Der Kampf um die richtigen NamenWie Russland um seine Geschichte streitet

Der Kampf um die richtigen Namen / Wie Russland um seine Geschichte streitet
Streit ums vergessene Erbe: Altes Haus in der Lunatscharskij-Straße  Foto: Jutta Sommerbauer

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Im idyllischen Städtchen Tarussa sollen sowjetische Straßennamen durch vorrevolutionäre ersetzt werden. Die Mehrheit der Bürger ist dagegen. Warum? Ein Lokalaugenschein.

Außerhalb des Stadtzentrums von Tarussa, zehn Minuten flussabwärts die Oka entlang, stand die hölzerne Datscha der Familie Zwetajewa im dichten Grün. Hier verbrachte die Dichterin Marina Zwetajewa als Kind mehrere Sommer. Es waren unbeschwerte Tage, an die sie sich später gern erinnern würde. In Gedichten und Notizen hat sie das Städtchen im südlich von Moskau gelegenen Gebiet Kaluga verewigt. So sehnte sie sich danach, „in Stille die alte Kaluga-Straße entlangzugehen“. Das war im Jahr 1916.

Statt Stille kam Aufruhr. Bald nach der Machtergreifung der Bolschewisten verließ Zwetajewa Russland in Richtung Westen. An die Poetin erinnert in Tarussa heute eines jener für Russland typischen Literaten-Museen, die persönliche Gegenstände so geflissentlich horten wie Sammler ihre Briefmarken. Von der Familien-Datscha ist nichts mehr übrig. An ihrer Stelle wurde eine Betonfläche ausgegossen, die in der Sowjetära als Tanzplatz diente. Auch die Kaluga-Straße gibt es nicht mehr. Nach der Revolution wurde sie zur Lenin-Straße. So heißt sie noch immer. Einstöckige Häuschen und weiß getünchte Randsteine säumen ihren Weg.

Es ist eine Frechheit, so mit den Leuten umzugehen

Viktoria Gubarewa, Die ehemalige Lehrerin ist gegen die Umbenennung

Um das, was war, und das, was ist, um das verlorene und vergessene Erbe dreht sich auch ein Streit, der in dem 10.000 Einwohner zählenden Städtchen entbrannt ist. Der Konflikt kreist um Tradition und Identität sowie um die Frage, welche Geschichte eigentlich bewahrenswert ist. Die von Zwetajewa und ihrer Ära? Oder die ihrer sowjetischen Nachkommen?

Schock im Oktober

Alles begann mit einer Sitzung im Oktober 2020. Damals stimmte der Stadtrat für die Umbenennung von 16 Straßen im Zentrum. Die aus der Sowjetzeit stammenden Bezeichnungen sollten durch die historischen Straßennamen aus vorrevolutionärer Zeit ersetzt werden. Aus der Pionier-Straße sollte wieder die Gartenstraße werden, aus der nach dem Volkskommissar für Bildung benannten Lunatscharskij-Straße die Ziegel-Straße, und die Lenin-Straße sollte wieder Kaluga-Straße heißen, wie bei Zwetajewa. Es war eine Entscheidung, die für die Bürger ohne Ankündigung und Einbeziehung kam.

Leninplatz im Zentrum von Tarussa
Leninplatz im Zentrum von Tarussa Foto: Jutta Sommerbauer

„Es war ein Oktoberumsturz“, sagt Viktoria Gubarewa. „Ein absoluter Schock.“ Gubarewa, 60 Jahre alt, blaue aufgeweckte Augen, ist eine ehemalige Lehrerin. Sie beschäftigt sich seit Jahren mit der Geschichte Tarussas. Gubarewa war vom Vorgehen der Behörden entrüstet – und mit ihr viele andere Bewohner. „Es ist eine Frechheit, so mit den Leuten umzugehen“, empört sie sich noch heute, Monate später, bei einem Treffen auf dem Lenin-Platz.

Die Behörden beriefen sich auf das historische Erbe der Stadt: Um mehr Touristen anzuziehen, müsse sich Tarussa von anderen Städten unterscheiden. Doch bald wurde klar, dass es noch um andere Interessen ging: Die Initiative ging vom neuen Bezirkschef, Ruslan Smolenskij, aus. Smolenskij steht mit politischen Kreisen in Verbindung, die den Einfluss der orthodoxen Kirche in der Öffentlichkeit stärken wollen.

