Gastbeitrag / Die Abwertung nicht-westlichen Wissens

„Wissen“ existiert nicht bloß im Westen und auch nicht erst seit der Geschichtsaufschreibung. Doch inwiefern finden diese unterschiedliche Perspektiven Platz in unserer Gesellschaft?
Wenn über Kolonialismus und Neokolonialismus gesprochen wird, dann wird meistens auf Landraub, Gewalt in den Kolonien, auf Sklaverei und Zwangsarbeit angespielt. Dabei geht es um ökonomische Ausbeutung, politische Einflussnahme und die Schaffung von Abhängigkeiten, die bis heute andauern. Dabei geht die Form der gewaltsamen Ausbeutung über das Ökonomische und Körperliche hinaus. Eine Dimension, die selten thematisiert wird, ist die epistemische Gewalt.
Einerseits wird im Artikel die westliche Kolonisation , Einflussnahme der Kulturen kritisiert, andererseits setzt man abendländisches Denken , westliche ,humanistische Denkweise ein , die seit Jahrhunderten bestehenden Sitten , Kulturen ihre Gebräuche , religiöse wie gesellschaftliche Ansichten zu reformieren. Genitalverstümmelung, Zwangsheirat, Stammesdenken,die Stellung der Frau oder auch die Rechtssprechung in den islamistischen Systemen sind in diesen Teilen der Welt eine jahrhundertealte Normalität . All jene die sich heute der Modernität, des unter Anführungszeichen gesetzten Humanismus verschrieben haben und mit gehobenen Finger auf diese Länder zeigen, zur Bekehrung dieser barbarischen Sitten , Kulturen aufrufen , sind nicht besser in ihrer Denkweise als jene Kolonialherren die abendländliches Heil mit Peitsche und Stock verkündeten . Ich werfe sogar die Frage in den Raum, ob die von uns abgelehnten Kulturen, Religionen, gesellschaftlichen Ansichten der westlichen Moral nicht weit überlegen sind, oft mehr Solidarität,Gerechtigkeit,Respekt gelebt wird als in unser zur Dekadenz verkommener rechthaberischen Gesellschaft.
Auf die Spitze getrieben kann diese Diskussion zu seltsamen Blüten führen, wie man sie derzeit im US-Staat Oregon bewundern kann. Dort soll die klassische Mathematik – mit ihrem Hang zu Präzision und unzweideutigen Resultaten als zu westlich, zu ausschliessend, zu rassistisch angesehen – in den Schulen durch eine „Ethnomathematik“ ersetzt werden, die ausdrücklich „alternative Lösungen“ ermuntert und anerkennt. Was wohl darauf hinauslaufen dürfte, dass die Ausgabe „zwei plus zwei“ künftig als Resultat nicht nur „vier“, sondern auch „gefühlte fünfeinhalb“ zulässt.
Sicher, kann man machen. Ich persönlich würde jedoch nie mit dem Auto über eine Brücke fahren, deren Statik mit Hilfe dieser neuen Mathematik berechnet wurde.
@ von Blücher
„ob die von uns abgelehnten Kulturen, Religionen, gesellschaftlichen Ansichten der westlichen Moral nicht weit überlegen sind“
ich denke nicht, dass es so einfach ist, gerade heute am Weltfrauentag.
Ein großer Teil der Menschheit wird noch immer wie Besitz behandelt, mit dem man machen kann, was man will. Getötete weibliche Babys, Ehrenmorde, verbrannte Frauen, Genitalverstümmelung, Massenvergewaltigungen, …
Ist es rechthaberisch, solche Praktiken zu verdammen? Ist es zu verantworten, diese Frauen allein zu lassen?
Obschon – der Westen gibt sich der Illusion hin, Einfluß nehmen zu können. Wäre das wirklich der Fall, gäbe es solche Praktiken nicht mehr.
Und – wer nennt den Westen denn überheblich? Es sind doch Männer (und alte Frauen, die endlich nach langem eigenen Leiden in der Familie eine Machtposition erreicht haben) in diesen patriarchalischen Kulturen, die solche Bräuche gutheißen und sie trotz gegensätzlichem Gesetz weiter unterstützen. Und sie sind die ersten, die „Kolonialherrschaft“ schreien, wenn der Westen als „Moralapostel“ auftritt.
Eigentlich bin ich für Nicht-Einmischung – Leben und leben lassen – aber es gibt so viel sinnloses Leid, das unterlassen werden könnte.