StandpunktWarum die Dinge für Europa diesmal wirklich anders liegen

Standpunkt / Warum die Dinge für Europa diesmal wirklich anders liegen
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Aus Perspektive staatlicher europäischer Kreditrisiken unterscheidet sich die Covid-19-Pandemie von anderen Krisen der jüngsten Zeit. Erstens rührt die derzeitige Wirtschaftskrise aus rezessionsbedingenden Lockdowns zur Bekämpfung einer Ausbreitung des Virus her und nicht aus durch ein abstürzendes Finanzsystem bedingten Verwerfungen an den Vermögensmärkten. Zweitens fiel Europas politische Reaktion deutlich robuster aus als in der Vergangenheit. Mit Ende der Pandemie wird die Rating-Entwicklung der europäischen Staaten von der Fähigkeit ihrer Regierungen abhängen, für ausreichend Wirtschaftswachstum zu sorgen, um die staatlichen Haushalte wieder ins Gleichgewicht zu bringen.

Unsere eigenen Änderungen bei Länder-Ratings seit März 2020 berücksichtigen die Beschaffenheit der von der öffentlichen Gesundheitskrise ausgelösten – massiven, aber exogenen und zeitlich begrenzten – Erschütterung und auch, wie gut Länder es geschafft haben, darauf zu reagieren. Geldpolitische und externe Flexibilität sowie wirtschaftliche Resilienz sind derzeit bessere Indikatoren für die Bonität von Staaten als ihre jeweilige Schuldenquote.

Wir haben weltweit fast ein Viertel der von uns gegenwärtig bewerteten Länder herabgestuft. Bei den meisten handelt es sich um niedriger bewertete Schwellen- oder Frontier-Märkte, die schon vorher Schwächen aufwiesen und über weniger finanzielle Resilienz und Flexibilität verfügten, um mit Covid-19 und seinen wirtschaftlichen Folgen fertigzuwerden. Darunter fallen sieben Zahlungsausfälle, und zwar allesamt von Staaten, die schon vor der Pandemie am unteren Ende unserer Rating-Skala („B“ oder niedriger) rangierten.

Keine Herabstufungen

In Europa jedoch haben wir bisher weitgehend Abwärtskorrekturen unserer Rating-Ausblicke und keine tatsächlichen Herabstufungen vorgenommen. Seit Beginn der Pandemie haben wir in Europa weniger Bewertungsänderungen vorgenommen als während der globalen Finanzkrise ab 2008 und der sich anschließenden Staatsschuldenkrise in der Eurozone.

Das liegt hauptsächlich an der massiven direkten und indirekten fiskalischen Unterstützung auf nationaler Ebene und den schnellen und beispiellosen, durch die EU-Politik unterstützten Maßnahmen der Europäischen Zentralbank, die auf eine Abmilderung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zielten. Diese Bemühungen zeigen bisher Wirkung und sollten eine schnellere Erholung ermöglichen. Obwohl diese politische Reaktion die Haushaltsdefizite erhöht hat und die Staatsverschuldung in neue Höhen getrieben hat, hat sie die potenziellen negativen Auswirkungen auf die staatlichen Ratings bisher abgeschwächt.

Zudem liegen die Kosten für neue staatliche Kreditaufnahmen derzeit in der gesamten Eurozone in Nähe ihrer absoluten Tiefststände. Dies sorgt nicht nur für eine effektive Durchleitung geldpolitischer Impulse an die Wirtschaft, sondern ermöglicht zugleich eine wirksame Fiskalpolitik, die dabei den Zugang der betreffenden Staaten zu den Kapitalmärkten nicht beeinträchtigt. Dagegen beschränkten die Märkte vor einem Jahrzehnt inmitten einer weitgehend unzureichenden geldpolitischen Reaktion aus Sorge über die makrofinanziellen Risiken der Eurostaaten deren Marktzugang und lösten damit eine Schuldenkrise aus. Mehrere Regierungen mussten sich Notfallkredite beim Europäischen Stabilitätsmechanismus oder von außerhalb der Eurozone, beim Internationalen Währungsfonds, besorgen, während Griechenland und Zypern ihren Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen konnten.

