Nuit de la littérature„Warten auf ein neues Miteinander“ – Fabienne Faust stellt Gedichtband „Hier – Ein Fehlen“ in Paris vor

Nuit de la littérature / „Warten auf ein neues Miteinander“ – Fabienne Faust stellt Gedichtband „Hier – Ein Fehlen“ in Paris vor
Fabienne Faust präsentiert ihr Werk „Hier – Ein Fehlen“ am 29. Mai um 21.40 Uhr auf einer Pariser Bühne. Die Lesung wird später auf YouTube zu sehen sein. Foto: Editions Phi/Vincent Flamion Photography

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

17 Autoren nehmen an der „Nuit de la littérature“ am 29. Mai in Paris teil. Unter ihnen befindet sich die Luxemburgerin Fabienne Faust, die das Großherzogtum mit ihrem Gedichtband „Hier – Ein Fehlen“ vertritt. In den Texten der Anthologie unternimmt die Autorin Streifzüge durch das Dickicht des menschlichen Seins und Leidens. Dabei arbeitet sie mit Sorgfalt die Kalamitäten unserer Zeit – geprägt von sozialen Spaltungen und Krisen – heraus. Dennoch machen Fausts Gedichte deutlich, dass Hoffnung auch in einer ernüchterten und durchrationalisierten Welt nicht fehl am Platz ist.

Der berühmte Romanautor Stephen King meinte einmal: „Man stößt zwei- oder dreimal im Jahrzehnt auf ein Buch, das so gut ist, dass man wildfremden Menschen zurufen will: Lesen Sie das, es wird Sie erfüllen!“ Der Gedichtband „Hier – Ein Fehlen“ von Fabienne Faust ist so ein Werk. Die Poetin wird es bald präsentieren können, nämlich auf der diesjährigen „Nuit de la littérature“ am 29. Mai in Paris. Eine Chance für das Publikum, denn mit der Anthologie ist der Dichterin ein Bravourstück gelungen. Die knapp 75 Gedichte, die sich in dem Band finden lassen, erweisen sich als detailgetreue Porträts einer Menschlichkeit, zu der Fehlbarkeit und Zerstörungswille ebenso gehören wie Mut, Fürsorge und der Wunsch, die Erde zu einem (für alle) lebenswerten Ort zu machen. Die Autorin benutzt originelle und poetische Sprachbilder, um unsere Gegenwart wie mit einzelnen Streiflichtern auszuleuchten. Oft überrascht das Ende der Texte – was beim Leser zurückbleibt, ist ein leises Staunen über die Nicht-Festlegbarkeit der Welt, die die Autorin mit wenigen Worten erschaffen hat.

Fausts Gedichte sind vor allem eins: schön. Sie gehen mitten ins Herz. Mit griffigen Vergleichen und Metaphern lässt die Luxemburger Dichterin Landstriche der Zerrüttung vor dem inneren Auge des Lesers entstehen. Hier sei als Beispiel das Gedicht „Worte“ in voller Länge zitiert: „Auf dem Weg zwischen Clearwater und Xwisten / stehen Straßenschilder auf Indianisch / wie Ruinen stehen sie da / wie eine Disney-Land-Imitation der Akropolis // denn die First Nations hatten keine Schrift / ihre Sprache war Gesprochenes oder Schweigen // wie die Gedichte keine echte Sprache sind / sondern Sagen oder Schweigen / und im Schweigen sagen / was verschwiegen hätte bleiben sollen // auf dem Weg zwischen Clearwater und Xwisten / stehen die Schilder der Wiedergutmachung / protzig und fotogen vor einer karg werdenden Landschaft // in der dünnen Luft hängt Schweigen / wie Durst oder Waldbrand / wie der trocken gefischte Fluss / oder der geschriebene Mensch.“

Feingliedrige Gedankenfolgen

Wehmut zieht sich als Grundstimmung durch Fausts Texte hindurch. Die Vorstellungen, welche die Autorin durch ihre Verse evoziert, sind elegisch gebrochen. So erscheinen die in Rinden geritzten Initialen als „Liebesversuche: Nachwuchs der Träume“, das Leiden des lyrischen Du als „Gletschermilch deiner erfrorenen Kindheit“ und versunkene Schiffsteile als „Rostblumen“. Durch ihre sprachlichen Gebilde stellt Faust Verknüpfungen her zwischen Konkretem und Abstraktem, Lebendigem und Totem, Vergangenheit und Gegenwart. Die Assoziationsreihen werden im Verlauf des Gedichts immer länger, die Poetin fügt Szenen und Gedanken wie geschmeidige Kettenglieder aneinander und reichert sie durch Querverbindungen an.

Diese Vorgehensweise erlaubt es ihr, thematisch übergreifende Zusammenhänge zu stiften. So ist in „Fehlende Karten“ zunächst von „Weihnachtskarten Geburtstagskarten / Tarot-Karten“ die Rede, bis die Autorin dann überleitet zu den „Karten mit den beschlagnahmten Gebieten“ und den „Katastrophenkarten“, die „die Freiwilligen vom Roten Kreuz / […] in die Kriegsgebiete des Iraks“ einzeichnen. Durch das mehrdeutige Karten-Motiv verquickt Faust Harmlos-Alltägliches mit der Misere, die aus Krieg und imperialistischer Unterwerfung erwachsen. Ähnlich wird in „Hier“ zunächst auf die Umweltzerstörung („Ölteppich am Strand“) referiert, um dann den Blick auf die Trauer des Sprecher-Ichs zu lenken, das unter einer Trennung leidet. Beide Dimensionen des Schmerzes werden am Ende des Gedichts in einer Synthese zusammengeführt: „es ist schon bemerkenswert wie viele Katastrophen / mit einem Wegschauen beginnen“.

