Regionale Wirtschaft Gemeinwohlökonomie: Wertschätzen statt Wertschöpfen 

Regionale Wirtschaft  / Gemeinwohlökonomie: Wertschätzen statt Wertschöpfen 
Eine Bilanz im Sinne der Gemeinwohlökonomie stellt unbequeme Fragen Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante

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Üblicherweise definieren sich Unternehmen über ihre Bilanz mit den wirtschaftlichen Fakten. Umsatz, Mitarbeiter, Gewinn nach Steuern sind die Größen, die Auskunft über den Stand des Unternehmens geben. Oikopolis, unter dessen Dach sich 13 Tochter- und Beteiligungsfirmen in Sachen „Bio“ versammeln, macht nicht nur das. Das Munsbacher Mutterhaus bilanziert zusätzlich seinen Wert für das Gemeinwohl.

Wie steht es um Menschenwürde bei den Lieferanten und am Arbeitsplatz im eigenen Haus? Oder wie sieht es mit dem Beitrag zum Gemeinwesen, also uns allen, aus? Das sind nur zwei der Fragen, auf die eine Gemeinwohlbilanz Antworten verlangt. Eine andere beschäftigt sich damit, wie stark die Mitarbeiter an unternehmerischen Entscheidungen beteiligt sind und ob überhaupt. Reines Zahlenmaterial erklärt da wenig.

Dabei könnte es so einfach sein. Seit mehr als 30 Jahren am Markt, etwas mehr als 66 Millionen Euro konsolidierter Umsatz in 2020 und rund 400 Mitarbeiter sind Fakten, mit denen sich Oikopolis als erfolgreiches mittelständisches Unternehmen einordnen lässt. Warum dann noch die Bilanz nach Gemeinwohlkriterien und eine zweite ethische und sogar moralische Inventur?

„Es passt zu unseren Werten und zu unserer Unternehmensphilosophie“, sagt Jutta Serwas (48), Assistentin des Vorstandes der Gruppe. Das Unternehmen ist bislang das einzige in Luxemburg, das sich freiwillig dem Gemeinwohl verpflichtet. Während viele andere lediglich ihre „Key facts“ publizieren, will Oikopolis es genau wissen. Bei der Gemeinwohlbilanz geht es um Dinge, die nicht in Geld ausgedrückt werden können.

Sinn und gesellschaftliche Bedeutung der Produkte

Eine Kernfrage ist die nach dem Sinn und der gesellschaftlichen Wirkung der Produkte und Dienstleistungen, mit denen das Unternehmen handelt. Eine Wirkung steht fest. Aus den neuesten Statistiken zum Biolandbau und -markt geht hervor, dass Luxemburg im weltweiten Vergleich, was den Bio-Zuwachs im Jahr 2019 angeht, den ersten Platz belegt. Das teilt das Unternehmen mit. 

2019 machte Bio im Land einen Umsatz von etwa 160 Millionen Euro aus. Die Statistiken werden vom Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FIBL) und der Internationalen Vereinigung der ökologischen Landbaubewegungen (IFOAM) zusammengetragen. Klingt gut und nach aussichtsreicher Zukunft – im herkömmlichen Sinn. Dennoch machen sich die Munsbacher die Arbeit, sich selbst infrage zu stellen.

Das geschieht nicht nur auf Vorstandsebene. Eine Gemeinwohlbilanz fordert die Beteiligung der Mitarbeiter. „Wir bewerten uns zuerst in einer großen Arbeitsgruppe, an der alle Ebenen bei uns im Haus beteiligt sind, selbst“, bestätigt Serwas. Das erfordert Diskussionen rund um Menschenwürde, Solidarität und Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit oder Transparenz und Mitentscheidung. Die vier großen Themen schreibt die Gemeinwohlökonomie für die Bilanzierung vor.

Nachholbedarf und Bestleistungen

Insgesamt ergeben sich daraus rund 20 Fragenkomplexe, deren Antworten Zertifizierer der Gemeinwohlbewegung anschließend vor Ort überprüfen. In den meisten Kategorien schneidet das Unternehmen sehr gut bis gut ab. Auffallend ist, dass Oikopolis ausgerechnet beim Punkt „Menschenwürde in der Zuliefererkette“ nur auf 20 Prozent kommt. Das Munsbacher Unternehmen ist eine der wenigen Firmen in Luxemburg, die bis jetzt ein nationales Lieferkettengesetz befürworten.

