MeinungWas ist Integration? Antwort auf den Beitrag „Liebe weiße Männer“ von Elise Schmit

Meinung / Was ist Integration? Antwort auf den Beitrag „Liebe weiße Männer“ von Elise Schmit
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Anstatt hier die Kleider des Satirikers oder Polemikers anzuziehen, um auf Elise Schmits kontrollierten Wutausbruch zu antworten, möchte ich mich in jene Kleider hüllen, die mir aufgrund meines Studiums – Staatsexamen, Promotion, Habilitation – zustehen, nämlich in die Kleider des Philosophen – und Elise Schmit hat m.W. ja auch das Fach Philosophie studiert. Und was ein Philosoph – und ebenso natürlich eine Philosophin – immer am Anfang zu tun versucht, ist, den zur Diskussion stehenden Begriff zu bestimmen. Was ist also Integration?

Statt einer essentialistischen Definition ziehe ich hier eine Typologie vor und möchte, so wie Michael Walzer von Sphären der Gerechtigkeit gesprochen hat, von Sphären der Integration sprechen. Ich erhebe dabei keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit, noch soll mit der Reihenfolge der Auflistung irgendeine Hierarchisierung aufgedrängt werden. Auch wäre noch viel mehr zu sagen als das, was ich hier sage.
Beginnen wir mit der politischen Integration, die darin besteht, Menschen, direkt oder indirekt, am politischen Entscheidungs(findungs)prozess teilnehmen zu lassen. In Luxemburg darf jede Person, die die luxemburgische Staatsangehörigkeit besitzt und 18 Jahre alt ist, an den Legislativwahlen teilnehmen – ich lasse kleinere Hinderungsgründe aus. Ob man schwarz oder weiß, männlich oder weiblich, hetero- oder homosexuell, usw. ist, spielt dabei keine Rolle.

Jetzt wird jemand sagen: Das genügt nicht, sondern jede betroffene Gruppe muss auch im Parlament mit einer oder mehreren Personen repräsentiert sein. Wer das sagt, verlangt, dass wir uns wieder dem Modell des Ständestaates zuwenden – also dass wir reaktionär werden –, bloß dass wir dann einen Genderstaat hätten – wenn wir hier nur die Genderunterschiede berücksichtigen. Wir könnten eine bestimmte Sitzzahl für Frauen, Menschen aus der LGTBQIA+-Gruppe, Arbeiter, Menschen mit einer Behinderung, Leute aus der Privatwirtschaft, usw. reservieren. Wir „könnten“, aber bevor wir die politische Integration bis dahin treiben, sollten wir uns zunächst überlegen, ob es absolut notwendig ist.

Ob jemand eine Stelle bekommt oder nicht, sollte nur von der Kompetenz der Person abhängen, nicht von ihrem Geschlecht, ihrer Hautfarbe, ihrer sexuellen Ausrichtung, usw.

Ich möchte dann die rechtliche Integration erwähnen, die darin besteht, dass jeder Mensch, was auch immer seine Hautfarbe, sein Geschlecht, seine sexuelle Ausrichtung, usw., vom Recht geschützt wird und also Vollmitglied der Rechtsgemeinschaft ist. Wer mich, Norbert Campagna, zusammenschlägt, macht sich einer Körperverletzung schuldig; wer eine dunkelhäutige Person zusammenschlägt, bloß weil sie dunkelhäutig ist, macht sich einer Körperverletzung mit rassistischem Hintergrund schuldig, was, juristisch gesprochen, eine „circonstance aggravante“ darstellt. Ich habe nichts dagegen einzuwenden, dass Bosheit und Dummheit strenger bestraft werden als bloße Bosheit.

