Kanner- a Jugendtelefon„Anfragen zum Thema Suizidalität haben sich verdoppelt“

Kanner- a Jugendtelefon / „Anfragen zum Thema Suizidalität haben sich verdoppelt“
Am internationalen „Child Helpline Day“ stellte das „Kanner- a Jugendtelefon“ seine neue Webseite und eine neue Beratungsform über Chat vor. Zudem zog das KJT Bilanz und stellte vermehrt Ängste bei den jungen Menschen fest. Foto: Editpress/Hervé Montaigu

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Vor versammelter Presse stellte das „Kanner- a Jugendtelefon“ am Montag seine neue Webseite sowie einen neuen Dienst der Chat-Beratung vor. Besorgniserregend waren insbesondere Aussagen darüber, dass immer mehr Kinder und Jugendliche in der Pandemie Ängste aufbauen. Auch die Tatsache, dass jeder junge Mensch einen Jugendlichen kennt, der Selbstmordgedanken hegt oder Suizid begangen hat, lässt aufhorchen.

Das „Kanner- a Jugendtelefon“ (KJT) baut sein Angebot aus. Neben der Ankündigung einer neuen Webseite und einer neuen Beratungsform über Chat hat das KJT am Montag, dem Internationalen „Child Helpline Day“, seinen Jahresbericht vorgestellt. Passend zur Pandemie trägt das Maskottchen auf dem Bilanzheft eine Atemschutzmaske. Barbara Gorges-Wagner, Direktorin des „Kanner- a Jugendtelefon“, bezifferte die Kontakte, die 2020 an das KJT gerichtet wurden, auf 1.589. Im Jahr davor waren es mit 1.713 einige mehr. „Das mag erstaunen“, sagte sie. Auch wenn die reine Zahl der Kontakte 2020 im Vergleich zum Vorjahr rückläufig war, habe die Intensität der Gespräche zugenommen. Im Zentrum der Anfragen stand Corona.

Besonders viele Kinder zwischen zehn und zwölf Jahren haben sich gemeldet und hatten Angst, dass jemand in der Familie oder sie selber sterben könnten

Barbara Gorges-Wagner, KJT-Direktorin

„Besonders viele Kinder zwischen zehn und zwölf Jahren haben sich gemeldet und hatten Angst, dass jemand in der Familie oder sie selber sterben könnten“, sagte die Direktorin. „Bei den Anrufen, die wir zu der Zeit hatten, war eine sehr große Verunsicherung zu spüren.“ Ganz vorne im Jahresbericht rangieren laut Gorges-Wagner die psychosozialen Themen wie Einsamkeit, Depressionen, Familienkonflikte, Streit mit Freunden, Missbrauch und Gewalt. „Es ist uns aufgefallen, dass besonders Anliegen rund um die psychosoziale Gesundheit wie Angst, Einsamkeit und Sorgen an allen Helplines zugenommen haben.“ Alleine an der Rufnummer 116111 des KJT hätten sich diese Fälle verdoppelt.

Der Webdienst Online-Help des KJT sei in der Pandemie am meisten gefordert gewesen, so Gorges-Wagner. Es gab einen Anstieg um 33 Prozent. Das entspricht 313 Anfragen, die der Online-Dienst beantwortet hat. Im Jahr davor waren es 237. „Das ist richtig viel für so ein Team“, so die Direktorin. Bei auffallend vielen Fällen sei es um Depressionen gegangen. 2020 waren es 21 konkrete Anfragen, 2019 waren es 14. Die Anfragen zum Thema Suizidalität hätten sich verdoppelt. Dazu gehören sowohl latente Suizidalität als auch akute.

Ein weiterer Dienst des KJT ist das Elterntelefon. Dort standen die Konflikte in der Familie ganz oben auf der Liste. Als Fazit aus den Elterngesprächen hält das „Kanner- a Jugendtelefon“ fest, dass die Stimmung in den Familien sowohl von den Kindern und Jugendlichen als auch von den Eltern als angespannt, gereizt und nervös beschrieben wird.

