Umwelt  Das System Ernährung muss sich ändern 

Umwelt   / Das System Ernährung muss sich ändern 
Ernährungssoziologin Rachel Reckinger (45) erklärt, was schiefläuft in unserer Ernährung und warum eine hohe Eigenversorgung für Luxemburg wichtig ist   Foto: Sophie Margue

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Der allzeit verfügbare Lieblingsapfel ist keine Selbstverständlichkeit. Die Pandemie hat gezeigt, wie verletzlich die Versorgung mit Lebensmitteln ist. Die Ernährungssoziologin Rachel Reckinger (45) von der Uni.lu forscht mit ihrem Team darüber, wie Luxemburgs Ernährungssystem nachhaltiger gestaltet werden kann. Ein Gespräch über den Symbolwert von Fleisch, das eigene Gemüsebeet und eine Shopping-App.

Tageblatt: Warum beschäftigen Sie sich mit Ernährung? 

Rachel Reckinger: Ernährung ist ein Knotenpunkt, an dem viel zusammenkommt. Wichtige soziale Werte einer Gesellschaft wie Tradition, Herkunft, Integration oder Sozialisierung spiegeln sich in der Ernährung. Gleichzeitig ist sie ein Spannungsfeld, wo Nachhaltigkeit in all ihren Dimensionen verhandelt wird. Letztendlich bestimmt ein komplexes Ernährungssystem, was auf den Tisch kommt.

Der Fleischkonsum ist aber alles andere als nachhaltig …

Fleisch ist das Lebensmittel mit dem höchsten Stellenwert – nicht nur in westlichen Gesellschaften. Sobald der individuelle Reichtum größer wird, steigt der Konsum. Das ist weltweit so. Symbolisch ist das nachvollziehbar, unter Umweltkriterien ist es aber nicht vertretbar. Fleisch sollte wieder zum „Festschmaus“ werden, zum Gericht bei besonderen Anlässen, aber nicht für jeden Tag.

Was hat uns die Coronakrise in Bezug auf Ernährung gelehrt? 

Wir sind anfällig in unserer Versorgung mit Nahrungsmitteln. Und es hat sich gezeigt, dass nationale Interessen in einer Krise schnell sehr wichtig werden. Es hat sich auch gezeigt, dass der Grad an Eigenversorgung in den einzelnen Ländern ist nicht sehr hoch ist. 

Also zu wenig „Ernährungssouveränität“?

Ernährungssouveränität heißt, eine qualitativ hochwertige, regionale Produktion zu stärken. Das muss in einem demokratischen Kontext geschehen, der die Gleichberechtigung und Beteiligung von Erzeugern und Bürgern sicherstellt. Wir wären resilienter, wenn wir zumindest teilweise unabhängig von internationalen Importen wären. Viel mehr geht es um Fairness in einem ganzen System, wo jeder sich engagieren kann. Wir sollten die kollektive Verantwortung für unser Ernährungssystem nicht lediglich Landwirtschaft, Politik oder Konzernen überlassen.

Viele wollen aber Erdbeeren im Januar, Ananas das ganze Jahr über, Tomaten und Paprika im Winter aus Gewächshäusern …

Damit argumentieren Supermärkte und Bioläden für ihr Angebot. Wir haben doch aber gerade in der Coronakrise gesehen, dass die Menschen anfangen, auf ihren Balkonen oder im Garten Kräuter- und Gemüsebeete anzulegen. Das fördert den Bezug zu saisonalen Produkten und man lernt wieder, wann was wächst.

Reicht das denn?

Die Menschen brauchen Hilfestellung im Überfluss des Angebots. Nur so können sie entscheiden, was sie kaufen – den Bioapfel, den etwa Mitarbeiter eines „Atelier protégé“ geerntet haben, den konventionell produzierten Apfel aus der Region oder Spargel und Erdbeeren aus Argentinien. Langfristig muss es für jeden Einzelnen einfacher werden, nachzuvollziehen, ob ein Produkt, das er kauft, nachhaltigen Kriterien entspricht. Wir entwickeln gerade eine Shopping-App, die helfen soll.

