Zehn Jahre danachNorwegen leidet noch immer unter den Massenmorden von Anders Behring Breivik

Zehn Jahre danach / Norwegen leidet noch immer unter den Massenmorden von Anders Behring Breivik
Blick über die Insel Utöya in Norwegen: Zehn Jahre ist es her, dass der norwegische Terrorist Anders Behring Breivik dort und in Oslo insgesamt 77 Menschen tötete Foto: Meek, Tore/NTB scanpix/dpa

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An diesem Donnerstag, dem 22. Juli, ist es genau zehn Jahre her. Die Sommerferien hatten damals, im Juli 2011, das öffentliche Leben in Norwegen gebremst. Das war dem Rechtsextremen Anders Breivik bewusst, als er um 15.25 Uhr eine 960-Kilogramm-Bombe im Osloer Regierungsviertel explodieren ließ. Acht Menschen starben. Breivik hatte die selbstgebaute Bombe in einem Van hingefahren. Neun Minuten, nachdem er das Fahrzeug verlassen hatte, knallte es.

Norwegen wurde aus seiner Sommerlaune gerissen. Falschmeldungen gingen herum. Ein islamistischer Anschlag habe die Hauptstadt getroffen, hieß es sofort. Aus einer Osloer Tram wurden muslimisch aussehende Passagiere hinausgeworfen. Breivik, damals 32, nutzte die Panik und das – später von einer Untersuchungskommission festgestellte – Versagen der Polizei. Norwegen war überfordert. Wie reagiert man auf ein so unglaubliches Massaker?

Weil Polizeisperren fehlten, eigentlich Standard in solchen Fällen, fuhr Breivik unbehelligt aus Oslo zur 40 Kilometer nordwestlich gelegenen Insel Utöya. Dort hielt die Jugendorganisation der norwegischen Sozialdemokraten (AUF) wie jedes Jahr ihr Sommercamp ab. Fast ohne Wachschutz. Als Polizist verkleidet, mit einer Pistole und einem Gewehr ließ man Breivik mit der Fähre auf die Insel. Dann begannen die Hinrichtungen. Systematisch wie ein Roboter tötete Breivik insgesamt 69 zumeist junge Menschen. „Ihr Marxisten werdet heute sterben“, schrie er immer wieder.

Die damals 20-jährige Jorid Nordmellan und ihre 16-jährige Freundin Miriam rannten zu den Schlafhütten. Verbarrikadierten die Fenster mit Matratzen, so erzählen sie es heute. Sie seien sich sicher gewesen, dass sie gleich sterben müssten. Faustgroße Löcher habe Breivik in ihre Freunde geschossen. Dann wollte er rein in den Schlafsaal. Drinnen lagen die beiden Mädchen mit anderen eng beieinander unter den Betten. Jorid hielt die Hand eines anderen Mädchens so fest, „dass es fast schmerzte“. Aber der Mörder ließ vom Schlafsaal ab. Das ständige Knallen wurde etwas leiser, dann wieder lauter, genauso wie die Todesschreie. „Er schoss Freunden, die sich noch rührten, gleich ein weiteres Mal direkt in die Köpfe, damit sie auch wirklich sterben“, erinnert sich Jorid. Auch bei Jugendlichen, die sich tot stellten, tat er das. Breivik ging sehr genau vor.

Viel zu spät, erst nach zahlreichen Pannen, kam die Polizei auf die Insel. Die ersten Beamten sollen sich trotz ausreichender Bewaffnung nicht allein auf die Insel getraut und auf die lange nicht eintreffende
Verstärkung gewartet haben. Man glaubte, dass dort ein ganzes Terroristenteam zugange war. Sogar Breivik wunderte sich, er rief mehrmals vergeblich per Handy bei der Polizei an, um sich zu ergeben. Doch das ging in der chaotischen Polizeiarbeit unter.

Dann waren die Polizeibeamten endlich da, Breivik ergab sich widerstandslos. Rund 60 Minuten nach den ersten Notrufen. Miriam und Jorid wurden endlich aus dem Schlafsaal geholt, zusammen mit anderen Überlebenden.

