Putin und Biden in GenfSehnsucht nach der „kontrollierten Konfrontation“: Was der Kreml vom Gipfel erwartet

Putin und Biden in Genf / Sehnsucht nach der „kontrollierten Konfrontation“: Was der Kreml vom Gipfel erwartet
Biden und Putin treffen sich am Mittwoch zum rhetorischen Schlagabtausch in Genf Fotos: AFP

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Wie die USA will Russland ein geordnetes Verhältnis zu seinem Kontrahenten. Für den Kreml steht die internationale Sicherheitsarchitektur im Vordergrund. Kommentare zum Repressionsgeschehen im Land verbittet man sich.

Wladimir Putins Reise nach Genf ist seine erste Auslandsvisite seit langem. Im Januar 2020 noch absolvierte er Besuche in Syrien, Deutschland und Israel. Doch dann kam die Corona-Krise – und mit ihr sein Umzug ins Home-Office. Seit Beginn der Pandemie hat der Kreml-Chef die Öffentlichkeit gemieden, bevorzugt über Video-Schalte konferiert und selbst in Russland nur ausgewählte Termine in der Gegenwart anderer Personen absolviert – unter strengsten Corona-Auflagen für sein Gegenüber selbstverständlich. Der Gipfel in Genf ist Putin also hinreichend wichtig, um von seinen gewohnten Arbeitsabläufen abzuweichen.

Auch wenn der Kreml die Erwartungen bewusst herunterspielte, ist das persönliche Treffen mit Biden per se schon ein außenpolitischer Erfolg für Putin: seine Rückkehr auf die Diplomatie-Bühne vor vollen Rängen nach fast eineinhalbjähriger Abstinenz. Der Westen muss mit ihm reden – auch wenn nach Moskau dieser Tage nur noch die wenigen engen Verbündeten des Kreml-Chefs kommen: der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko oder der tadschikische Langzeitherrscher Emomali Rachmon, der als einziger ausländischer Staatsgast am 9. Mai an Putins Seite die Militärparade verfolgte. Die Szene bot ein eindrückliches Bild der außenpolitischen Vereinzelung der russischen Führung, die in den letzten Monaten mit militärischen Drohgebärden gegen die Ukraine, einem Kleinkrieg gegen ausländische Diplomaten, der Verhaftung Alexej Nawalnys und der unerbittlichen Verfolgung der politischen Opposition den Westen irritierte.

Russland sieht sich bestätigt

Auch wenn die Zeit der Höflichkeitsbesuche vorbei ist und auch in Genf eher kühle Stimmung herrschen wird: Nach Joe Bidens Gipfel-Einladung sieht Moskau seine eigene Überzeugung bestätigt, dass ohne Russland in der Weltpolitik nichts zu machen sei. Dass der US-Präsident nach den unvorhersehbaren Trump-Jahren ein ernsthaftes Gespräch mit den Russen beginnen will, schmeichelt Moskau.

Denn jenseits der regelmäßigen rhetorischen Angriffe gegen das westliche Ausland sieht auch der Kreml die Notwendigkeit eines Dialogs mit dem Gegner. So hoffen russische Beobachter, dass das Treffen eine neue Ära der „geordneten Konfrontation“ einläuten könnte, also eine Identifikation und Priorisierung der Streitpunkte, wie der Kreml-nahe Experte für internationale Beziehungen, Fjodor Lukjanow, in einem Kommentar darlegte. Die „vollkommen abnormale, ungesunde und irrationale Atmosphäre“, die sich zwischen den beiden Ländern in den vergangenen Jahren gebildet habe, müsse dringend verschwinden.

Dass es die Ukraine-Krise war, die die massive Verschlechterung der Beziehungen eingeleitet hat, ist auch in Russland unbestritten. Bei der Beurteilung der Hintergründe wird man sich mit dem Westen bis heute nicht einig. Und das wird weiterhin so bleiben. Russland, so schreibt die Nesawissimaja Gaseta, sei für den Westen seit 2014 ein stetiger Unsicherheitsfaktor: „Mit Russland kann und muss man über die globale Sicherheit verhandeln. Aber es ist unklar, was Russland morgen tun wird.“

Doch was zählt für den Kreml? Was die gemeinsame Agenda betrifft, so hat man durchaus andere Vorstellungen als das amerikanische Gegenüber. Für Putin steht die internationale Sicherheitsarchitektur an erster Stelle: die Frage, wie man angesichts der Tatsache der auslaufenden bzw. aufgekündigten Abrüstungs-Abkommen dennoch ein berechenbares Verhalten der alten und neuen Atommächte garantieren könnte. Neue atomare Waffensysteme stellen zusätzliche Risiken für die internationale Sicherheit dar. Auch Sicherheit im Cyberspace, Kooperation bei der Terrorbekämpfung, Klimawandel und das Management von Regionalkonflikten sind Themen, über die man ins Gespräch kommen will.

Möglicher Austausch von Gefangenen

Greifbarer scheint eine Beilegung des Streits über die diplomatischen Vertretungen beider Staaten, die derzeit unter widrigen Bedingungen tätig sind. Russischen Medien zufolge will Moskau zudem den Austausch von Gefangenen vorschlagen. Beide Seiten könnten einen Deal als Triumph vor dem heimischen Publikum verbuchen. Als Anwärter für einen Austausch gelten Paul Whelan, ein 2018 in Moskau verhafteter und wegen mutmaßlicher Spionage zu 16 Jahren Freiheitsstrafe verurteilter US-Bürger, sowie Konstantin Jaroschenko, ein russischer Pilot, dem Washington versuchten Kokainschmuggel vorwirft.

Und dann gibt es noch Sachlagen, über die der Kreml nicht diskutieren will: Die Causa Nawalny zählt dazu, ebenso wie Menschenrechtsfragen und internationale Desinformations- und Hacker-Aktivitäten im weiteren Umfeld der russischen Führung. Wenn Biden diese Probleme wie geplant zum Thema macht, muss er mit zynischen Gegenangriffen rechnen. Im Kreml ist man seit einiger Zeit felsenfest davon überzeugt, dass es sich bei den ausländischen Appellen sowieso nur um von westlicher Überheblichkeit gekennzeichnete, illegitime Einmischungsversuche handelt.

Auch an dieser Front ist keine Entspannung zu erwarten – das hat Putin unlängst mit seinem Spruch von den „roten Linien“ Russlands mehr als deutlich gemacht. Andererseits fällt es den Russen leichter als den Amerikanern, diese Konfrontation als (für beide Seiten notwendigen) rhetorischen Schlagabtausch zu verbuchen und danach relativ pragmatisch zur Tagesordnung überzugehen. Die Frage ist, ob Präsident Biden auch dazu bereit ist.