Entwicklungsabgabe statt zurück in den StauSo könnte das grenzenlose Home-Office  auch nach der Pandemie in Luxemburg funktionieren

Entwicklungsabgabe statt zurück in den Stau / So könnte das grenzenlose Home-Office  auch nach der Pandemie in Luxemburg funktionieren
Im ersten Lockdown Anfang Mai lag der Anteil der Luxemburger Home-Office-Arbeiter bei 69 Prozent Fotos: Editpress/dpa

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Durch Home-Office könnte der Luxemburger Handel 350 Millionen Euro pro Jahr verlieren. Durch die Grenzgänger-Ausnahmeregelungen entgehen den Nachbarländern umgekehrt Steuereinnahmen, die ihnen normalerweise zustehen. Gibt es eine Lösung für grenzenlose Heimarbeit auch nach der Pandemie? Vincent Hein von der Denkfabrik „Idea Foundation“ hat eine Idee.

Im vergangenen Jahr haben europaweit in Luxemburg die meisten Menschen im Home-Office gearbeitet. Nur in Finnland saßen noch mehr Beschäftigte zu Hause vorm Rechner. Im ersten Lockdown Anfang Mai lag der Anteil bei immerhin 69 Prozent. Im deutsch-luxemburgischen Grenzgebiet betrifft dies auch Tausende Grenzgänger. Die Telearbeit hat die Situation auf Luxemburgs Straßen massiv entlastet. Immerhin zwei Tage und neun Stunden weniger haben die Pendler im Stau gestanden. Doch wie geht es künftig weiter? Welche Folgen hat die Arbeit im Home-Office für die Luxemburger Wirtschaft, aber auch für die Staatseinnahmen? Wir haben mit Vincent Hein, Wirtschaftswissenschaftler bei der luxemburgischen Denkfabrik Idea Foundation, gesprochen. Er analysiert regelmäßig die Luxemburger Wirtschaft und die Folgen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit.

Vincent Hein
Vincent Hein Foto: Editpress

Vincent Hein

Vincent Hein ist Wirtschaftswissenschaftler und bei der Idea Foundation für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zuständig. Die Idea Foundation ist eine luxemburgische Denkfabrik, die 2014 auf Initiative der Handelskammer entstanden ist. Dabei geht es um die Erforschung, Entwicklung und Bewertung von politischen, sozialen und wirtschaftlichen Konzepten und Strategien für die politische Beratung. 

Inwiefern wird der Standort fürs Arbeiten in Zukunft unwichtiger?

Forscher der University of Chicago haben in Studien den Anteil der Telearbeitsplätze in verschiedenen Branchen untersucht. Luxemburgs wirtschaftliche Spezialisierung auf den Dienstleistungssektor ermöglicht es, einen Anteil von theoretisch 53 Prozent an Home-Office-Plätzen zu schaffen. Das liegt über dem Durchschnitt der meisten Länder. Die aktuelle Praxis über mehr als ein Jahr hat für Arbeitgeber und Arbeitnehmer Vor- und Nachteile aufgezeigt. Es ist jedoch ziemlich sicher, dass die Telearbeit weiter entwickelt sein wird als vor der Pandemie.

Was bedeutet das für große Dienstleistungszentren wie Luxemburg in Bezug auf Immobilien, Steuern und Konsum?

Der Büroimmobilienmarkt dürfte in Zukunft weniger unter Druck geraten. Aber das alles ist noch sehr theoretisch, denn dazu wäre es notwendig, dass die Mitarbeiter nicht alle an den gleichen Tagen Telearbeit machen. Ein weniger angespannter Büroimmobilienmarkt könnte dazu beitragen, das Wohnungsangebot auszuweiten. Aber in Luxemburg, wo die Spannungen aufgrund des Wachstums sehr hoch sind, sollte man keine radikalen Veränderungen erwarten.

Aus wirtschaftlicher und steuerlicher Sicht macht der grenzüberschreitende Kontext die Dinge komplexer als in einer „nationalen“ Metropole. Bei der Telearbeit kommt es zu einer geografischen Verlagerung des Konsums zulasten der Dienstleistungszentren und zugunsten der Wohngebiete. An Telearbeitstagen konsumieren sie mehr rund um ihren Lebensort in Restaurants, in der chemischen Reinigung oder in einem Fitnessstudio. Wenn die Metropole „national“ ist, bleibt alles im Land. Wenn die Metropole grenzüberschreitend ist, „verlässt“ dieses Geld das Land, dies hat Auswirkungen auf Vermögensbildung und Steuereinnahmen.

Was bedeutet das konkret für Luxemburg?

Der luxemburgische Wirtschafts- und Sozialrat schätzt, dass bei einer Telearbeit von 116.000 Grenzgängern an einem Tag in der Woche dies 350 Millionen Euro Umsatz im Handel kosten könnte und damit wahrscheinlich genauso viel in Grenzgebieten gewonnen wird. Wenn Arbeitnehmer eine bestimmte Anzahl von Tagen der Telearbeit überschreiten, werden sie darüber hinaus an den Tagen, die diesen Schwellenwert überschreiten (19 Tage für Einwohner Deutschlands, 24 Tage in Belgien und 29 Tage in Frankreich), in ihrem Wohnsitzland besteuert und nicht in ihrem Arbeitsland, was einen Teil des steuerlichen Gewinns verdrängen könnte, von dem Luxemburg profitiert.