Ein unauflösliches Spannungsfeld

Faust zeigt, dass das Weltgeschehen nicht nur die Zeitkulisse ist, vor der sich persönliche Schicksale abspielen, sondern beide Ebenen, das Individuelle und das Kollektive, untrennbar miteinander verschlungen sind. Dass dies ein Ethos der Mitmenschlichkeit und Anteilnahme für den Nächsten notwendig macht und – das ist die Kehrseite der Medaille – Vernichtung und Verzweiflung folgen, wenn der Einzelne diesen größeren Kontext nicht wahrnimmt, ist nichts weniger als die Hauptaussage von „Hier – Ein Fehlen“. So warten in „Wolkenkratzer“ die Bänke, aus denen keine Totempfähle geschnitzt wurden, „auf ein neues Miteinander“.

Ob dieses jemals eintreten wird, lässt die Autorin jedoch offen. Mithilfe ihres sprachlichen Instrumentariums seziert sie das von Ambivalenzen geprägte Jetzt. Die Spannung zwischen den aufgedeckten psychologischen Untiefen und dem ihnen entgegengesetzten moralischen Idealismus gilt es dabei auszuhalten – genauso wie die rhetorische Durchschlagskraft der Wendungen, welche die Dichterin in ihre Texte einbaut, um den Leser immer wieder auf die Unausweichlichkeit zwischenmenschlicher Konflikte zu stoßen. Wenn Fausts Gedichten auch ein geschliffener und leichtfüßiger Rhythmus anhaftet, so wirken die thematischen Umkehrungen wie Schläge in die Magengrube. Das macht den Band zu einem literarischen Meisterwerk.

Das Gleichgewicht der Sprache

Faust ist keine Lyrikerin, die sich in ihrem Schaffen von der Welt abwendet, im Gegenteil. Wie schon deutlich wurde, wirkt die Autorin eine ganze Palette an aktuellen Themen in ihre Texte ein. Die Sujets werden oftmals wie beiläufig angeschnitten, wodurch sie ihre ganze kritische Tragweite entfalten. Es gibt in der Tat kaum einen für unsere Zeit relevanten Gegenstand, den die Dichterin auslässt: Raubbau und Umweltverschmutzung, Kolonialismus, Fremdenfeindlichkeit, Frauenhass, Homophobie, Neoliberalismus und Faschismus … Die Liste ist nicht erschöpfend. Interessant dabei ist, dass Faust als Dichterin keine Scheu vor großen Worten und abstrakten Begriffen hat. In ihren Gedichten kommen Termini wie „Achtsamkeit“ und „Zärtlichkeit“ ebenso vor wie die dem akademischen Diskurs entliehenen Vokabeln „Machtstrukturen“, „Rechtsextremismus“ und „Utilitarismus“.

Die Autorin beweist damit, dass sich Poesie nicht unbedingt einer blumigen Sprache bedienen muss, um ästhetisch effektvoll zu sein – und dass sich die Eindrücklichkeit von Dichtung nicht bloß auf ihre Eleganz reduzieren lässt. Fausts Dichtung ist so stark, weil sie eine Balance zwischen der uneigentlichen Ausdrucksart von Lyrik und der systematisierenden Sprache der Wissenschaft hält. So kann sie Missstände gleichzeitig genau benennen und projektiv überformen. Damit gelingt der Poetin das, was als Mammutaufgabe der Literatur an sich gilt, nämlich Themen aus ihrer Abgeschlossenheit herauszuheben und in einen größeren Bezugsrahmen einzubetten. „Hier – Ein Fehlen“ ist somit ein Werk, das zweifelsohne zu den Glanzstücken zeitgenössischer Dichtung gehört, und zwar auf internationalem Niveau. In diesem Sinne bleibt nur eins zu sagen: „Lesen Sie das, es wird Sie erfüllen!“

„Nuit de la littérature“

Dieses Jahr feiert die „Nuit de la littérature“ (NDLL) ihr neuntes Jubiläum. Organisiert wird die Veranstaltung vom „Forum des instituts culturels étrangers à Paris“ (FICEP). Ziel der „Nuit de la littérature“ ist es, ausländischen Kulturzentren die Chance zu geben, nationale Künstler und Kunstwerke vorzustellen. Die Kunstschaffenden werden bei ihrer Vorstellung oft von einem Schauspieler und Übersetzer unterstützt. Dieses Jahr findet die „Nuit de la littérature“ zum zweiten Mal auch digital statt. Die erste Vorstellung beginnt am 29. Mai um 18 Uhr – Fabienne Faust wird um 21.40 Uhr auftreten. Die Videos der einzelnen „Acts“ werden laut FICEP noch am selben Abend im 20-Minuten-Takt auf YouTube hochgeladen.

Fabienne Faust: „Hier – Ein Fehlen“, Lyrik, Editions Phi, Soleuvre, 2020, 105 Seiten, 15 €
Fabienne Faust: „Hier – Ein Fehlen“, Lyrik, Editions Phi, Soleuvre, 2020, 105 Seiten, 15 € Coverbild: Editions Phi