„Da sah ich ihn. Er stand vor dem Hauptgebäude. Mit zwei Waffen. Er lächelte in seiner Uniform, hüpfte, wippte auf den Füßen auf derselben Stelle hoch und runter. In dem Moment bekamen wir Augenkontakt. Und
Breivik lächelte mich einfach an. Ich stand zwischen Leichen und stark blutenden Verletzten und der Mann wirkte so zufrieden, so glücklich, dass ich spontan dachte, das kann nicht der Killer sein, der ist noch anderswo“, erinnert sie sich.

Verheerender Untersuchungsbericht

Eine der Toten war die 16-jährige Elisabeth, die Tochter von Freddy Lie. Ihre 17-jährige Schwester Cathrine überlebte schwerverletzt. Früher am Tag hatte Elisabeth ihn noch angerufen und geklagt, dass es regne und sie ihre Gummistiefel vergessen habe, erinnert sich Lie. Als sie das nächste Mal anrief, schrie sie in Todesangst. Zwei Minuten später war die Verbindung unterbrochen. „Es gibt Tage, an denen ich mich verstecke, sodass die Leute nicht sehen, wie schlecht es mir geht. Manchmal sagen sie, wenn ich mich sehen lasse, ,Du siehst aber gut aus‘. Aber genau dann sehen sie nicht mein wirkliches Ich, wenn sie mich sehen“, sagt der Vater. Laut einer Studie waren sechs von 20 Eltern, die Kinder auf Utöya verloren, noch vier Jahre später so traumatisiert, dass sie nicht arbeiten gehen konnten.

Es gibt Tage, an denen ich mich verstecke, sodass die Leute nicht sehen, wie schlecht es mir geht

Freddy Lie, hat seine Tochter Elisabeth beim Massaker verloren

Mehrere Hundert Menschen überlebten das Utöya-Massaker. Vor allem, weil sie ins Wasser sprangen
und Richtung Land schwammen, wo mutige Zivilisten sie in ihre Boote zerrten. „Die Polizei wollte es uns sogar verbieten, die jungen Leute rauszufischen“, erinnerte sich ein Ortsansässiger vier Wochen nach dem
Anschlag. Auch auf die im Wasser Schwimmenden schoss Breivik noch aus der Ferne. Teils traf er.

Der Attentäter Breivik war bis 2006 in der rechtspopulistischen Fortschrittspartei aktiv gewesen. Er wollte, so seine späteren Aussagen, die regierenden Sozialdemokraten mit dem Massaker dafür bestrafen, dass sie zu viele Muslime nach Norwegen gelassen hätten. Tatsächlich hatten auch die Rechtspopulisten vor und nach dem Attentat von der „schleichenden Islamisierung Norwegens“ gewarnt. Doch der sozialdemokratische Premier Jens Stoltenberg, wollte sein Land in der schweren Stunde einen, indem er niemanden kritisierte. Auch mit Kritik an der Polizei wurde gespart, so weit es ging. Erst viel später gab es einen verheerenden Untersuchungsbericht. Norwegens Polizeichef musste gehen. Von 2013 bis vor kurzem lenkte dann eine bürgerliche Regierung die Geschicke des Königreichs, teils unter direkter Beteiligung der Partei, in der Breivik aktives Mitglied gewesen war.

Der zehnte Jahrestag des Massakers ist für viele Norweger schwer zu ertragen. Schon ein paar Wochen danach sagten viele in Oslo, sie hätten genug von der Berichterstattung zu Utöya. Überlebende erhalten heute
über die sozialen Medien Hassnachrichten. „Ich bekomme ständig welche“, sagt Miriam.

Das Grauen hat tiefe Spuren hinterlassen

Die Wege der Überlebenden Miriam und Jorid verliefen seit jenem Tag sehr unterschiedlich und doch auch ähnlich. Jorid suchte einen Psychologen auf, „aber nach einigen Sitzungen hatte ich das Gefühl, dass
das nichts für mich ist“. „Ich wollte mich nicht zu sehr darin verlieren“, sagt sie. So vermied sie zunächst den Kontakt zu anderen Überlebenden und Selbsthilfegruppen. „Ich arbeitete viel, traf Freunde, die nichts mit dem
Geschehen zu tun hatten, und studierte. Das half.“ Inzwischen ist sie in der Arbeiterpartei Norwegens aufgestiegen, ist Beraterin des sozialdemokratischen Vizeparteichefs.