Was müsste von luxemburgischer Seite getan werden?

Im Vergleich zu anderen Dienstleistungsmetropolen hat Luxemburg eine zusätzliche Schwierigkeit im Zusammenhang mit dem grenzüberschreitenden Kontext. Wenn Telearbeit an zwei oder drei Tagen in der Woche zu einer neuen „Norm“ wird, dann kommt es zu einer Wettbewerbsverzerrung zwischen Luxemburg und den „nationalen“ Metropolen, da mehr als 25 Prozent der Arbeitszeit außerhalb Luxemburgs geleistet wird, Arbeitnehmer verlieren ihren Anschluss an die luxemburgische Sozialversicherung. Es ist eine europäische Verordnung, die dieses Prinzip vorgibt. Luxemburg wird daher mit den Nachbarstaaten einen Rahmen aushandeln müssen, der eine Überschreitung dieser Schwelle unter noch festzulegenden Bedingungen ermöglicht.

Gerade für Grenzgänger ist Telearbeit eine Option geworden, zumal in der Corona-Pandemie. Ist dies eine Vorbildlösung für die Zukunft?

Es liegt nahe, an diese Lösung zu denken, wenn wir die Mobilitätsprobleme im grenzüberschreitenden Ballungsraum Luxemburg, aber auch die Wirtschaftswachstums- und Beschäftigungsprognosen für die kommenden Jahre sehen. Aber es wird auch weiterhin notwendig sein, in Infrastruktur mit höherer Kapazität und in einen zusammenhängenderen Flächennutzungsplan zu investieren, um Lebensorte näher an Arbeitsplätze und Konsumorte zu bringen. Die Lebensqualität wird zweifellos mehr Telearbeit erfordern, aber es wird nicht die einzige Wunderlösung sein.

Das Thema Besteuerung von Grenzgängern ist ein heikles. Einerseits profitieren Luxemburger Staat und Wirtschaft von der Arbeit der Grenzgänger, andererseits gehen den Heimatländern Einnahmen verloren, die sie für den Erhalt von Straßen und Schulen brauchen. Wie kann man diesen Konflikt auflösen?

Ich habe bereits einen Vorschlag gemacht, der alle Parteien versöhnen würde. Zum Zeitpunkt der Pandemie ermöglichte die Aufhebung der steuerlichen und sozialversicherungsrechtlichen Schwellenwerte für Grenzgänger den luxemburgischen Unternehmen die Aufrechterhaltung ihrer Tätigkeit durch massive Telearbeit. In gewisser Weise haben die Nachbarländer gegenüber dem Großherzogtum fiskalische Solidarität gezeigt.

Geradezu provokant ist das in der öffentlichen Debatte zuweilen zu hörende Element, die Nachbarstaaten aufzufordern, die Freigrenzen entschädigungslos nach oben zu erhöhen. Um aus dieser heiklen Steuerfrage herauszukommen, wäre eine der Lösungen, mit den Nachbarstaaten über eine gerechte Verteilung der auf die Telearbeit von Grenzgängern erhobenen Steuer zu verhandeln.

Diese könnten im Gegenzug in einen gemeinsamen Entwicklungsfonds einzahlen – quasi als Gegenleistung für die Anhebung der geltenden Steuergrenzen. Diese Mittel, die auch von Nachbarländern oder -regionen ergänzt würden, könnten Mobilitätsinfrastrukturen, Ausbildungsprojekte, kommunale Ausrüstungen auf beiden Seiten der Grenzen finanzieren, sofern sie dazu beitragen, das grenzüberschreitende Territorium zusammenzuführen und attraktiver zu machen.

Inwiefern müssen alle Beteiligten Kompromisse eingehen?

Es muss ganz klar gesagt werden, dass es bei einer Zunahme der Telearbeit nach der Pandemie nicht nur „Win-win“-Phänomene geben wird. Die Grenzgebiete werden Gewinner sein, weil sie sich in lebendigere Gebiete verwandeln und nicht nur in Wohnheimstädte. Persönliche Dienste werden von der Anwesenheit von Telearbeitern profitieren. Dies wird wirtschaftliche Aktivität, Arbeitsplätze und Steuereinnahmen schaffen. Aber es wird ein Verlust für Luxemburg sein, wie wir oben erwähnt haben.

