„Lancet“-ArtikelLuxemburger Forscher fordern: Nicht nur auf die Inzidenz schauen!

„Lancet“-Artikel / Luxemburger Forscher fordern: Nicht nur auf die Inzidenz schauen!
Inzidenzen? Kann man so nicht vergleichen, finden Experten aus Luxemburg. Foto: Editpress/Frank Goebel/Pixabay

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Die reine Betrachtung der Inzidenz ist untauglich, um die Heftigkeit des Infektionsgeschehens zu erkennen – das ist die Ansicht dreier Luxemburger Forscher, die sie im renommierten Wissenschaftsjournal „The Lancet“ darlegen. Dazu gibt es Vorschläge, wie man es besser machen könnte. Denn: Die nächste Pandemie kommt bestimmt.

Unabhängige Forscher?

Die Autoren des hier vorgestellten Lancet-Artikels sind mittelbar verbunden mit der Administration Luxemburgs: Der Universitätsprofessor Paul Wilmes fungiert auch als Sprecher der „Research Luxembourg“-Taskforce, die der Regierung wissenschaftlichen Rat im Kampf gegen die Pandemie gibt. Dr. Joël Mossong und Dr. Thomas Dentzer arbeiten bei der luxemburgischen Gesundheitsbehörde („Direction de la Santé“).

Am Inhalt des Geschriebenen beziehungsweise an dessen Statthaftigkeit sollten trotz der Nähe zur Regierung aber trotzdem wenig Zweifel bestehen – wenn man auf die Systeme der Wissenschaftlichkeit vertraut: Wie alle anderen Artikel auch, die es in das 1823 gegründete Medizin-Fachmagazin „The Lancet“ schaffen wollen, musste sich auch dieser Beitrag einem Kreuzgutachten („Peer Review“) durch unabhängige Experten stellen.

Von der Inzidenz, also dem Auftreten von Fallzahlen in Relation zur Bevölkerungsgröße, hängt in der Pandemie eine Menge ab: Beispielsweise galt Luxemburg den deutschen Nachbarn lange als „Risikogebiet“, weil hierzulande die Sieben-Tage-Inzidenz den (aus Sicht des Robert-Koch-Instituts) kritischen Wert von 50 überschritten hatte (das Tageblatt berichtete mehrfach). Diese Einstufung gilt zwar immer noch, hat aber derzeit keine spürbaren Konsequenzen – weil die Inzidenz in Deutschland, wie praktisch überall in Europa, sowieso so hoch ist, dass derzeit eigentlich erst dreistellige Werte überhaupt noch Aufregung verursachen.

Aber wie aussagekräftig ist der Wert überhaupt? Schon zu den Zeiten der Einreisebeschränkungen gab es Protest aus Luxemburg, dass die Inzidenz nur scheinbar hoch sei, weil Luxemburg viel und zielgerichtet teste. Nach dem Motto: „Wer viel testet, findet auch viel“ (Gesundheitsministerin Paulette Lenert). 

Diese Sichtweise stützt nun auch ein Text der Luxemburger Forscher Paul Wilmes, Joël Mossong und Thomas G. Dentzer (siehe Textbox), der im Wissenschaftsjournal The Lancet Regional Health erschienen ist – unter der Überschrift „Länderspezifische Covid-19-Inzidenzen: Ein verzerrter Blick auf die epidemiologische Situation“ (hier der Artikel als PDF in englischer Sprache).

Die Autoren weisen darauf hin, dass in Luxemburg jeder Einwohner im Durchschnitt 3,6-mal getestet wurde: Das viele Testen – natürlich auch über die Massentests des Large Scale Testing – habe dafür gesorgt, dass die Positivrate mit 2,6 Prozent vergleichsweise niedrig geblieben sei. In anderen Ländern sei diese Rate deutlich höher, etwa bei 17 Prozent in den Niederlanden.

Ist (oder war) im Land der Deiche also fast jeder sechste Einwohner Corona-infiziert? Das legen auch die Lancet-Autoren nicht nahe – wohl aber, dass dort vor allem getestet wurde, wenn Symptome oder andere Verdachtsmomente für eine Infektion vorlagen. In Luxemburg sei dagegen großflächig und umfassend getestet worden, wodurch der Zufall stärkeres Gewicht bekam – und auch kaum eine Corona-Infektion unentdeckt geblieben sei. Folge: Weil in Luxemburg auch vergleichsweise viele symptomlos Erkrankte als infiziert erkannt werden, steigt die absolute Zahl der Fälle an – was dann zu einer hohen Inzidenz führt.

Besonders durchseucht – oder besonders ehrlich?

Hat Luxemburg womöglich gar nicht so hohe, dafür aber realistischere Fallzahlen? Eine wöchentliche, repräsentative serologische Stichprobe unter Luxemburgs Einwohnern hat zu einem Zeitpunkt im Januar 48.264 Fälle erwarten lassen, schreiben die Luxemburger. Diesen Wert hätten die tatsächlich registrierten Fälle fast punktgenau getroffen: „Verglichen mit den 48.630 Fällen, die bis zu diesem Datum erfasst wurden, deutet dies darauf hin, dass die Fallerkennung in Luxemburg sehr hoch ist und nur etwa 0,8 Prozent der Fälle unentdeckt geblieben sind.“ Auch das wäre sagenhaft genau: Daten aus Belgien ließen den Autoren zufolge den Schluss zu, dass dort rund 62 Prozent aller Fälle unentdeckt geblieben sein könnten.

 Foto: Editpress-Archiv

Die reine Inzidenz habe also für die Forscher wenig Aussagekraft. Sie befürchten, „dass die länderspezifischen Covid-19-Inzidenzwerte möglicherweise eher die unterschiedlichen Fallerfassungsraten widerspiegeln als die tatsächlichen epidemiologischen Risiken für eine Infektion mit SARS-CoV-2“. Ihr Vorschlag: Länder und Regionen mit hohem Risiko über einen „nuancierteren Ansatz“ genauer zu definieren – etwa über die „Positivitätsraten, die Belegung von Krankenhäusern und Intensivstationen sowie Daten zur Seroprävalenz“. Denn: „Die Verfügbarkeit kohärenter Daten verschiedener Länder, die in einer gut koordinierten, europaweiten Weise gesammelt und ausgetauscht werden, wird von grundlegender Bedeutung sein, um sinnvolle Vergleiche in den kommenden Wochen und Monaten zu ermöglichen“, zitiert die Mitteilung Professor Paul Wilmes – der gegenüber dem Tageblatt diese Forderung weiter ausführt: „Eine zentrale Rolle könnte hier das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) spielen.“

Das sei zwar in den hitzigsten Phasen der Pandemie so nahe an der Belastungsgrenze gewesen wie viele andere Organisationen – aber jetzt sei möglicherweise eine gute Zeit, um kohärente Vergleichsmöglichkeiten zu schaffen. Sogar, falls es für diese Pandemie vielleicht schon zu spät sein: „Es wird nicht die letzte gewesen sein“, ist Wilmes sicher.