Jetzt wird jemand sagen: Das genügt nicht, sondern bestimmte Gruppen sollten auch vor bestimmten Witzen, Aussagen, usw. geschützt werden, denn neben der Körperverletzung gibt es auch die Gefühlsverletzung, und eine Frau, die sich etwa sexistische Witze anhören muss, wird in ihren Gefühlen und in ihrer Psyche verletzt. Schützt man sie nicht davor, integriert man sie nicht ganz in die Rechtsgemeinschaft. Ich verstehe den Einwand, warne aber davor, da man, wenn man seiner Logik konsequent folgt, auch Witze oder Karikaturen verbieten müsste, die das Gefühl religiöser Menschen verletzen. Und wo wird man aufhören? Auf Witze, die Frauen lächerlich machen, reagiert man am besten mit Witzen, die Männer lächerlich machen. Und vergessen wir nicht: Die besten Judenwitze stammen von … den Juden! Statt einer argumentativen Antwort verweise ich hier auf das Buch eines Psychoanalytikers: Moussa Nabati, L’humour-thérapie (Paris 1997), und füge nur noch hinzu, dass Gegenrede die beste Waffe gegen Rede ist.

Kommen wir dann zu einer dritten Sphäre der Integration, der ökonomischen Integration. Wir leben heute in einer Gesellschaft, in welcher die Menschen durch die Arbeit integriert werden. Wer keine Arbeit hat, lebt am Rande der Gesellschaft, und zwar nicht nur im bildlichen, sondern oft auch im wörtlichen Sinn. In einer gerecht organisierten Gesellschaft würde entweder jede Person eine Arbeit haben oder der soziale Reichtum würde so verwendet werden, dass niemand am Rande der Gesellschaft zu leben braucht. Und es würde jedem die Möglichkeit gegeben werden, durch eine Tätigkeit seinen Beitrag zum Allgemeinwohl zu liefern. In Erwartung dieses Idealzustandes sollte aber vorerst gelten: Ob jemand eine Stelle bekommt oder nicht, sollte nur von der Kompetenz der Person abhängen, nicht von ihrem Geschlecht, ihrer Hautfarbe, ihrer sexuellen Ausrichtung, usw.

Hier wird jemand sagen: Das genügt nicht, da die Gesellschaft Frauen und Männer in bestimmte Richtungen bei der Berufswahl orientiert. Das ist nicht ganz falsch, aber man kann nicht bestreiten, dass sich in den letzten Jahrzehnten hier einiges geändert hat. Vielleicht sollte man in den Schulen noch mehr hierzu informieren. Aber es wäre auch an der Zeit, eine Gleichwertigkeit der Berufe anzuerkennen und dieser auch einen ökonomischen Ausdruck zu verleihen: Wer den Klassensaal nach dem Unterricht ordentlich sauber macht, sollte mehr verdienen, als wer vorher in diesem Klassensaal schlecht unterrichtet hat! Und die allgemeine Höhe des Lohnes sollte nicht so sehr von der Studiendauer abhängig gemacht werden, sondern von der Härte der Arbeit bzw. ihrer Unannehmlichkeit.

Ich komme dann viertens zur sozialen Integration, die darin besteht, dass man an allgemeinen sozialen Praktiken teilnehmen kann. In Luxemburg kann niemand daran gehindert werden, einem Fußballspiel beizuwohnen, bloß weil man weiblich ist, oder schwarz oder homosexuell, oder … Jede Person ist gleichermaßen berechtigt, an den sozialen Praktiken jeder Art teilzunehmen.

Das Universelle, das sich in ihren Werken kundtut, sollte uns über alle unsere Unterschiede hinweg vereinen. Sie schrieben – malten, musizierten, … – alle als Menschen, mit einem weiblichen, homosexuellen, schwarzhäutigen, … Erfahrungshorizont, auf den man sie auf keinen Fall reduzieren sollte

Hier wird jemand sagen: Eine Person im Rollstuhl darf ins Theater gehen, ja, aber wenn sie nur über Treppen in den Theatersaal kann, wird sie faktisch daran gehindert, ins Theater zu gehen. Der Einwand ist berechtigt und es ist die Pflicht der öffentlichen Hand, auch behinderten Personen die Teilnahme an Theateraufführungen, usw. zu ermöglichen, etwa durch Zugangsrampen. Dabei wird man natürlich den gesunden Menschenverstand walten lassen müssen: Man kann einer Person im Rollstuhl nicht ermöglichen, auf dem Fußballfeld mitzuspielen. Aber man kann den Behindertensport unterstützen und einen Teil der Summe, die man in ein Prunkstadion investiert, in den Behindertensport investieren, um so vielen behinderten Menschen wie möglich zu erlauben, sich sportlich zu betätigen.