Inwiefern?

Sie sortiert und kennzeichnet bestimmte Basislebensmittel nach verschiedenen Kriterien der Nachhaltigkeit. Da geht es um Umwelt, soziales Wohlbefinden, lokale Wirtschaft und „Good Governance“ von Unternehmen, also ob die Produktionsfirmen ethisch und nachhaltig geführt werden. Die Idee dahinter ist, dass die Konsumenten so direkt beim Einkaufen eine Information erhalten, die ihnen erlaubt, klarer zu vergleichen.

Das wird ja zum „Labelwald“ auf den Produkten …

Zur Vertrauensbildung ist es sehr wichtig, dass Lebensmittel gekennzeichnet werden, und zwar nicht nur mit den Labels, die sie schon haben. Ein einheitliches „Label der Labels“, das auf einen Blick mehr Transparenz erkennen lässt in Bezug auf ökologischen Fußabdruck, regionale Herkunft, Fairness oder Tierwohl beispielsweise wäre hilfreich.

Sie wissen schon, dass Sie da gerade Aldi, Lidl und vielleicht sogar Cactus in ihre Produktstrategie reinreden?

Ja. Aber diese Akteure haben ein großes Wissen über Ernährungsgewohnheiten und Produktionsbedingungen, viel Handlungsspielraum und wollen langfristig im Geschäft bleiben. Sie spüren den Trend zu regional und Bio. Der Handel muss mit ins Boot, wenn wir etwas verändern wollen. Außerdem müssen Gastronomie, Politik und Verwaltung, Forschung und Zivilgesellschaft, Produktion und Verarbeitungssektor auf Augenhöhe an einen Tisch.

Kann da der Ernährungsrat, der sich gerade in Luxemburg gründet, helfen?

Hoffentlich. Er will im Dialog mit allen im Ernährungssystem Beteiligten konkrete Projekte ausarbeiten und gemeinsam eine Diagnose, Leitlinien und Aktionen zum Wandel erstellen. Bisher läuft der Austausch vor allem in den einzelnen Sektoren. Ernährungsräte hingegen kombinieren staatliches Handeln, Initiativen der Wirtschaft und Innovation durch Zivilgesellschaft und Forschung.

Was wollen Sie denn verändern?

Wir brauchen ein gerechteres Ernährungssystem. Das, was wir jetzt haben, ist zu widersprüchlich. Wir haben einerseits Hunger und Mangelerscheinungen auf der Welt. Andererseits gibt es dort, wo es genug zu essen gibt, durch schlechte Ernährung bedingte Zivilisationskrankheiten. Und überall gibt es einen Rückgang an Biodiversität und zunehmende Umweltbelastungen wie Grundwasserverschmutzung, Erosion, Verarmung von Böden, Pestizidrückstände oder Abholzung.

Schlechte Ernährung?

Wenn die Tendenz zur einseitigen Ernährung mitsamt hohem Fleisch- und Zuckerkonsum weiter steigt, werden die gesundheitlichen Folgen weltweit in den nächsten Jahren weiter zunehmen. Diversifizierung unserer Ernährung ist aber nicht nur eine Sache der Vielfalt im Geschmack und der Abwechslung auf dem Teller, sondern hat existentielle Effekte. Die abnehmende Artenvielfalt bei den Kulturpflanzen und Nutztieren wirkt sich negativ auf die Widerstandsfähigkeit gegenüber neuartigen Viren oder Bakterien aus.

Zurück zu Luxemburg: Sie bescheinigen dem Land gute Chancen, eine qualitativ hochwertige Eigenversorgung aufzubauen. Warum?

Die überschaubare Größe, die Multikulturalität – hier kommen viele Ideen zusammen –, und die kurzen Wege sind ein gutes Experimentierfeld. Ein Dialog mit allen Beteiligten kann hier schnell national aufgezogen werden. Luxemburg könnte in der EU Vorreiter einer Ernährungspolitik werden, die von mehreren Interessengruppen gemeinsam getragen wird, mit dem Ziel, das gesamte Ernährungssystem nachhaltiger zu gestalten.

Was braucht es dafür?

