DeutschlandRKI-Chef Wieler im Interview: „Wir brauchen mehr als 80 Prozent zweimal Geimpfte“

Deutschland / RKI-Chef Wieler im Interview: „Wir brauchen mehr als 80 Prozent zweimal Geimpfte“
Eines der Gesichter der Pandemiebekämpfung in Deutschland: RKI-Präsident Lothar Wieler Foto: dpa/Bernd von Jutrczenka

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Die Inzidenzen liegen beruhigend niedrig, doch die gefährlichere Delta-Variante ist auch in Deutschland auf dem Vormarsch. Der Präsident des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, spricht über die Gefahr einer vierten Corona-Welle, bessere Impfangebote und den Schutz an Schulen. Und er findet klare Worte zu Fußballspielen vor Fans im Stadion.

Tageblatt: Herr Wieler, rechnen Sie damit, dass sich die Infektionslage noch im Sommer wieder verschärft?

Lothar Wieler: Zuerst einmal möchte ich festhalten, dass wir die dritte Welle überwunden haben. Der weitere Verlauf hängt von unser aller Verhalten ab und von der Frage, ob wir die AHA+L-Maßnahmen beibehalten. Vor allem in Innenräumen sollten wir weiterhin Mund-Nasen-Schutz tragen, die Kontakte reduzieren und Testangebote nutzten. Auch vom Impffortschritt hängt es ab, wann es wieder zu einem Anstieg der Zahlen kommt. Deshalb ist der Zeitpunkt schwer vorherzusagen. Sicher ist allerdings, dass es im Herbst und Winter wieder zu steigenden Zahlen kommt.

Wie hoch müsste der Anstieg ausfallen, dass Sie von einer vierten Welle sprechen?

Der Begriff der „Welle“ wurde nie eindeutig definiert, das kann man auch nicht. Das wird auch im Herbst schwer festzustellen sein, weil dann ein Großteil der Menschen geimpft sein wird. Wir wissen, dass deutlich mehr als 80 Prozent der Bürger mindestens zweimal geimpft sein sollten, damit wir diese Pandemie in Deutschland unter Kontrolle bekommen. Das werden wir aber nicht nur anhand der Zahlen der Krankheitslast berechnen können.

Sind die Inzidenzen noch die richtige Maßeinheit?

Sie ist nicht die, sie ist eine Maßeinheit. Wir Wissenschaftler haben die Inzidenz nie als einziges Maß genommen. Im Robert-Koch-Institut haben wir von Beginn an immer verschiedenste Parameter betrachtet und auch veröffentlicht. In unseren Situationsberichten sind etwa die Krankenhaus- und Intensivauslastung, Positiv-Testraten, syndromische Surveillance, also die Erfassung von Syndromen, und andere Werte zu finden. Aber die Aussagekraft der Inzidenz wird zunehmend geschmälert. Die Inzidenz muss man außerdem immer in Relation setzen zur Impfquote.

Halten Sie es für ausgeschlossen, dass noch einmal schärfere Einschränkungen geben wird?

Ausschließen kann das seriöserweise niemand. Aber was ich sicher weiß: Wenn wir jetzt vorsichtig bleiben, wenn wir jetzt in geschlossenen Räumen weiter Masken tragen, wenn wir weiter Abstand halten und die Impfungraten weiter nach oben gehen, dann können wir das vermeiden. Davon bin ich überzeugt. Ich kann nur meine Hoffnung zum Ausdruck bringen, dass das gemeinsam gelingt.

Einige Bundesländer melden bereits einen starken Anstieg der Delta-Variante. Kommen wir mit den Impfungen schnell genug voran?

Es ist mittlerweile bekannt, dass die Delta-Variante einen höheren R-Wert hat als Alpha. Mit zunehmender Immunität in der Bevölkerung durch die Impfungen wächst der Druck auf das Virus, sich genetisch zu verändern und damit auch die Immunantwort zu umgehen. Bisher gibt es keine Hinweise darauf, dass die bisher zugelassenen Impfstoffe nicht gegen Delta wirken. Aber natürlich sind wir beunruhigt, weil ständig neue Varianten entstehen werden. Sie müssen schnell erkannt werden und dann die Kontaktnachverfolgung intensiv betrieben werden. Je niedriger die Inzidenzen sind, desto besser kann das den Gesundheitsämtern gelingen. Die Verbreitung wird aber durch die Basismaßnahmen eingeschränkt: Mund-Nasen-Schutz und Abstand hilft gegen alle Varianten. Das Ziel muss sein, so schnell wie möglich so viele Impfbereite wie möglich zu impfen.

Wie hoch schätzen Sie das Risiko neuer Escape-Varianten ein, vor denen die Impfstoffe nicht schützen?