Sehen wir uns dann fünftens die, wie ich sie nennen möchte – aber über das Adjektiv kann man streiten – kulturelle Integration an. Gemeint ist damit die Integration in die dominante Kultur. Diese wird von vielen als eine weiße, männliche, heteronormative, usw. Kultur bezeichnet. In den Schulen liest man nur und spricht man nur über die Werke weißer heterosexueller Männer. Der Vorwurf ist nicht ganz falsch, nur ist es halt so, dass es in den vergangenen Jahrhunderten so war, dass es weiße, meistens heterosexuelle, Männer waren, die große Kunst und Wissenschaft produziert haben. Das hat aber nichts damit zu tun, dass solche Männer an sich besser sind, sondern damit, dass Frauen nicht dieselben Ausbildungsmöglichkeiten hatten. Aber es gibt auch Frauen, die Großes geleistet haben, und die Werke dieser Frauen sollten selbstverständlich auch in den Schulen behandelt werden. Und dasselbe gilt für homosexuelle Männer, ebenso für Menschen anderer ethnischer Abstammung, usw. Lesen wir ruhig in den Schulen Oscar Wilde, Léopold Sédar Senghor, Louise Labé, Christine de Pisan, usw., aber lesen wir sie nicht, weil sie homosexuell, schwarz oder weiblich waren, sondern lesen wir sie wegen des literarischen oder philosophischen Wertes ihrer Werke. Und ähnliches gilt für die Malerei, die Musik, usw. Das Universelle, das sich in ihren Werken kundtut, sollte uns über alle unsere Unterschiede hinweg vereinen. Sie schrieben – malten, musizierten, … – alle als Menschen, mit einem weiblichen, homosexuellen, schwarzhäutigen, … Erfahrungshorizont, auf den man sie auf keinen Fall reduzieren sollte.

Vielleicht ließe sich auch hier ein Einwand anbringen und nach dem Einwand und seiner Beantwortung ließen sich noch andere Sphären der Integration benennen, wie etwa die mediale Integration, d.h. das Zeigen von schwarzen, queeren, transgender usw. Menschen in Filmen, Werbungen, usw. Dazu kurz: Jeder soll zeigen, wen er will, aber bitte keine explizite oder implizite Zeigepflicht – und sei es nur, weil diese zur Heuchelei führen kann!

Ich möchte aber vor dem Schluss noch ein Wort zur „Extegration“ sagen, also zum Ausschluss, wie er von den Anhängern der Cancel Culture propagiert wird. Soll man Shakespeare, Céline, Heidegger und andere von den Lehrplänen ausschließen, weil sich antisemitische Passagen in ihren Werken finden? Soll man John Locke nicht mehr im Philosophieunterricht behandeln dürfen, weil er in den Fundamental Constitutions of Carolina die Sklaverei akzeptiert? Und dann wird man natürlich auch Aristoteles streichen müssen. Soll man Kants Werke verbrennen, weil er geschrieben hat: „Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen. Die gelben Inder haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind tiefer, und am tiefsten steht ein Teil der amerikanischen Völkerschaften“ (Physische Geographie, in Kants Werke. Akademie Textausgabe IX, Berlin 1968, S. 316 – Orthographie wurde von mir modernisiert)? Oder genügt es, alle diese Passagen zu streichen? Dass Kant in der eben zitierten Passage schrecklichen Blödsinn geschrieben hat, leuchtet mir ebenso ein wie dem größten Antikantianer.

Kann man die Schwarzen in unsere Gesellschaft integrieren und gleichzeitig in dieser Gesellschaft Kant in den Schulen lesen? Meine Antwort ist klar und deutlich: Ja.

Was soll man also tun? Kann man die Schwarzen in unsere Gesellschaft integrieren und gleichzeitig in dieser Gesellschaft Kant in den Schulen lesen? Meine Antwort ist klar und deutlich: Ja. Denn eines sollte man nicht vergessen: Die Demokratie ist die Erfindung weißer privilegierter Männer, die liberalen Theorien sind die Erfindung weißer privilegierter Männer, die Theorien der Gerechtigkeit wurden zuerst von weißen privilegierten Männern formuliert, ebenso der Gedanke der allen Menschen innewohnenden Würde. Anders gesagt: Die konzeptuellen Waffen, mit denen heute für die Integration von nicht-weißen Nicht-Männern gekämpft wird, wurden, ob man es wahrhaben will oder nicht, von weißen privilegierten Männern geschaffen, und Mary Astell hat in ihren Reflections upon Marriage (1700) die Lockesche Theorie benutzt, um daraus, wie wir heute sagen würden, feministische Konsequenzen zu ziehen. Dass diese weißen privilegierten Männer eine beschränkte Sicht der Demokratie, der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Würde hatten, ist unumstritten und darin ist Carole Pateman in ihrem Buch The Sexual Contract recht zu geben.

