SchülerartikelWir Überlebenskünstler – ein künstlerisches Projekt: Gespräch mit Regisseurin Martina Roth 

Schülerartikel / Wir Überlebenskünstler – ein künstlerisches Projekt: Gespräch mit Regisseurin Martina Roth 
 Foto: Lizzi Folschette

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Es ist erst mal ein Ensembleprojekt. Im Titel steht „Wir Überlebenskünstler“. Die Idee ist eigentlich auch die gewesen, dass man in der Situation des ersten Lockdowns im letzten Jahr, wo wir alle nicht wussten, was es eigentlich ist, so eine Erfahrung gemacht hatte. Da habe ich mir gedacht, dass wenn man schon das Ventil hat, das künstlerisch zu verarbeiten, dann sollte man das tun. Insofern ist auch das Projekt eine Art Hilfestellung, um die Situation, die schwierig ist, künstlerisch umzusetzen. Das ist eine Arbeit, in die man alle unsere Hoffnungen, Träume, Sehnsüchte, Wünsche, aber auch Ängste mit hineinfließen lassen konnte. Wir haben versucht, all dem ein anderes Gesicht zu geben.

Wenn wir mehr ins Detail gehen würden, könnte man sagen, dass es eine apokalyptische Situation ist, die die Menschheit repräsentiert durch diese Darsteller. Diese Menschheit befindet sich in einer Art existenziellen Krise. Es ist in einem Bühnenraum, der vielleicht in einer Zukunft liegt. Das muss gar nicht eins zu eins beantwortet werden, sondern es geht darum, dass es diesen Raum gibt, in dem Menschen eingeschlossen sind und nicht raus können.

Wie gehen sie jetzt mit dieser Situation um? Da entstehen verschiedene Geschichten. Die eine erzählt, dass sie sich am besten immer verliebt, weil wenn man verliebt ist, dann geht es einem gut, dann macht einem so eine Krise nicht so viel aus. Der andere kann nicht mehr denken, weil ihm durch das viele Denken die Hirnschalen auseinander knallen, weil er gar nicht so viel denken kann, wie er denken will, und schlussendlich denkt er viel zu viel und der Kopf tut weh. Dann erinnert er sich plötzlich, dass neben ihm eine junge Frau sitzt, die nicht mehr leben will. Sie sagt, sie will nicht mehr atmen, aber sie wird gezwungen. Sie will eigentlich die Stille hören und in der Stille will sie was finden. Da erinnert er sich an sie und denkt sich: „Wenn ich der helfe, dann hilft es auch mir.“

Ein interdisziplinäres Projekt

Im Stück gibt es auch eine Figur, die Frau am Rande der Welt. Das ist eine Kassandra-Figur, eine dystopische Figur, ein Orakel, eine mahnende Figur, die der Menschheit Fragen und Rätsel aufgibt, die sie zum Denken anregt und die auch Wahrungen ausspricht. Sie sagt Sachen wie zum Beispiel „Wie soll aber der Mensch das Leben leben? Der Mensch ist nicht erziehbar“ oder „Verhext ist dieser Ort. Ich bin gewillt, euch eine kostenlose Wahrung zu erteilen“. Diese Figur bindet eigentlich all diese einzelnen Geschichten zusammen, weil sie das Ganze in diesen überhöhten und auch tragischen Kontext stellt.

Musik spielt auch eine ganz wichtige Rolle. Ich habe versucht, Musik zu finden, die diese apokalyptische und dystopische Situation atmosphärisch widerspiegelt. Es gibt aber auch eine Tänzerin im Stück.