Weltweit betrachtet ist die Pandemie noch sehr aktiv, schauen Sie zum Beispiel nach Chile oder Indien. Solange die Pandemie läuft, wird es neue Varianten geben. Momentan lässt sich noch nicht sagen, wann eine Auffrischung der Impfungen nötig sein wird. Auch das hängt von der Entwicklung von Varianten ab. Weltweit tauschen wir unsere Daten aber sehr gut aus. Die Impfstoffe könnten auch innerhalb weniger Wochen angepasst werden. Die Forschungsarbeiten, auch der Hersteller selbst, laufen kontinuierlich weiter. Deswegen bin ich optimistisch, dass wir immer zeitnah einen Impfstoff haben. Aber entscheidend ist, dass wir eine Grundimmunität aufbauen, denn dann sind die Krankheitsverläufe auf die Bevölkerung bezogen nicht mehr so schwer.

Rechnen Sie mit einer niedrigen Impfbereitschaft unter Kinder und Jugendlichen?

Die Ständige Impfkommission Stiko hat die Impfungen grundsätzlich für alle Kinder freigestellt, aber explizit empfohlen wurde sie nur für Kinder mit Vorerkrankung. Das erhöht natürlich die Impfbereitschaft nicht. Sie hängt aber auch stark vom Infektionsgeschehen ab. Es werden vermehrt Fälle bei Kindern auftreten, schon jetzt sehen wir größere Ausbrüche der Delta-Variante in Schulen. Wenn bereits Geimpfte die positiven Wirkungen weitererzählen, wird sich auch dieser kommunikative Effekt niederschlagen. Natürlich ist das Thema sehr emotional. Aber gerade bei Kindern müssen wir die Sicherheitsaspekte gesondert betrachten. Die Stiko wird das weiter beobachten und ihre Empfehlungen kontinuierlich anpassen, wenn die Datenlage über mögliche Nebenwirkungen bei Kindern besser ist.

Wir empfehlen, dass in Schulen weiter getestet und Mund-Nasen-Schutz getragen wird. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, das sollte bis zum nächsten Frühjahr so sein.

Müssen an Schulen also alle Schutzmaßnahmen weiterhin gelten?

Ja. Wir empfehlen, dass in Schulen weiter getestet und Mund-Nasen-Schutz getragen wird. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, das sollte bis zum nächsten Frühjahr so sein. Aus zwei zentralen Gründen: Zum einen wollen wir ja das Infektionsgeschehen niedrig halten, weil auch Kinder schwer erkranken können. Und zum anderen haben wir natürlich das Ziel, dass die Schulen offen bleiben.

Brauchen wir unterschiedliche Regeln beim Reisen für Geimpfte und Ungeimpfte?

Für Hochrisikogebiete gelten nach wie vor Quarantäneregeln und bei Virusvariantengebieten gibt es noch schärfere Regeln. Innerhalb Europas wäre es schön, wenn es einheitliche Regeln gibt.

Die Reisezeit hat bereits begonnen, die einheitlichen Regeln gibt es aber noch nicht.

Das sind politische Prozesse. Wir können dazu nur Empfehlungen geben. Ich bin schon glücklich darüber, dass es ein interoperables Impfzertifikat in Form der App gibt. Aber es wäre schön, wenn die Reisetätigkeit nicht zu intensiv wird. Deswegen empfehlen wir weiterhin, auf nicht notwendige Reisen zu verzichten.

Wenn ich ein vollständig gefülltes Station sehe, dann habe ich dafür nicht viel Verständnis

Wie wohl ist Ihnen dabei, wenn Sie Fußballspiele vor Publikum im Stadion sehen?

Wenn es rein um den Infektionsschutz geht, bin ich darüber natürlich nicht glücklich. Aber das ist eine gesellschaftspolitische Abwägung. Im Münchner Stadion gibt es immerhin ein Hygienekonzept, das den Zugang nur für Geimpfte, Genesene oder Getestete erlaubt und auch die Anreise regelt. Aber wenn ich ein vollständig gefülltes Station sehe, dann habe ich dafür nicht viel Verständnis. Reisen von Fans kreuz und quer durch Europa sind für den Infektionsschutz natürlich nicht sinnvoll.

Ist es vertretbar, dass die EM-Abschlussspiele in Großbritannien stattfinden?

Aus infektionsmedizinischer Sicht ist das keine gute Idee.

Die Pandemie hat Ihnen als RKI-Präsident eine besondere Aufmerksamkeit verschafft. Was hat das mit Ihnen gemacht?

Man braucht eine gewisse Krisenfestigkeit, das ist klar. Aber das Entscheidende ist, dass dieses Institut extrem leistungsstark ist. Die Einschätzungen, die ich mitteile, sind ja durch viele intensive Gespräche, Analysen, Auswertungen von vielen Daten im Haus entstanden. Zu Beginn haben wir uns täglich in unserem Krisenstab über die epidemiologische Lage beraten, inzwischen haben wir das auf zwei Tage pro Woche begrenzt. Aber nach wie vor ist ein großes Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an der Erarbeitung von unseren Erkenntnissen beteiligt. Mit so kompetenten Leuten kann man sich ziemlich sicher sein, dass man die Dinge gut einschätzen kann. Und ansonsten braucht man ein vernünftiges privates Umfeld, gute Freunde und Familie. Jetzt haben wir 18 Monate durchgestanden, den Rest schaffen wir jetzt auch noch.