Aber warum das Kind mit dem Bade ausschütten? Warum eine kollektive Amnesie einführen? Kritisieren wir die weißen privilegierten Männer, wenn sie Blödsinn reden, aber seien wir ihnen – aber auch den Frauen, selbstverständlich, und gegebenenfalls auch denen, die dem dritten, vierten, usw. Geschlecht angehörten – dankbar dafür, dass sie uns die Mittel an die Hand gegeben haben, um diesen ihren Blödsinn zu kritisieren. Und versuchen wir vor allem zu verstehen, was sie dazu gebracht hat, solchen Blödsinn zu schreiben. Dadurch integrieren wir sie in die Gemeinschaft der fehleranfälligen Wesen, die wir alle sind. Folgen wir hier dem muslimischen Philosophen Al-Kindi (gestorben 870), der dazu aufrief, den heidnischen Philosophen dankbar zu sein für die Wahrheiten, die sie der Nachfolgewelt hinterlassen haben (Al-Kindi, Metaphysics, Albany 1974, S. 57). Seine Widersacher, die fanatischen asharitischen Theologen, sahen es nicht so: Sie wollten, wie man heute sagen würde, das heidnische, griechisch-römische Erbe „canceln“. Wozu der Sieg dieser Theologen geführt hat, wissen wir, leider, nur allzu gut.

Wenn jetzt jemand glaubt, mir vorwerfen zu müssen, dass ich von meinem Bildungsprivileg Gebrauch gemacht habe, indem ich hier nicht in einem oder zwei Sätzen billig polemisiert – was schließlich jeder und jede kann –, sondern einen argumentativen Text produziert habe, darf das ruhig tun.


Dem vorstehenden Beitrag ging ein Beitrag des Verfassers voraus: Leserbrief / Satire im Jahre 2021, Wirklichkeit im Jahre 2031? auf den Elise Schmit ihrerseits eine Reaktion mit dem Titel Liebe weiße Männer…: Antwort auf den Leserbrief „Satire im Jahre 2021, Wirklichkeit im Jahre 2031?“ vom 8. April 2021 verfasst hatte.