Einen Regierungs- und Kooperationsstil, der auf Fairness, ethischen Werten und Dialog beruht, und Akteure auf allen Ebenen und aus allen Bereichen des Ernährungssystems mit einbezieht.

Gehen Sie eigentlich unbefangen einkaufen?

Natürlich nicht. Ich schaue schon genau hin, was im Einkaufswagen landet. Und es ist gar nicht kompliziert. Wir essen gerne, dann sollten wir uns auch gerne mit dem Drumherum beschäftigen.

Zur Person

Rachel Reckinger (45) hat in Aix-en-Provence (F) Kulturanthropologie und Soziologie studiert, ein Erasmusjahr in Rom absolviert und sich auf Ernährungssoziologie spezialisiert. Sie hat an der „Ecole des hautes études en Sciences sociales“ (EHESS) in Marseille ihre Doktorarbeit zum Thema Önophilie vorgelegt. Seit 2008 forscht sie an der Uni.lu zu einer sozialeren und gerechteren Ernährung und leitet das Projekt Nachhaltige Ernährungspraktiken, food.uni.lu.

Restauranttipp

Rachel Reckingers Restauranttipp für besondere Anlässe ist René Mathieus „La Distillerie“ im Schloss von Burglinster. Die mit einem grünen Michelin-Stern gekürte Küche bietet ein vegetarisches, saisonales Angebot mit regionalen Speisen und kombiniert kreativ eine breite Gemüsepalette mit wilden, oftmals vergessenen Kräutern.

Die App „Goodness Groceries“

In diesem Projekt der Universität Luxemburg entsteht in Zusammenarbeit mit Informatikern und dem Pallcenter eine nachhaltige Shopping-App (https://food.uni.lu/projects/research-projects/sustainable-shopping-app/). In dem Pilotprojekt werden 20 Lebensmittel jeweils unterschieden nach „bio lokal“, „bio importiert“, „konventionell lokal“, „konventionell importiert“ und laut Nachhaltigkeitskriterien qualifiziert. Die App soll Ende des Jahres fertig sein.

Luxemburgs Selbstversorgungsgrad

Luxemburg produziert 115 Prozent des Rindfleischbedarfs, 99 Prozent der Milch, 67 Prozent des Schweinefleischs, jedoch nur 35 Prozent der Eier, drei bis fünf Prozent des Gemüses, 1,4 Prozent des Hähnchenfleischs und weniger als ein Prozent des Obstes selbst. Die Zahlen stammen vom „Service d’économie rurale“, Stand 2018.

Nomi
6. Mai 2021 - 17.58

Mat Industrieller Mal-bouffe get een Krank, an dann muss een Medikamenter schlecken fir d'Symptomer vun der Krankheet net mei' ze spieren. Me krank bleift een. Lei'sung : Gesond an natierlech Ernaehrung, fir net krank ze ginn . Keen Plastik an Kontakt met Iessen brengen ! Keng Pestiziden, keng Herbiziden a.s.w.

Blücher
6. Mai 2021 - 12.30

Es wird in diesem Interview , wie auch in der Politik, sehr viel von Nachhaltigkeit gesprochen, allerdings dieses Thema , außer den Bürger mit Umwelttaxen gängeln , alles nur heiße Luft. Die Bienen sind wichtiger Bestandteil in unserem Leben und immer mehr wird ihre Nahrungssuche in unseren Breiten schwieriger. In Dänemark müssen fünf Prozent der landwirtschaftlichen Anbauflächen mit Blumen für Bienen andere Insektenarten angelegt sein. Ohne Bienen kein Bioapfel. Es wäre ein Leichtes gewesen solch ein Gesetz auch in Luxemburg auf den Instanzenweg zubringen, doch unser grüner Betonminister Bausch baut lieber asphaltierte Fahrradwege oder das Prestigeobjekt „Tram“.

HTK
6. Mai 2021 - 9.07

Jetzt kommen die Mehlwürmer & Co. 10 000 000 000 Menschen wollen ernährt sein wenn die Meere leergefischt sind und die Äcker nichts mehr hergeben wegen Trockenheit und Überdüngung.