KulturwandelRusslands neue Feministinnen in einem konservativen Land mit vielen Tabus

Kulturwandel / Russlands neue Feministinnen in einem konservativen Land mit vielen Tabus
Frauen in der russischen Stadt Pereslawl-Salesski: Die feministische Revolution in Russland findet bislang vornehmlich im Netz statt Foto: Kirill Kudryavtsev/AFP

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Eine konservative Geschlechterordnung prägt heute das Land. Doch im Netz tut sich was. Für die Jungen ist Feminismus kein rotes Tuch mehr.

Als „Likbes“ war in der frühen Sowjetunion die Kampagne für Alphabetisierung bekannt: „Likwidazija besgramotnosti“ – der Kampf gegen den Analphabetismus. Gegen einen Analphabetismus der anderen Art kämpfen Nika Wodwud und ihre Verbündeten. Was sie machen, ist feministische „Likbes“ im Zeitalter der Neuen Medien.

Eine Frau mit weißblondem Haar setzt sich einen kleinen, becherförmigen Gegenstand auf den Kopf. Ups. Sie grinst. Falscher Ort. Das Ding gehört woanders hin. Wenn Nika Wodwud einen YouTube-Clip dreht, dann immer mit einer gehörigen Portion Humor. „Wenn ihr eine Vagina habt und einmal im Monat blutet, dann ist dieses Video für euch“, sagt sie an die Zuschauerinnen gerichtet. Das durchsichtige, biegsame Stück Plastik ist eine Menstruationstasse. Eine umweltfreundliche Alternative zu Binden und Tampons. Wiederverwendbar und kostengünstig. „Wenn ihr nicht wisst, was eine Menstruationstasse ist, dann wird sich euer Leben ab sofort in ein Vorher und Nachher teilen“, sagt Wodwud enthusiastisch. „Ernsthaft!“

Dann schildert sie in einfachen Worten die Anwendung und erklärt den Grund, warum die Menstruationstasse ihrer Meinung nach bis heute wenig bekannt ist. „Der Kapitalismus!“ Die Hygiene-Industrie profitiere schließlich davon, wenn Frauen ständig neue Produkte kaufen müssten. Popfeminismus mit antikapitalistischer Note – ausgerechnet aus Russland, dessen Bürger den Konsum nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit großer Begeisterung praktizieren.

Die Enttabuisierung des weiblichen Körpers, die Weitergabe von spezifischem Wissen und ein selbstbestimmter Umgang mit der eigenen Körperlichkeit und der Sexualität – all das gehört zum Einmaleins der Frauenbewegung seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dass diese Themen noch immer aktuell – und noch immer höchst umstritten – sind, zeigt die Popularität von Wodwuds Video in Russland. Mehr als zwei Millionen Mal wurde der zwölfminütige Film auf YouTube seit seiner Veröffentlichung aufgerufen. Es ist der bis dato erfolgreichste Clip der 27-jährigen Video-Bloggerin, deren Kanal 470.000 Abonnenten zählt.

Das Versagen vieler Männer

„Ich wusste, es würde ein populäres Video werden. Aber dieses gigantische Echo habe ich nicht erwartet“, wundert sich Wodwud, die den Künstlernamen Nixelpixel trägt, im Gespräch mit dem Tageblatt. Wodwud drehte bereits Clips über Feminismus, erzählt von sich selbst und ihrer Beziehung zu ihrem Freund Pascha und gibt Handwerkstipps. Wegen des Menstruationstassen-Clips wurde sie sogar bedroht. Selbsterklärte Antifeministen veröffentlichten ihre Adresse und Telefonnummer. Sie griffen sie in Videos an. Wie sie es wagen könne, über diese Körperflüssigkeiten zu sprechen? Wie sie sich „da unten“ überhaupt anfassen könne? Die Bloggerin erhielt für den Clip aber auch viel Lob und Anerkennung. „Ich bin 38 und ich höre zum ersten Mal von dieser Tasse. Vielen Dank für die Information!“, heißt es in einem Kommentar. In einem anderen: „Es ist beeindruckend, wie ruhig und authentisch du über das Thema sprichst.“

Offene Worte über den weiblichen Körper sind in Russland ein gesellschaftliches Tabu. In den Medien dominieren konservative Geschlechterbilder. Vonseiten des Staates wird eine traditionelle Geschlechterordnung propagiert, die, ausgehend von einer Wesensungleichheit von Frau und Mann, die Dominanz von Männern in vielen gesellschaftlichen Bereichen rechtfertigt. Natürlich entspricht die russische Realität vielfach nicht diesem Idealbild, etwa was weibliche Erwerbstätigkeit und die gestiegene ökonomische Unabhängigkeit von gut ausgebildeten Frauen angeht. Auch das Versagen vieler Männer in der Rolle des „starken Ernährers“ – sei es durch zu geringes Einkommen, die Folgen von Alkoholismus oder einen Gefängnisaufenthalt – ist eine große Belastung in vielen realen Beziehungen. Doch davon ist selten die Rede – und garantiert nicht am heutigen Frauentag, an dem in Russland Frauen von Männern einen Blumenstrauß überreicht bekommen – ein symbolischer (und mit Verlaub: fauler) Ablasshandel für die in einem Jahr begangenen männlichen Sünden.

Weitere Aktivistinnen mischen mit

Doch auch hierzulande wächst eine Generation heran, für die dieses Arrangement ein wenig attraktives Modell darstellt. Eine an globalen Medien-Trends orientierte, urban geprägte Jugend fühlt sich durch die starren Konzepte ihrer Eltern in ihrer persönlichen Freiheit eingeschränkt. „Wegen der Sowjetgeschichte hat die ältere Generation eine überwiegend negative Haltung zum Thema Frauenbefreiung. Weil es früher ein Fake war“, sagt Wodwud. „Doch bei den Jüngeren wächst die Akzeptanz von Feminismus.“

YouTuberinnen wie Nixelpixel und andere Aktivistinnen, die in Podcasts, Vlogs, Instagram- und Telegram-Kanälen aktiv sind, stehen für diesen Kulturwandel. Da ist etwa die Bloggerin Tatjana Nikonowa, deren Motto „Feminismus und Hedonismus“ lautet, oder „Sex Educator“ Maria Arsamasowa, die in Webinaren über weibliche Sexualität und Körperbewusstsein – „Mein Körper gehört mir“ – aufklärt. Da sind Podcasts wie „Ist das wirklich Sex?“, in dem junge Frauen und Männer über Männlichkeit und Masturbation sprechen. Da sind Aktivistinnen wie Aljona Popwa und Anna Riwina, die online und offline gegen Gewalt an Frauen kämpfen. Und da ist die junge Künstlerin Julia Zwetkowa, der wegen ihrer auf Facebook veröffentlichten Zeichnungen von „Regenbogen-Familien“ eine Haftstrafe droht.

Viele dieser Initiativen sind auf das Internet beschränkt. Das Netz bietet Nischen für alternative Standpunkte, Sicherheit und die Möglichkeit freier Meinungsäußerung. Für Nika Wodwud, die als Person privat eher introvertiert ist, ist ihr Online-Aktivismus der einzig mögliche. Sie nehme nicht an Demonstrationen teil, sagt sie. „Zu gefährlich.“ Die Bloggerin definiert ihre Aufgabe sowieso langfristig: „Steter Tropfen höhlt den Stein.“