Eric Bruch
18. April 2021 - 13.28

Humor kann man nicht erlernen. Streitkultur schon. Liebe Frau Schmitt. Ich könnte Sie anpöbeln, wie Sie es mit Ihren Gegnern tun und Sie eine humorlose, weiße Frau nennen. Aber noch hege ich die zarte Hoffnung, dass wir uns wenigstens gegenseitig zuhören können. Es hakt. Da haben Sie leider recht. Es hakt an Ihrem Humor und an demjenigen Ihrer Gesinnungsgenoss**Innen*Inninnen- und -innungen. Sie schleudern Zornesblitze von Ihrem Gender-Olymp gegen alle Ungläubigen. Der Vatikan braucht Menschen wie Sie. Auf eine Satire antworten Sie mit einer Enzyklika gegen den weißen Mann, gegen dieses ruchlose Täter-Kollektiv. Heuern Sie ansonsten bei der NY Times an. Die schreibt seit Kurzem „white“ klein und „Black“ groß. Erhaben! Petit rappel: Satiren sind cum grano salis zu lesen, der Begriff „Satire“ ist keineswegs der Name des neuesten Produkts aus der Vegan-Essabteilung, sondern eine altgediente, textbasierte Art der Kommunikation, die auf gegenseitiger Einsicht und gegenseitigem Humor basiert. Ich nehme mich nicht so ernst, als dass ich anderen Menschen vorschreibe, wie sie zu sprechen und zu schreiben haben. An Ihrer Seite, Frau Schmitt, kämpfe ich gegen jede Art der Ausgrenzung, ob ethnischer, sozialer oder religiöser Art. Das Streben für mehr Gerechtigkeit darf sich jedoch nicht auf sekundäre Schlachtfelder wie die uns allen gemeinsame Sprache verlegen, sondern muss an den realen Zuständen ansetzen. Zudem darf man über dem Einsatz für Minderheiten nicht vergessen, dass es eben auch noch Mehrheiten gibt. Sahra Wagenknecht hat diese neo-linke Selbstgerechtigkeit kürzlich in der faz skizziert. Ihr Hass auf den weißen Cis-Mann - welch eine spießig-ungelenke, hohle Vokabel - ist sprichwörtlich. Indem Sie Gift und Galle, ja Ihr weißenfeindliches Anathem auf uns vermeintlich hetero-normative weiße Männer schmettern, gehen Sie munter hinter den Universalismus der Menschenrechte zurück. Damit sind Sie als reaktionär ausgewiesen. Thema „Kolonialismus“: Ich schlage vor, dass Sie oder einer Ihrer Mitstreiter zu uns ans Gymnasium kommen und dass wir gemeinsam eine Kursreihe über die Gräuel etwa der deutschen Kolonialgeschichte, aber auch über die rezenten Aufarbeitungs- und musealen Restitutionsprojekte anberaumen. Dann könnten wir in Form einer Fußnote auch über innerafrikanischen Rassismus reden, bei dem kein einziger weißer Mann beteiligt ist, sondern der sich jeden Tag auf dem vergessenen Kontinent abspielt. Etwa zwischen manchen (!) Nordafrikanern, die sich für Vertreter einer Herrenrasse halten und Menschen aus Kamerun z. B., die zumindest verbal einem Ausgrenzungsgestus gegenüberstehen. Rassismus ist eben nicht das Privileg des weißen Mannes, obwohl er in dieser Disziplin traurige Höchstleistungen zustande brachte. Zum Gendern: Warum diese krampfhafte Fokussierung auf sexuelle Identität? Sind Vorstellungen über sexuelles Selbstverständnis derart wichtig, dass wir darüber das uns Verbindende vergessen wollen? Stehen wir alle morgens auf und fragen uns, ob wir Mann, Frau, beides zugleich, nichts von beidem, etwas dazwischen oder alles gleichzeitig sind? Wohl nicht. Diese Diskurse sind ein Symptom westlicher Wohlstandsproblematik. Manche Hipster aus der kaviarlinken oder grünlich-pseudoliberalen Ecke, von Beruf Sohn oder Tochter und mit der eigentlich wichtigen Währung, nämlich Zeit, ausgestattet, fragen sich, wie man einen ideologischen Kampf gegen die Mehrheitsgesellschaft austragen kann. Da, schau, fand man eines Tages die Sprache. So wie Sprache ehedem als Mittel der Ausgrenzung fungierte (Neger, Führer, Untermensch …), so soll sie nun herhalten als Spielwiese für Inklusionsmärchen. Ich bin für Inklusion, aber bitte überfrachten Sie die Sprache damit nicht. Reden und schreiben Sie, wie Ihnen der Mund gewachsen ist, aber missionieren Sie nicht. Niemand, dem an einem friedlichen Miteinander gelegen ist, kann ernsthaft wollen, dass Sprache zum Exerzierfeld für immer neue Verletzlichkeiten und Opferchoreographien herhalten muss. Carola Rackete, eine wirkliche Heldin der Meere, will nicht „Kapitänin“ genannt werden. Das kann Sie nicht überzeugen, denn Sie wissen immer schon, wer im Recht ist, doch finde ich solche Aussagen von an sich linken Paradefiguren interessant. Die eigentlichen Tatorte sind andere, sie liegen nicht im Sprachgebrauch. Konstruieren Sie sich doch Ihren eigenen linksidentitären Idiolekt, wie etwa die Jugendsprache ein Idiolekt ist, dann können Sie subversiv und hermetisch abgeschlossen von der Allgemeinheit Ihre Posen und Possen ausleben. Spuken Sie aber nicht als wutentbrannte, wild moralisierende Gender-Tarantel durch die ohnehin schon von Horrornachrichten vollgepfropften Zeitungen. Identitätspolitik ist moralinsaures Gift. Danke übrigens dafür, dass Sie mir in Ihrer Enzyklika die Redefreiheit konzedieren, das ist gnädig von Ihnen. Ich weiß, jetzt kommt wieder die Phrase vom performativen Widerspruch. Ich kenne dieses Vokabular; anfangs der 2000er musste ich mir als junger Germanist Judith Butlers Pseudologien anhören und sie auf alle Goethes und Kleists dieser Welt anwenden. Ich lasse Ihnen die Freude an diesem akademischen Kram. Man sollte nicht einen Hass durch einen anderen ersetzen und keine Opfer- und Täteridentitäten postulieren. Das ist mir wichtig. Über den Rest gebe ich nicht vor, groß Bescheid zu wissen. Ich übe mich in Bescheidenheit. Das ist heilsamer als das ständige, polemogene Rummoralisieren, wie Sie es praktizieren. Ich schreibe niemandem vor, wie er zu schreiben und zu sprechen hat, niemandes Wille soll also dem meinigen dienen. Man zwinge mich demnach nicht, einem fremden Willen, und sei es auch nur dem fremden Willen des Genderns, zu gehorchen. Meine (weiße?) Vernunft sieht das nicht ein. Fazit: Gendern und andere scheinbar inklusive Akte der gesamten Sprachgemeinschaft von außen aufbürden zu wollen sind reine opera operata, hohle Taten, mit denen niemandem außer einer selbsterklärten Schreibtisch-Elite gedient wäre. Ich werde die Logik der Erbsünde, unter welcher der weiße Mann für Identitätslinke demütig zu leben hat, nicht zur meinigen machen. Das Angebot zum Kurs über Kolonialismus bzw. zu dessen Niederschlag in der Literatur aber steht. Mit einem Schuss docta ignorantia grüßt Sie und Ihre Drei-Sterne-MitstreiterInnnen Eric Bruch P. S.: Warum sollte der Fuchs nicht auf einmal „Wolf“ heißen? Sonst ist Ihnen die unendliche Semiose doch ein geistiger Leckerbissen, genauso wie das ständige Umbenennen … „Der Rida“ (Derrida) und der „fou Cault“ lassen grüßen!