In einem solchen Gesetz geht es um die unternehmerische Verantwortung bezüglich der Menschenwürde bei den Lieferanten. Wie kommt dann die vergleichsweise geringe Punktzahl zustande? Serwas erklärt das mit Nachholbedarf bei der Dokumentation der Beziehungen. „Wir kennen zwar unsere Zulieferer, aber das allein reicht heute nicht mehr aus“, sagt die Vorstandsassistentin.

Der Betrieb hält Kontakt zu seinen Lieferanten und besucht sie vor Ort. Dass die Arbeitsbedingungen für Erntehelfer vor allem in Südeuropa ein heikles Thema sind, geht aus dem unternehmenseigenen Bericht hervor. Das 80-seitige Papier ist auf der Unternehmens-Webseite veröffentlicht. Dieses dokumentiert, dass Geschäftsbeziehungen mit Lieferanten, die sonst nach Unternehmensangaben im Schnitt 15 Jahre und länger dauern, beendet wurden, weil es in diesem Punkt Mängel gab.

Unser jetziges Wirtschaftssystem steht auf dem Kopf. Das Geld ist zum Selbst-Zweck geworden, statt ein Mittel zu sein für das, was wirklich zählt: ein gutes Leben für alle.

Christian Felber,  Autor des Buches „Gemeinwohl-Ökonomie“ und Mitinitiator der Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung

Beim Thema „Beitrag zum Gemeinwesen“ schneidet das Unternehmen dagegen außerordentlich gut ab. In dieser Kategorie tauchen Fragen auf, die heikel sind. Dazu gehört die nach illegitimer Steuervermeidung oder Beziehungen zu Geschäftspartnern mit Sitz in Steueroasen. Das können nicht alle Unternehmen mit Nein beantworten. Das gilt genauso für die Frage nach Lobbyismus oder nach Spenden an Parteien. Wirtschaftsprüfer interessiert das bei der gesetzlich vorgeschriebenen Bilanz normalerweise nicht.

Insgesamt schneidet das Unternehmen mit 669 Punkten zwischen den anderen nach Gemeinwohl zertifizierten Unternehmen sehr gut ab. 1.000 Punkte ist die Bestnote. Oikopolis findet sich dort zwischen Greenpeace, dem deutschen Outdoorspezialisten Vaude oder der Raiffeisenbank Lech am Arlberg (A) und der Spardabank München (D) wieder.

Die genossenschaftlich organisierte Bank wird im Prospekt, mit dem die alternative Bewegung für ihr Bilanzmodell wirbt, zitiert. „Bei der Gewinnung neuer Mitarbeiter und Auszubildender hat unser Engagement für die Gemeinwohlökonomie eine hohe Bedeutung“, heißt es da von der Pressesprecherin der bayrischen Spardabank.

Bei Aussagen wie diesen geraten Wachstum und der Fokus auf die rein wirtschaftliche Situation als alleinige Indikatoren für eine erfolgreiche Unternehmensperformance ins Wanken. Offensichtlich wird es immer wichtiger, bei der Suche nach Nachwuchs und Verstärkung für die Arbeitnehmer ein „sauberes“ Image belegbar nachweisen zu können. Unter diesem Aspekt lohnt sich die zusätzliche Arbeit – zumal „Social- oder Green-Washing“ bei der Gemeinwohlbilanz ein Ding der Unmöglichkeit ist.

Die Gemeinde Mertzig und das Gemeinwohl

Das Beispiel Mertzig zeigt, dass die Gemeinwohlökonomie (GWÖ) und eine Bilanz nach deren Richtlinien keine Frage von „Bio“ ist, sondern von Werten und Haltung. Die Gemeinde im Kanton Redingen hat gerade die erste GWÖ-Bilanz hinter sich. Deren Ergebnisse stehen in Kürze auf der Webseite der Gemeinde. Bürgermeister Mike Poiré (42) begegnet dem Konzept auf einer Wahlveranstaltung für die Lokalwahlen 2017, wie er auf Anfrage des Tageblatt mitteilt. „Unsere Schöffenratserklärung entspricht mit den darin vorgesehenen Projekten dem alternativen Wirtschaftsmodell des Gemeinwohls“, sagt der DP-Politiker und Rathauschef der Majorzgemeinde mit 2.300 Einwohnern. „Wir leben die Werte dieses Modells.“ Die Basis dafür sind Menschenwürde, Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit, Transparenz und demokratische Mitbestimmung. Nach einer Vorbereitungszeit läuft folgerichtig im Dezember 2020 die Zertifizierung durch GWÖ-Experten an.