Auf der anderen Seite werden die Grenzgebiete Zugeständnisse machen müssen, weil der Wettbewerb um qualifiziertes Personal in lokalen Unternehmen insofern härter wird, als es neben der Höhe der Sozialabgaben relativ attraktiver ist, für ein luxemburgisches Unternehmen zu arbeiten, ganz zu schweigen davon, dass die Sozialbeiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber dort niedriger sind. Es ist ein Prozess, der heute beginnen muss, indem alle Argumente ohne Tabus auf den Tisch gelegt werden. Das ist etwas Neues im grenzüberschreitenden Kooperationsprozess, man muss zugeben, dass sich seit der Gründung der Großregion in den 1990er Jahren viel getan hat, sich aber fast immer auf Projekte beschränkt hat, bei denen es nur Gewinner gab. In diesem Thema gibt es aber Gewinner und Verlierer, deren Aspekte sich überschneiden. Ich denke, wir müssen mit bilateralen Verhandlungen beginnen, damit die Kompromissbildung eine Chance auf Erfolg hat.

Wie sieht Ihr Ideal für den grenzüberschreitenden Arbeitsmarkt in der Großregion aus?

Ich glaube, dass es kurzfristig nicht möglich sein wird, das Attraktivitätsgefälle zwischen Luxemburg und den Nachbargebieten deutlich zu verringern. Aber wir müssen die wirtschaftliche Entwicklung auf beiden Seiten der Grenze mittelfristig wieder ins Gleichgewicht bringen. Denn das aktuelle Modell ist nur kurzfristig tragfähig. Auf dem Wohnungsmarkt und auf den Straßen sehen wir schon die Grenzen, vielleicht gibt es noch andere, wie zum Beispiel den Arbeitskräftemangel.

Der für eine Volkswirtschaft gesunde „War for Talents“ (Kampf um Talente) zwischen den Unternehmen darf nicht in einen „War for Talents“ zwischen den Territorien verwandelt werden, denn er führt zu Rückverschiebungen der Grenzen. Sollte der Großraum Luxemburg insgesamt an Attraktivität verlieren, wäre dies für das Großherzogtum ein existenzielles Problem, aber nur ein Randproblem ohne große strategische Bedeutung für die deutschen, französischen und belgischen Volkswirtschaften.

Tobias Senzig
20. Juli 2021 - 14.44

Hallo und Danke für den Hinweis. Wir haben das im Artikel verbessert und auch den Kollegen vom Trierischen Volksfreund Bescheid gegeben. Viele Grüße aus der Redaktion.

Trierweiler
20. Juli 2021 - 13.08

@Nomi "Wann Telearbecht kann an d’Grenzregio’un verlaagert ginn, OBGEPASST : dann kann se och an Marroko, oder Indien, . . . . verlaagert ginn !" Mir brauchen net opzepassen, wann een sech 183 Deeg an engem Land ophält, muss een och do all seng Steiere bezuelen. Frot emol wéi et dem Boris Becker deemools gaangen ass, an deen huet sech just bei senger Mamm um Späicher verstoppt, mol net 'geschafft'.

Nomi
20. Juli 2021 - 9.56

Wann Telearbecht kann an d'Grenzregio'un verlaagert ginn, OBGEPASST : dann kann se och an Marroko, oder Indien, . . . . verlaagert ginn !

Justin Time
19. Juli 2021 - 23.17

@ Marc: Danke für diese verständliche und nachrechenbare Klarstellung. Ob das ‘t’ sich wohl durchringen kann, die Schlagzeile der Autorin vom Trierischen Volksfreund (« Durch Home-Office verliert der Luxemburger Handel täglich 350 Millionen Euro. « ) zu streichen. Zumindest online, der gedruckte Unsinn ist ja nun schwer rückgängig zu machen.??‍♂️

Marc
19. Juli 2021 - 16.15

Laut Schätzungen des Horeca-Sektors beträgt der tägliche Verbrauch eines Arbeitnehmers an seinem Arbeitsplatz etwa 25 Euro im Gastgewerbe und 15 Euro in anderen Unternehmen – also 40 Euro pro Tag. Wenn nun 40 bis 45 Prozent der 460.000 Erwerbstätigen einen Tag pro Woche im Home-Office verbringen würden, würde dies Mindereinnahmen von 350 Millionen Euro im Jahr bedeuten. (https://www.tageblatt.lu/headlines/die-erste-begeisterung-ist-verflogen-jetzt-wird-gerechnet/)

Justin Time
19. Juli 2021 - 13.30

Ich sehe gerade, daß Herr Hein von 116.000 Grenzgängern spricht (nicht 166.000), das wären dann sogar rund 3.000 €, welche jeder Grenzgänger hier ausgibt. Wenn ich die Aussage von Herrn Hein richtig verstehe, handelt es sich bei den 350 Millionen € eher um den jährlichen Umsatzverlust, nicht den täglichen, wie die Autorin am Anfang zu vermitteln versucht.

Justin Time
19. Juli 2021 - 12.57

350 millionen Umsatz am Tag? Das macht also bei 166000 Grenzgängern etwa 2100€ täglich pro Kopf. Irgendetwas stimmt nicht mit diesen Zahlen…

Micha
19. Juli 2021 - 10.32

Luxemburg soll die Nachbarländer fürs HomeOffice bezahlen? Und gleichzeitig die eigenen Restaurants pleite gehen lassen?