HeWhoCannotBeNamed
15. April 2021 - 18.06

@mart colette : Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn die von Ihnen verteidigten Werte sich wiederum auf die europäische Ideengeschichte basieren (die ich keineswegs als die einzig vertretbare betrachte!). Ein Konstrukt wie "Weltgemeinschaft" ist (westlich-)kulturell geprägt und nicht universal (es gibt nicht wenige Gesellschaften auf diesem Globus, die diese Werte und unsere damit verbundenen Auffassung des Rechts des Individuums, zB frei über seinen Körper zu verfügen, wieder als eine neo-kolonialistische Einmischung in ihre Angelegenheiten sehen würden). Im Grunde bestätigen Sie Herrn Campagnas Argumente eher als dass Sie sie entkräften. "Streit" gibt es lediglich um die Referenzfiguren...

CESHA
15. April 2021 - 13.52

Wieder ein sehr guter Artikel! Leider sind - wie man an manchen Kommentaren sieht - viele Menschen schon so sehr von der Cancel Culture beeinflusst, dass sie philosophische Gedankengänge nicht objektiv lesen können

Norbert Campagna
15. April 2021 - 12.13

Madame Mart, Ech sutz am Jury vun Dokterthesen vun schwaarzen Studenten dei sech op weiss Philosophen beruff hunn an zwar am positive Senn. An liest emol Hannah Arendt an aaner Philosophinnen. Si sinn sech deem bewosst, wat esouguer beis weiss Maenner zur Kulturentwecklung beigedroen hunn.

CDS
15. April 2021 - 11.59

@Mart Colette Genau! Toni Morisson, Audre Lorde, oder och den James Baldwin.

Blücher
15. April 2021 - 11.34

@CDS:All jene humanistischen, toleranten Ansichten in Ehren , aber auch die werden am „ homo homini lupus“ scheitern..“ D‘Zaiten äenneren sech net“ , mit der Erfahrung eines Krieges 40-45, die Kehrseite des Menschen, das Grausame, Unverständliche nach Außen gekehrt, ein Volk der Dichter und Denker zu Mördern, Folterer wurde , den befreienden 68 ziger , den folgenden Krisen,Kriegen hat die Menschheit nichts dazugelernt,dreht sich noch immer im Kreise von Gewalt, Macht,....In unserer Seifenblase der verkennenden Realitäten, träumen wir schön weiter von einer besseren Welt, bis diese wieder zerplatzt und uns etwas Besseren belehrt.