Laut Barbara Gorges-Wagner, Direktorin vom „Kanner- a Jugendtelefon“, wird oft unterschätzt, wie viel Mut es Kinder und Jugendliche kostet, das KJT anzurufen oder sich schriftlich an die Organisation zu wenden. 
Laut Barbara Gorges-Wagner, Direktorin vom „Kanner- a Jugendtelefon“, wird oft unterschätzt, wie viel Mut es Kinder und Jugendliche kostet, das KJT anzurufen oder sich schriftlich an die Organisation zu wenden.  Foto: Editpress/Hervé Montaigu

Im Bereich der Gewalt gab es 2019 insgesamt 85 konkrete Anfragen, 2020 waren es 97. Das umfasst körperliche, sexuelle sowie psychische Gewalt, Vernachlässigung und Mobbing. „Das KJT will Kindern insbesondere in diesem Bereich eine Stimme geben“, sagte Gorges-Wagner. Das Motto der Organisation drücke es so aus: „Bleif net eleng, ruff un!“ Doch es werde unterschätzt, wie viel Mut es kostet, das Telefon in die Hand zu nehmen oder dem KJT zu schreiben, so die Direktorin. Diesen ersten Schritt zu tun, um Hilfe zu bekommen, sei aber sehr wichtig und könne der Anfang für alle weiteren Schritte sein.

Verschlimmerung der mentalen Gesundheit bei Jugendlichen

Mathis Godefroid ist der Präsident des Jugendrates (CGJL). Er ist die Stimme der Jugend. Auf der Pressekonferenz am Montag befasste er sich mit der mentalen Gesundheit der Jugendlichen. Diese sei von enormer Wichtigkeit. Laut Godefroid hat die mentale Gesundheit den gleichen Stellenwert wie die körperliche Gesundheit. „Wir sehen seit geraumer Zeit, dass die Jugend in Luxemburg durch eine Verschlimmerung der mentalen Gesundheit gekennzeichnet ist“, sagte er. In den 30 Organisationen, die zum Jugendrat gehören, habe man festgestellt, dass sich die jungen Menschen sehr viele Sorgen machen, sei es um ihre Zukunft, ihre Finanzen, ihre schulischen Leistungen, ihre Familie, Freunde oder um die Covid-Situation.

Mittlerweile ist es sogar schon so schlimm, dass fast jeder Jugendliche uns erzählt, einen anderen Jugendlichen zu kennen, der Selbstmord begangen hat oder einen Selbstmordversuch hinter sich hat

Mathis Godefroid, Präsident des Jugendrates

„Die Covid-Situation hat keine neuen Phänomene mit sich gebracht, hat aber die bereits bestehende Krise der mentalen Gesundheit bei der Jugend in Luxemburg weiter verstärkt“, so Godefroid. Viele Jugendliche hätten bereits ein großes Pensum an Sorgen gehabt, hinzu sei noch ein sehr großer Leistungsdruck gekommen, sagt er. Dieser gehe oft auf die Schule zurück und habe mit den gesellschaftlichen Anforderungen an unsere Jugend zu tun. „Als junger Mensch muss man heute immer mehr leisten. Dieser Druck kann zu schweren Konsequenzen führen.“ Als Beispiel nannte der Präsident des Jugendrates Depressionen. „Es ist überaus traurig, dass solch junge Menschen bereits so schwere Symptome aufzeigen“, sagte er. „Mittlerweile ist es sogar schon so schlimm, dass fast jeder Jugendliche uns erzählt, einen anderen Jugendlichen zu kennen, der Selbstmord begangen hat oder einen Selbstmordversuch hinter sich hat“, so Godefroid.

Mathis Godefroid, Präsident des Jugendrates, sagt, dass man Hilfsangebote für Jugendliche noch mehr promovieren und weiter professionalisieren sollte
Mathis Godefroid, Präsident des Jugendrates, sagt, dass man Hilfsangebote für Jugendliche noch mehr promovieren und weiter professionalisieren sollte Foto: Editpress/Hervé Montaigu

Eine Umfrage, die der Jugendrat bei den Jugendlichen durchführte, ergab, dass viele junge Menschen die jeweiligen Hilfsangebote wie die des KJT in Luxemburg kennen. Auch ergab die Umfrage, dass die Jugendlichen teilweise davon Gebrauch gemacht haben. „Wir haben zudem festgestellt, dass ein professionellerer Ausbau der Hilfsstrukturen, des schulischen und außerschulischen Rahmens, wichtig und notwendig ist.“ Positiv sei, dass sich das Angebot dieser Hilfestellen konstant weiterentwickele, mehr Zuschüsse und auch mehr Unterstützung bekomme. Dadurch könne man eine professionellere Hilfe anbieten, die bitter notwendig sei. „Wir wollen darauf aufmerksam machen, dass diese Angebote noch nicht breit genug nach außen gezeigt werden und auch nicht genug promoviert werden.“ Auch müssten sie für junge Menschen auf einfachste Weise zugänglich gemacht werden. In dieser Hinsicht begrüßte Godefroid den neuen Chat-Dienst des KJT.