Was ganz wichtig ist, ist der Chor. Der Chor als Element ist deshalb so wichtig, weil der Ausgangspunkt war, dass diese Krise, diese Pandemie, jeden einzelnen betrifft. Überall, niemand ausgenommen. So etwas haben wir noch nie erlebt. Selbst Kriege sind teilweise lokalisierter, aber diese Pandemie umspannt den ganzen Erdball. Sie betrifft jeden Einzelnen, aber auch die Masse. Das Kollektiv. Es geht immer um das einzelne Ich und das Kollektiv. Und der Chor ist ja auch ein Theatermittel aus der griechischen Tragödie, aus der Antike. Was ist der Chor? Ein Häuflein Menschen, die etwas Gemeinsames tun? Das einzelne ,“Ich“ taucht im „Wir“ der Gruppe ab. Dennoch gestaltet dieses „Ich“ das „Wir“ mit. Es prägt ihn. Im Chor und mit dem Chor wird das Verhältnis des Individuums zum Kollektiv verhandelt. Des individuellen Bedürfnisses zum gemeinsamen Interesse. Das macht den Chor zu einem unvergänglichen und zeitlosen Thema der Menschheitsgeschichte.

Simple, aber effiziente Kostüme

Wir sind nicht in einem Theater, wo man einen Ausstatter hat, einen Bühnenbildner, einen Kostüm- und Maskenbildner und ein Budget dafür, sondern in einem Konservatorium, wo das ganz anders läuft. Als ich dann diese chorischen Elemente hatte, habe ich mir überlegt, was könnte ein klares, einfaches, aber ästhetisch formales, gutes Konzept sein, das auch mit einfachen Mitteln umsetzbar ist. Da bin ich auf Wickelröcke gekommen. So wie auch in einer griechischen Tragödie. Die Männer wie die Frauen tragen alle diese Wickelröcke.

Da ich ja selber Schauspielerin bin und ein eigenes Theaterformat hatte, habe ich natürlich auch ein bisschen Ahnung in dem Bereich. Ich habe mich für ein Material entschieden, das sich wunderbar eignet, um es auch in verschiedenen Farben zu bemalen. Ich habe mich für diese Art Papier entschieden, Tyvek. Dann haben wir Maße nehmen lassen und für die Darsteller Röcke schneidern lassen von einer Frau, die für mich schon oft Kostüme hergestellt hat. Zusammen mit ihr habe ich die bemalt und Shirts gekauft. Jetzt haben die Darsteller ein interessantes Outfit, das sehr simple, aber sehr eindrücklich ist.

Die Frau am Rande der Welt hat etwas Unmenschliches, sie lebt ja seit Erdengedenken, man kann sie auch nicht in ein Alter einordnen. Sie ist sozusagen eine Art Übermensch. Um das zu zeigen, habe ich mich an etwas erinnert, was auch aus dem antiken Theater kommt – der Kothurn, ein Spezialschuh, den es in unterschiedlichen Höhen gibt. Ich habe bei einem Theater für die Frau am Rande der Welt 45 cm hohe Kothurne bekommen. Die sind wunderschön und gibt dieser Frau etwas Überdimensionales, denn sie ist jetzt zwei Meter hoch.

Dann habe ich mir lange überlegt, was ich an Schminke machen soll. Ich will eine kleine Zeichnung, eine Markierung ins Gesicht bekommen, da nicht ganz klar ist, ob die Darsteller, die eigentlich in diesem Raum sind, aus dem sie nicht rauskönnen, nicht vielleicht unterdrückt werden. Diese Markierung ist ein Streifen auf der Stirn. Am Ende schminken sie ihn ab und damit wollte ich ein zuversichtliches, hoffnungsvolles End-Bild schaffen.

Kopf hoch, wir haben keine Angst

Wir müssen weitermachen – Kopf hoch, heißt es im Stück. Man kann auch sagen, dass die Pandemie eines ganz stark gezeigt hat, und zwar hat es ganz viele Schwachstellen in unserer Gesellschaft wie an die Oberfläche gespült. „Leben bedeutet atmen, bedeutet sein, bedeutet denken. Nachdenken über sich und andere“, sagt die Frau am Rande der Welt im Stück. Wir spüren, dass wir ohne den anderen nicht sein können, was uns jetzt vorenthalten wird, Nähe zu Menschen, des Gegenübers. Die Berührung, die Hand, die einem gereicht wird, das sind alles ganz wesentliche Dinge, die der Mensch braucht, um sich selber zu spüren und um sich zugehörig zu fühlen und um zu überleben. Das braucht der Mensch. Das wird uns gerade genommen, aber durch diese Pandemie wissen wir auch viel genauer, was wir brauchen. Irgendwann, wenn wir es wieder kriegen, sind wir uns viel stärker bewusst, wie sehr wir es brauchen und wie wichtig es für uns ist. Man wird auf die existenziellen Fragen viel stärker hingewiesen.