Mart Colette
15. April 2021 - 9.36

Nee. Di schwaarz Fraen a Männer, déi sech gewiet hun, hu sech net op d‘Werter vu Weissen bezunn. Sie hun aus enger Détresse eraus gehandelt a sech géint Mord, Versklavung an Ernidregung gewiet. Mam Ziel fir hiet Liewen an hier Famill ze protégéiren. Natiirlech ginn et Ausnahmen . Referenz an deser Fro ass fir mech d‘Toni Morisson zum Beispiel , an net weiss Philosophen, déi Sklaverei a Kolonialismus matgedroen hun. Déi hu ledeglech Meriter an der Evolutioun vun de weisse Gesellschaften . Awer net um Niveau vun der Weltgemeinschaft an der Kommunikation tëschent alle Kulturen.

Norbert Campagna
15. April 2021 - 7.49

Liest mein Beitrag emol genau. An soot iech, dass dei schwaarz Fraen a Maenner, dei sech iwwerall geint dei weiss. Herrschaft erhuewen hunn, sech op Werter bezunn hunn, dei dei Weiss entweckelt hunn, Ma soit, komm mier loossen dann jidferengem seng Traditiounen an haale mer de Mond wann jonk Meedercher exciseiert ginn, asw, Kommt mier loossen all Kultur hier Waerter opsteellen, Wann En islameschen Fundamentalist Ierch heiert, dann seet hien sech och vleicht: d’Persoun CDS huer Angscht vierum Wandel an faert eng Gesellschaft wou d’Fraen totel vermummt sinn. Waat kann een Relativist wei Dier een sidd him aentwerten? Dass an ann d’ Wueste soll goen’ wei Der mech an dCampagna schecke welt?

CDS
14. April 2021 - 21.52

Hui do ass een Beleidegt. Ganzt einfach Géigenargument Här Campagna: Jo, Demokratie an liberal Theorien waren propagéiert vu priviligéierten wäisse Männer. Mee, wat wär wann Fraen, net cis, net wäis Leit och hätten kéinten matschwätzem? Dir verstidd also, dass do e Problem ass, un Traditiounen festzehaalen, déi just eng Säit vu Leit prioritiséiert? Europäesche Colonialismus ass jo ëmmerhinn vun wäisse Männer erfonnt ginn, oder? Ass et net och dem Philosoph seng Aufgab, alles a Fro ze stellen? An jein: “[...] nur ist es halt so, dass es in den vergangenen Jahrhunderten so war, dass es weiße, meistens heterosexuelle, Männer waren, die große Kunst und Wissenschaft produziert haben. Das hat aber nichts damit zu tun, dass solche Männer an sich besser sind, sondern damit, dass Frauen nicht dieselben Ausbildungsmöglichkeiten hatten.” Definéiert “große Kunst und Wissenschaft” - Och Fraen hunn immens literaresch Wierker produzéiert. De Problem ass den westlechen Kanon, deen natierlech decidéiert gëtt vun... wäiss Männer. Et ass Wëssenschaft a Konscht déi novir bruecht ginn ass, well Männer et ënnert sech verbreed hunn. Virginia Woolf huet Meeschterwierker produzéiert, ouni accès op héij Unien (ausser Frae-spezifesch) ze hunn (‘A Room of One’s Own’). A wéisou gëtt zu Lëtzebuerg net iwwert Marie Henriette Steil geschwat? Hat huet e (magesche) Realismus geschriwwen deen mat de Recht vun der Welt konkuréiren konnt - eng Schrëftstellerin méi grouss fir mech wéi verschidden vun den groussen Natiounsdichter. Ween grouss ass oder net ass Subjektiv. Zäiten an Traditiounen änere sech, Här Campagna, dir hutt just Angscht virun Wandel. Villäicht ass et Zäit an d’Campagna ze goen an iwwert sech selwer nozedenken (ha!).