RusslandMoskauer Soziologe Konstantin Gaaze: „Es darf niemanden mehr geben, der mit Putin unzufrieden ist“

Russland / Moskauer Soziologe Konstantin Gaaze: „Es darf niemanden mehr geben, der mit Putin unzufrieden ist“
Bei der jährlichen Militärparade zum Sieg über Nazi-Deutschland: Der Politiker Putin ist älter geworden, aber sich selbst treu geblieben Foto: AFP/Mikhail Metzel

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Seit mehr als zwei Jahrzehnten regiert ein Mann Russland: Wladimir Putin. Doch die Legitimationserzählung seiner Herrschaft hat sich seither mehrfach gewandelt. Ein Gespräch mit dem Moskauer Soziologen Konstantin Gaaze.

Bei seinem jüngsten Auftritt am Siegestag zeigte der Kreml-Chef wieder einmal sein angriffslustiges Gesicht. Wladimir Putin holte zum Schlag gegen die äußeren Feinde Russlands aus: „Ein Haufen nicht beseitigter Nazi-Schergen“, eine historische Anspielung auf die Kontrahenten der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg. Gemeint waren heutige osteuropäische Staaten wie die Ukraine und die Baltenrepubliken. Man kennt die prägnanten Formulierungen Putins, die er in mehr als zwei Jahrzehnten an der Macht immer wieder publikumswirksam eingesetzt hat. Der Politiker Putin ist älter geworden, aber sich selbst treu geblieben. Was sich hingegen gewandelt hat, ist die ideologische Unterfütterung seiner Herrschaft. Der Putinismus hat über die Jahre sein Gesicht verändert.

Drei Phasen des Putinismus zählt Konstantin Gaaze. Gaaze ist Soziologe und politischer Beobachter in Moskau. In seinem samstäglichen Politik-Podcast, den er gemeinsam mit dem „Medusa“-Journalisten Andrej Perzew gestaltet, nimmt er die russische Elite ins Visier und unterzieht sie einer kritischen Analyse. Vor allem die Verschiebungen im russischen Machtapparat interessieren den Kommentator.

Es darf niemanden mehr geben, der mit Putin unzufrieden ist

Konstantin Gaaze

Die erste Phase des Putinismus umfasst grob gesagt die Nullerjahre. Damals trat der Putin’sche Staat vor allem als Wohltäter auf. Der hohe Ölpreis spülte Geld in die Staatskassen. „Der Staat wurde zum Haupt-Umverteiler des Wohlstands im Land“, erklärt Gaaze. „Jeder Bürger sollte zumindest ein kleines Stückchen davon erhalten.“ Diese Phase hatte spätestens 2011 ihren Höhepunkt erreicht. Die Ukraine-Krise 2014 läutete eine neue ideologische Matrix ein. Der Putinismus legitimierte sich nun durch die wiedererlangte nationale Größe und weniger durch Wirtschaftswachstum. Tatsächlich verdüsterten sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zusehends. Der Ölpreisverfall und die Auswirkungen der westlichen Sanktionen sowie der russischen Gegensanktionen schlugen auf die Volkswirtschaft, die sich bis heute nicht erholt hat. Auch die Bürger spüren das: Die russischen Realeinkommen sind seit damals stetig gesunken.

Schattenregierung in Uniform

Seit kurzem gebe es den Putinismus 3.0, sagt Gaaze. Der halte seine Bürger mit Durchhalteparolen gefügig nach dem Motto: „Ihr wolltet doch nationale Größe, also geduldet euch noch ein wenig.“ Wenn man Gaaze fragt, was das wichtigste Element des Putinismus heutzutage ist, dann nennt er den Begriff Loyalität.

„Um ein Objekt der staatlichen Fürsorge zu sein, muss man Loyalität beweisen.“ Schon nach der Krim-Annexion habe sich der Begriff der politischen Nation verengt: Gegner der Übernahme wurden als Verräter gebrandmarkt. Diese Tendenz habe sich aktuell weiter verstärkt. „Man darf überhaupt keinen öffentlichen Widerspruch mehr ausdrücken. Es darf niemanden mehr geben, der mit Putin unzufrieden ist. Wenn man seine Unzufriedenheit zeigt, wird man nicht mehr als Bürger der Russischen Föderation betrachtet.“ Als Beleg zählt Gaaze einen Gesetzesvorschlag, der Unterstützer von Alexej Nawalny von der Kandidatur für ein politisches Amt ausschließen will. 

Die repressive Gangart hat mehrere Folgen: Der Einfluss von Geheimdiensten, Polizei und Militär sei gestiegen, so weit, dass man von einer neuen Regierungsvertikale – einer Art Schattenregierung – sprechen könne. Das könnte künftig die Konflikte innerhalb der Elite verstärken, glaubt Gaaze: „Menschen in Uniform gegen solche ohne Uniform.“ Indem Putin immer mehr auf die Sicherheitskreise als Garanten seiner Herrschaft zähle, habe er sich von ihnen abhängig gemacht. „Er ist zu ihrem Protegé geworden. Er kann keine Kehrtwendung in Richtung Demokratisierung mehr einschlagen.“

Die „unsichtbare“ Machtelite könnte auch zum Problem für die offizielle Legitimation des Putinismus werden. Denn auch die Menschen würden zusehends bemerken, dass die Macht nicht in den Händen jener ist, die formal in Regierungsämtern sitzen oder die durch Wahlen in Positionen gewählt werden. „Die demokratischen Institute werden also noch dekorativer, als sie es bereits sind.“

Soziologe Konstantin Gaaze
Soziologe Konstantin Gaaze  Foto: privat

Zur Person

Konstantin Gaaze ist Soziologe in Moskau. Von 2006 bis 2008 war er als Berater in einem russischen Ministerium tätig. Heute ist er freischaffender Journalist, Analyst und Podcaster.

Claude Oswald
19. Mai 2021 - 12.27

Die Russen haben den Putinismus, und wir haben den Katholizismus. Unser Papst gilt sogar offiziell als unfehlbar. Stimmt doch, oder ?

Pir
18. Mai 2021 - 17.23

@HTK "Wenn ein KGB-Spezialist die Gunst der Stunde abwartet um ein neues „Regime“ aufzubauen" Die KGB Leute sollten mal beim CIA in die Lehre gehen, die können das viel besser!

HTK
18. Mai 2021 - 13.01

Was zum Kuckuck ist denn "Nationale Größe"? Wenn das Volk hungert und man hat modernste Waffen? Wenn Korruption jeden Demokratie-Versuch im Keime erstickt? Eine Uniform mit 10 Kilo Medaillen? Wenn ein KGB-Spezialist die Gunst der Stunde abwartet um ein neues "Regime" aufzubauen? Wie groß ist Palästina oder Israel?usw.usw. Die Weltgemeinschaft wird wohl Utopie bleiben solange wir nach Nationaler Größe trachten. Die Welt braucht nicht gerettet zu werden,nur der Mensch.