Mit diesem Projekt rund um den „orthodoxen Oligarchen“ Konstantin Malofejew sollte die Sowjetepoche offenbar getilgt werden. Doch die Aktivisten hatten nicht mit den störrischen Bürgern von Tarussa gerechnet. „Sofort schlossen sich Menschen verschiedenster politischer Ansichten zusammen, um dagegen zu demonstrieren“, erinnert sich Gubarewa. Es kam zu Protestkundgebungen – äußerst ungewöhnlich in der verschlafenen Provinz. Tarussa, so ist die frühere Lehrerin überzeugt, sei eben ein „Dissidentennest“. Das Städtchen zieht bis heute Künstler und Forscher an. Und die seien eben „gegen die Macht“ – egal, gegen welche.

Nichts für Feiglinge

Der Fall zeigt, dass Entkommunisierung 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Russland ein Minenfeld und nicht mehrheitsfähig ist – zumindest nicht auf die Art, wie sie hier versucht wurde. Russland unterscheidet sich damit von anderen postsowjetischen Ländern, wo Straßen und Plätze oft auf Wunsch der lokalen Bevölkerung umbenannt wurden. Hierzulande kam die Entfernung des Sowjeterbes aus dem Stadtbild nie recht in Schwung. Zwar wurde die Statue von Felix Dserschinskij im Moskauer Zentrum abgebaut. Heute diskutiert man erneut über ihre Wiederaufstellung. In nahezu jeder russischen Stadt findet sich ein Prospekt (Boulevard), der nach Revolutionsführer Lenin benannt ist. Die Geschichtsaufarbeitung wurde ganz offiziell abgesagt.

Beide Straßenschilder hängen bereits: Die Dekabristen-Straße soll in Ufer-Straße umbenannt werden.
Beide Straßenschilder hängen bereits: Die Dekabristen-Straße soll in Ufer-Straße umbenannt werden. Foto: Jutta Sommerbauer

Viele Russen identifizieren sich daher nach wie vor mit der Sowjetgeschichte. Man blickt auf sie mit Stolz, sieht sie als „das Eigene“. Hört man sich in Tarussa um, ist es schwer, einen Anhänger der historischen Namen zu finden. „Ich bin gegen die Umbenennung. Wir leben hervorragend mit diesen Straßenbezeichnungen“, sagt eine Bewohnerin der Lunatscharskij-Straße. Auch ein Bewohner der Pionier-Straße ist dagegen. Das verursache nur Kosten für die Betroffenen, sagt der 45-Jährige und fügt hinzu: „Das ist die Geschichte meiner Generation.“ Einzig seine Nachbarin tritt für die Neubezeichnung ein. „Gartenstraße – das klingt inspirierend“, findet sie. Eine Minderheitenmeinung.

Und der Streit? Der harrt seiner Lösung. Die Behörden wollen die Umbenennung um ein Jahr verschieben. Eine Kommission soll bis dahin Vorschläge sondieren. Die lokalen Funktionäre sind in Deckung gegangen. Der Bürgermeister wollte das Tageblatt nicht treffen, um die Stimmung „nicht weiter anzuheizen“. Bezirkschef Smolenskij stimmte zunächst einem Gespräch zu, war danach aber nicht mehr erreichbar. Tarussas Bewohner zitieren gern ein Sprichwort: „Tarussa ne dlja trusow“. Übersetzt heißt das: Tarussa ist nichts für Feiglinge.

Claude Oswald
15. Mai 2021 - 14.33

Entgéint deem wat déi westlech Press munchmol schreift, hunn d’Russen de Sozialismus zu Sowjetzäiten net onbedingt als negativ erlieft. Méng Madame kënnt aus Russland. Si huet d’Sowjetunioun matgemaach, an awer och déi Zäit nom Enn vun der Sowjetunioun. Si seet mer, et wier zu Sowjetzäiten esou munches besser geregelt gewiescht, wéi haut. Déi wierklech schlëmm Zäit wier fir vill Leit nom Enn vun der Sowjetunioun koum. Amplaz Fräiheet a Wuelstand hätte Chaos a Gewalt sech breedgemaach, a vill Mënsche wieren an d’Aarmut gerutscht. De „wëlle Kapitalismus“ hätt vläicht eng Partie Oligarche produzéiert, déi sech hemmungslos alles ënnert den Nol gerappt hunn ; awer den Duerchschnëttsbierger wier bei dem „regime change“ de Verléierer gewiescht. Vun dohir kann ech verstoen, dass de Lenin ëmmer nach gewësse Sympathien huet.