„Echos Kammern“ ist – möchte man diesen leicht barocken Roman auf eine einfache Formel herunterbrechen, was ihn natürlich sofort verfälschen würde – eine Neuerzählung des Mythos von Echo und Narziss, die die Echos so sehr multipliziert, dass man irgendwann nicht mehr weiß, wer hier Echo und wer Narziss ist und wie viele es davon überhaupt gibt. Vordergründig erzählt Iris Hanika in der ersten Hälfte die Geschichte von Sophonisbe, einer Dichterin mittleren Alters, deren Erfolge bereits etwas zurückliegen.
Für ihren ersten Band mit dem Jandl’schen Titel „Mythen in Tüten“, der eine feministische Neuschreibung des Mythos von Echo und Narziss enthält, hatte Sophonisbe Lob und Preise bekommen, nun will sie aber zur Prosa wechseln. Dafür hat sie sich einen zehnwöchigen New-York-Aufenthalt organisiert, währenddessen sie vornehmlich durch das totgentrifizierte SoHo spaziert und die Vielsprachigkeit der Stadt in sich aufsaugt.
Sophonisbe versucht nämlich, eine neue Sprache zu entwickeln, ein größtenteils flexionsloses Deutsch, inspiriert von der Mischsprache „lengevitch“ des deutsch-amerikanischen Dichters Kurt M. Stein. Davon präsentiert die ebenso geschwätzige wie gewiefte Erzählerin des Romans allerhand Kostproben in Form von Sophonisbes Tagebucheinträgen, wobei regelmäßig wohlgeformte Sätze auf Französisch, Englisch und (sofern der Rezensent das beurteilen kann) Russisch in die vermeintlich simple Kunstsprache einfließen.
Vom Geld plattgewalzte Metropolen
Zum einschneidenden Erlebnis wird für Sophonisbe allerdings ihre Begegnung mit Josh, einem äußerst attraktiven Doktoranden in Osteuropäischer Geschichte, den sie auf einer Party bei Beyoncé kennenlernt (wie sie dort hingelangt und warum dort auch Engel anwesend sind, kann die Erzählerin aufgrund des heftigen Jetlags der Dichterin leider nicht recht rekonstruieren). Von diesem Mann, der scheinbar nur mit sich und seiner Arbeit beschäftigt ist, ist Sophonisbe fasziniert, ohne dass es zu einem eindeutigen Annäherungsversuch kommen würde.
Diese Konstellation mit Sophonisbe als Nymphe und Josh als schönem Jüngling wird im zweiten Teil des Romans gleichsam gespiegelt beziehungsweise potenziert. Hier lebt die Dichterin zeitweise bei der in etwa gleichaltrigen Autorin Roxana (ihrem Echo) in Berlin (dem Echo New Yorks). Roxana hat früher unglaublich erfolgreiche Ratgeber geschrieben, müht sich aber nun schon jahrelang an einem Buch über Kommunikation und deren Scheitern ab. Berlin tritt auf als „aktuelle Welthauptstadt der Jugend“, die auf dem besten Weg ist, das Schicksal New Yorks zu wiederholen und „eine ganz gewöhnliche, vom Geld plattgewalzte Metropole der westlichen Welt“ zu werden.
In einem Zwischenspiel malt sich die Erzählerin gar einen gewaltsamen Widerstand der alteingesessenen Berliner*innen gegen den „heuschreckenartigen Einfall der Bratzen aus dem internationalen Mittelstand“ aus. Nach deren Vertreibung ist die Schlange vor dem Berghain dann wieder einigermaßen erträglich. Ob solche Säuberungsfantasien eine adäquate Antwort auf die Macht des Kapitals sind, sei mal dahingestellt. Es lässt sich allerdings eh kaum ausmachen, ob in „Echos Kammern“ irgendwo ein Sprechen ohne Maske, ohne Brechung durch irgendeinen Spiegel stattfindet.
Narziss als Echo, Echo als Narziss
Jedenfalls macht Josh auf der Reise in die Ukraine einen mehrwöchigen Zwischenstopp in Berlin und nun verfällt ihm Roxana, die glaubte, Trieb und Begehren bereits hinter sich gelassen zu haben. Noch viel ärger als Sophonisbe hat es sie erwischt, während der junge Mann, der ihr Sohn sein könnte, unnahbar bleibt, sich aber auch mehr als Projektionsfläche für die beiden Frauen erweist und das zurückspiegelt, was sie in ihm sehen wollen.
Und vielleicht ist auch dieser Roman mit seinen unzähligen intertextuellen Verweisen, seiner durch und durch ironischen Erzählstimme und seinen teils kryptischen Szenen eine bloße Projektionsfläche für seine Leser*innen. Allein die Namensgebung, über deren Extravaganz die Erzählerin gleich im zweiten Absatz ausgiebig abschweift, weist in viele Richtungen, ohne dem Publikum einen Lektüreschlüssel in die Hand zu geben. So irritiert „Echos Kammern“ mehr als einmal.
Jedoch, unproduktiv ist Hanikas Verfahren nicht. Den textuellen Echos zu folgen, den Hakenschlägen der Erzählerin, die problemlos zwischen den Sprachen changiert wie die verhasste „Jeunesse dorée“ zwischen den Kontinenten, macht den eigentümlichen Reiz des Buchs aus. Man wird nach Abschluss der Lektüre vielleicht nicht behaupten können, den Roman wirklich verstanden zu haben, und dennoch das Gefühl nicht los, mehr von dieser Art Literatur lesen zu wollen.
Info
Iris Hanika: Echos Kammern. Roman. Literaturverlag Droschl, Graz 2020. 240 Seiten. 22,00 Euro.
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