Diese Frau im Stück sagt auch, man muss wach sein. Die Deserteurin, eine andere Figur im Stück, die sich empört über das, was passiert, und über die Verschiebungen von Gewichtungen. Wenn ein Präsident plötzlich eine Pandemie zum Krieg erklärt, dann wird die Sprache unglaublich schwierig. Diese Kriegssprache, die in dieser Pandemie entstanden ist – es wird von Taskforce gesprochen. Das ist ein sehr manipulativer Faktor, so mit den Menschen darüber zu sprechen. Das muss man hinterfragen und sich über Dinge empören, die man nicht richtig findet. Mit dem, was man tut, muss man sich verbinden, man muss sich beteiligen und man muss Haltung zeigen, denn Dringlichkeit besteht immer. Abgebrühtheit und zu viel Luxus tun den Menschen und deren Entwicklung nicht gut.

Es geht um was. Es geht um unser Leben. Es geht um unseren Planeten – wie gehen wir damit um? Es geht um den Tod. Ist der Tod eine Strafe oder ist der Tod vielleicht eine Erlösung? Sind wir danach befreit? Sind wir jetzt unfrei? Müssen wir uns im Hier und Jetzt befreien? Gibt es das Leben nach dem Tod gar nicht? Wir wissen es nicht und das sind wichtige Fragen. Ich kann mir vorstellen, dass in so einer existenziellen Bedrohung diese Fragen eine Bedeutung bekommen, die sie vorher gar nicht mehr so hatten, weil alles bequem arrangiert war. Die Krise schafft es, darüber nachzudenken, vielleicht kann das Theater das Übrige tun. Wie wichtig wäre es, wenn die Leute hinterher darüber diskutieren und sich unterhalten? Ich will gar keine Antworten geben, aber wenn das in Gang gesetzt wird mit dem Theater, dann hat man wahnsinnig viel erreicht. Also in diesem Sinne – Kopf hoch, wir haben keine Angst.

Von der Bühne zum filmischen Projekt

Jetzt kommt natürlich etwas Wichtiges ins Spiel: Corona. Der Ausgangspunkt war der Beginn der Corona-Krise. Sie hat uns, genauso wie alle anderen Theaterleute auch, genau zu dem Punkt geführt, dass wir das Stück so, wie wir wollen, genau nicht aufführen dürfen. Jetzt gibt es den Entschluss, dieses Theaterprojekt filmisch umzusetzen. Daran arbeiten wir in der letzten Zeit. Wir haben jetzt ungefähr ein halbes Jahr an diesem Projekt gearbeitet. All diese einzelnen Elemente, and denen wir gearbeitet haben, sind natürlich so nicht mehr ganz erlebbar auf der Bühne, aber sie werden alle ein Teil dieses filmischen Ganzen werden.

Es gab zwei Tage, an denen wir Fotos gemacht haben, und die werden in den nächsten Tagen auch auf dem Instagram-Account zu sehen sein. Dann kann man sich schon so ein Bild machen, wie es ästhetisch aussieht.
Ende April werden die Filmaufnahmen stattfinden. Dann wird es eine längere Zeit an Postproduktion geben. Wenn alles gut geht, wollen wir vor der Sommerpause im großen Saal im Konservatorium den Film zeigen. Wenn die Anstandsregeln jetzt so bleiben wie im Moment, kriegt man ungefähr hundert Personen in den Raum. Es wird auch die Möglichkeit bestehen, sich das Ganze online anzuschauen. Sobald der Film fertig ist und gezeigt wird, ist er auch online verfügbar, man kann dann den Link weitergeben.