Schuldverschreibungen abgedeckt

Die Entscheidung der EZB vom Dezember, ihr Pandemie-Notfallankaufprogramm (PEPP) auf 1,85 Billionen Euro auszuweiten und bis März 2022 aufrechtzuerhalten, signalisiert, dass die Notenbank auch künftig dafür sorgen wird, dass die EU-Regierungen ihre außergewöhnlichen fiskalischen Maßnahmen unter geringen Kosten finanzieren können. Wir gehen davon aus, dass die verbleibenden PEPP-Mittel ausreichen, um fast alle von den Euroländern in diesem Jahr voraussichtlich begebenen Schuldverschreibungen abzudecken.

Darüber hinaus können die Regierungen fällig werdende Anleihen preiswerter refinanzieren, was den durchschnittlichen Zinssatz für die aufgenommenen Schulden senkt und, durch Verlängerung der durchschnittlichen Laufzeit, das Anschlussfinanzierungsrisiko verringert. Die Maßnahmen der EZB sind ein Beleg für die hochgradig glaubwürdige und effektive Geldpolitik der Bank – ein weiterer Faktor, der die Ratings der Euroländer stützt.

Die EZB-Politik wird auf EU-Ebene insbesondere durch das Programm „Next Generation EU“ unterstützt, dessen zentrales Element die Aufbau- und Resilienzfazilität (RRF) ist. Das Programm hat eine beträchtliche Größe von insgesamt 750 Milliarden Euro, wirkt umverteilend und zielt darauf ab, stärker verschuldeten Mitgliedstaaten zu helfen. Wir gehen davon aus, dass es im Laufe der nächsten fünf Jahre bis zu 4,1% zum BIP der EU beitragen könnte. Und die EU würde die RRF durch Ausgabe von Schuldverschreibungen im eigenen Namen finanzieren, was der EZB und den Anlegern ein neues liquides, auf Euro lautendes Benchmark-Instrument zur Verfügung stellt, was wiederum dem Status des Euro als Reservewährung nützt.

Doch bleiben beträchtliche Herausforderungen. Europa befindet sich gegenwärtig in einem Wettlauf gegen die Zeit, um seine Bevölkerungen zu impfen, bevor neue Corona-Varianten auftreten und sich allgemein verbreiten. Und wenn die Pandemie erst einmal unter Kontrolle gebracht ist und die wirtschaftliche Erholung begonnen hat, stehen die Regierungen vor der schwierigen Aufgabe, die massiven Konjunkturimpulse zurückzufahren, ohne das Wachstum zu gefährden. Eine verfrühte Sparpolitik könnte den Aufschwung behindern, doch Verzögerungen bei der politischen Normalisierung könnten die Haushaltsungleichgewichte erhöhen und die erforderlichen strukturellen Anpassungen behindern. Zugleich müssen die Regierungen sich mit dem Klimawandel und der Bevölkerungsalterung befassen, Vorkehrungen für eine digitale Zukunft treffen und sich auf die Bewältigung der nächsten Gesundheitskrise vorbereiten.

Politik hat viel zu tun

Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff argumentierten vor einem Jahr, dass Rezessionen mit gespenstischer Regelmäßigkeit auftreten, und es wäre töricht, etwas anderes zu behaupten. Natürlich beschrieben sie von endogenen finanziellen oder wirtschaftlichen Ungleichgewichten verursachte Rezessionen, während der heutige pandemiebedingte Abschwung exogener Art war. Doch hat Europas diesmalige finanzielle und politische Reaktion zu einer Erhöhung der Staatsverschuldung geführt.

Es ist klar, dass die staatliche Entschuldung selbst im günstigsten Fall mehrere Jahre dauern wird. Obwohl die heutigen extrem niedrigen Zinssätze den Regierungen Zeit erkaufen werden, sind sie kein Ersatz für die Haushalts- und Strukturreformen, die nötig sind, um die makroökonomische Grundlage für ein langfristiges, nachhaltiges Wachstum wiederherzustellen. In Abwandlung von Reinhart und Rogoff: Die Lage in Europa mag diesmal tatsächlich anders sein, doch die Politik hat trotzdem noch viel zu tun.

* Alexandra Dimitrijevic ist Global Head of Research bei S&P Global Ratings. Roberto Sifon-Arevalo ist Chief Analytical Officer of Sovereign Ratings bei S&P Global Ratings. 

Aus dem Englischen von Jan Doolan.

Copyright: Project Syndicate, 2021 (www.project-syndicate.org)