaft entstehen: „Vielleicht geht man abends mal zusammen etwas trinken oder unternimmt in der WG gemeinsam etwas. Aber das muss erst entstehen“, stellt Sophie Cardone fest. Das Zusammenleben von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung und Personen ohne besondere Bedürfnisse kann für alle Bewohner eine wertvolle Erfahrung werden. Vor allem die eigene Entwicklung und den persönlichen Reifeprozess könne dieses Zusammenleben vorantreiben. Was auf jeden Fall nicht der ausschlaggebende Grund für ein Interesse an der inklusiven Wohnmöglichkeit sein soll, ist laut Dan Fischer der vergünstigte Mietpreis. Denn alle Bewohner leben zu einem „bezahlbaren“, von der APEMH nicht näher spezifizierten Preis in der Wohnung. Die Menschen ohne Handicap verpflichten sich dabei dazu, jede Woche etwa zehn Stunden mit der Gemeinschaft zu verbringen und ihren Mitbewohnern zur Hand zu gehen, wenn Hilfe gebraucht wird. Darunter fällt die gemeinsame Freizeitgestaltung sowie die genannten Alltagsaufgaben wie Einkaufen, Kochen und weiteres.

In der kommenden Zeit wollen die Verantwortlichen der APEMH noch etwas mehr Aufmerksamkeit auf die Wohnungsanzeige und die Suche nach geeigneten WG-Mitgliedern lenken. Sie sind dabei positiv gestimmt: „Wir machen uns keine Sorgen darüber, passende Bewohner zu finden“, sagt Sophie Cardone und bekommt dabei Zustimmung von Dan Fischer. Der Einzug ist um den Jahreswechsel geplant. Wer ein Teil der inklusiven WG in Niederkorn werden will, kann sich via E-Mail an inklusiv.nidderkuer@apehm.lu oder unter den Telefonnummern 54 71 71 346 sowie 691 37 01 51 an die APEMH wenden.

Hier soll die Wohngemeinschaft einziehen
Hier soll die Wohngemeinschaft einziehen Foto: Sandra Schmit

APEMH

Die „Association des parents d’enfants mentalement handicapés“ (APEMH) wurde 1967 gegründet und ist im Bereich der Betreuung von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung aktiv. Die Vereinigung vertritt einerseits die Rechte und Interessen dieser Personen, verwaltet aber auch unterschiedliche Strukturen und Dienstleistungen – beispielsweise in den Bereichen Arbeit sowie Ausbildung, Betreuung und Wohnen. So stellt die APEMH landesweit unter anderem Zimmer und Wohnungen zur Verfügung, in denen Menschen mit intellektuellem Handicap alleine, zu zweit oder in der Gemeinschaft leben können. Zudem gibt es betreute Wohnstrukturen, aber auch solche ohne Präsenz eines Betreuungsteams. Die neue inklusive WG in Niederkorn ist nun ein weiteres Angebot in dieser Palette an Wohnmöglichkeiten. Mehr Informationen dazu unter: www.apemh.lu