Am Dienstag wird der Chat zum ersten Mal angeboten. Hier werden vor allem junge Menschen eingesetzt, die den Kindern und Jugendlichen bei ihren Problemen helfen können. Das Verfahren nennt sich „Peer-to-Peer“. Also quasi von jungen Leuten für junge Leute. Das Team besteht aus 15 Mitarbeitern. Im Hintergrund stehen professionelle Berater bereit. In einer ersten Phase ist es angedacht, dass der Chat immer dienstags von 18 bis 21 Uhr abgerufen werden kann. „Wenn das gut läuft, könnten wir auch einen zweiten Chat-Abend in der Woche anbieten“, sagte Gorges-Wagner.

KJT als „Eingangstür“ für Problemlösungen

Durch den Einsatz junger Leute in der Chat-Beratung könne man die Hemmschwelle senken, sagte Charel Schmit, Ombudsmann für Kinder und Jugendliche (OKaJu). Er bezeichnet das KJT als „Eingangstür“ für junge Menschen, die über ihre Probleme reden wollen. „Dort sind sie sicher, dass sie anonym bleiben und können sich einer Person anvertrauen.“ Vielleicht dauere es dann ein paar Tage oder Wochen, bis sie sich dazu entschließen, bei anderen Stellen im Sozialbereich oder Gesundheitswesen anzuklopfen. „Ich sehe das KJT als ein ganz wichtiges Glied in der Präventionskette im Kinderschutz, zu dem viele andere Glieder dazugehören.“ Man müsse das KJT unbedingt noch bekannter machen. Dessen Telefonnummer dürfe in keinem Klassenraum und in keiner „Maison relais“ fehlen. „Bei Fragen der Diskriminierung oder der Justiz sind dann wir vom OkaJu da“, so Schmit.

Der Ombudsmann für Kinder und Jugendliche, Charel Schmit, bemängelt, dass man in der Pandemie gegenüber jungen Menschen kaum Zugeständnisse gemacht habe
Der Ombudsmann für Kinder und Jugendliche, Charel Schmit, bemängelt, dass man in der Pandemie gegenüber jungen Menschen kaum Zugeständnisse gemacht habe Foto: Editpress/Hervé Montaigu
Aus Sicht der Kinderrechte stellen wir fest, dass Kinder und Jugendliche in den letzten Monaten den vollen Druck im Kessel zu spüren bekommen

Charel Schmit, Ombudsmann für Kinder und Jugendliche

„Aus Sicht der Kinderrechte stellen wir fest, dass Kinder und Jugendliche in den letzten Monaten den vollen Druck im Kessel zu spüren bekommen.“ Sein Vorgänger René Schlechter sprach im vergangenen November von einer schleichenden Traumatisierung durch die Pandemie. „Da waren wir noch nicht mal in der Hälfte“, sagt Schmit. Gegenüber Kindern und Jugendlichen habe man kaum Zugeständnisse gemacht. „Deshalb ist es so wichtig, dass wir Stellen haben, wo Ventile angeboten werden, und dass wir neben der digitalen Aktivität auch die analoge Erlebniswelt anbieten.“

Ebenfalls eingeladen auf die Pressekonferenz war Bildungsminister Claude Meisch. Er ließ sich entschuldigen und durch Nathalie Keipes, Direktorin des Bildungsministeriums, vertreten. Er habe den Termin kurzfristig absagen müssen, sagte Barbara Gorges-Wagner. Das KJT hat eine Konvention mit dem Bildungsministerium abgeschlossen. Claude Meisch würde das neue Projekt der Chat-Beratung ausdrücklich unterstützen, so die KJT-Direktorin. Neben der Konvention mit dem Ministerium fungieren vier Organisationen als Träger des KJT: das Rote Kreuz, die Caritas, das „Kannerschlass“ und die „Ligue médico-sociale“. Sie sind seit fast 30 Jahren Teil der KJT-Plattform.