Schon bei einem ersten Treffen vier Wochen nach dem Anschlag schien Jorid seinerzeit die Fragen der Presse lässig zu beantworten. Obwohl sie gerade am Ort des Geschehens war, wo Überlebende zur Traumabewältigung hingeschickt wurden.

Dass das Grauen tief in ihr doch deutliche Spuren hinterlassen hatte, wurde in einem späteren Gespräch deutlich: „Ich saß ein paar Wochen später im Wohnzimmer meiner Eltern. Im Fernseher lief ein Film, in dem Glas klirrte. Ich fiel einfach auf den Boden, kauerte mich zusammen und blieb liegen. Ich konnte mich nicht mehr bewegen, ich war gelähmt vor Angst. Mein Freund Lasse legte sich zu mir auf den Boden und umarmte mich so lange, bis ich wieder aufstehen konnte“, erzählte sie.

Auch Miriam, die damals erst 16 Jahre alt war, trägt schwer an den Erinnerungen: Sie liebte es zu lesen, „vor Utöya“, wie sie nun zehn Jahre später sagt. „Harry Potter war eine meiner Lieblingsserien. Aber dann waren meine Kindheit und das Lesen mit einem Schlag vorbei“, erinnert sie sich. Sie litt an Ängsten und Konzentrationsstörungen. Mit Mühe und umfangreicher psychologischer Hilfe schaffte die Tochter eines Feuerwehrmannes und einer Krankenschwester ihr Abitur und sogar den Bachelor in Krisenmanagement. Nun arbeitet sie als freie Mitarbeiterin an Projekten. „Vielleicht mache ich noch den Master“, sagt sie etwas unsicher. Mittlerweile ist sie Mitglied bei den Grünen.

Streit über ein Denkmal

Der Prozess gegen Breivik hat viele Opfer zusätzlich verstört. Der Attentäter nutzte die Auftritte, um sein Manifest der Öffentlichkeit zu präsentieren. Das Gericht ließ ihn gewähren. Den 1.500-seitigen Text hatte er kurz vor den Anschlägen an mehr als tausend E-Mail-Empfänger versandt.

Hinzu kam eine Debatte über Breiviks Zurechnungsfähigkeit: Ein Psychiaterteam ordnete ihn als unzurechnungsfähig und geistig krank ein. Daraufhin wurde ein weiteres Gutachten bestellt, das zum Ergebnis kam, dass Breivik geistig völlig gesund und strafmündig sei. Dass Breivik Einzeltäter war, gilt inzwischen als weitgehend unbestritten, ebenso die Einschätzung, dass er zurechnungsfähig war. Am 24. August 2012 wurde Breivik vom Osloer Bezirksgericht im Widerspruch zum Antrag der Staatsanwaltschaft für zurechnungsfähig erklärt und zu 21 Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt – der höchsten Strafe, die das norwegische Strafrecht kennt.

Hat Norwegen aus der Tat gelernt? „Die Frage ist falsch gestellt. Was wir gelernt haben, ist, dass man einen Staat nicht für die Tat eines Einzelnen verurteilen kann“, sagt Jorid. „Man kann Norwegen nicht verantwortlich machen für Breivik. Das Gleiche gilt auch für den islamischen Terror, für den nicht die Religion verantwortlich gemacht werden kann.“

Ein Dorn im Auge ist ihr und Miriam der Streit über ein Denkmal, das an das Ereignis erinnern soll. „Zehn Jahre nach dem Massaker haben wir noch immer kein nationales Denkmal. Das ist peinlich und macht mich traurig“, sagt Miriam. Die bürgerliche Regierung hat das von der Vorgängerregierung bewilligte Projekt „Wunde der Erinnerung“ gekippt. Eine Landzunge vor Utöya sollte „zerschnitten“ werden. Man wolle keinen Rechtsstreit mit den Utöya-Anwohnern, denen dies zu auffällig sei, begründete dies die Regierung. „Ich habe das Projekt geliebt und bin sehr enttäuscht“, sagt Jorid.

Die damals 20-jährige Jorid Nordmellan im August 2011
Die damals 20-jährige Jorid Nordmellan im August 2011 Foto: André Anwar