JugendgewaltNur eine kleine Ohrfeige: Die Bagatellisierung alltäglicher Gewalt

Jugendgewalt / Nur eine kleine Ohrfeige: Die Bagatellisierung alltäglicher Gewalt
 Foto: Editpress/Alain Rischard

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Jugendliche, die von „kleinen Ohrfeigen“ reden, Mädchen, die sich gegenseitig „ma petite pute“ nennen, und es normal finden, wenn ihr Freund sie schlägt: Fachleute stellen eine Bagatellisierung der Gewalt fest. Zwei Psychologinnen und ein Sozialpädagoge geben ihre Einschätzung zum Thema Jugend und Gewalt.

„Das, was in Bonneweg passiert ist, hat mich nicht überrascht. Es ist bloß eine Frage der Zeit gewesen, dass so etwas passiert. Es ist nur die logische Folge von dem, was wir als Gesellschaft den Jugendlichen als Rahmen bieten“, lautet die Einschätzung des Sozialpädagogen André Feller zu der tödlichen Messerattacke Ende Januar. Seine Meinung zum Thema weicht erheblich von der von den Sozialarbeitern (siehe Tageblatt vom 24.2.2021) aus den Vierteln Gare und Bonneweg ab. Auch Feller kennt die Thematik gut. 2007 gründete er zusammen mit anderen Sozialarbeitern die Vereinigung „Phoenix“, die sich u.a. mit in der Stabilisierung von gewaltbereiten Jugendlichen beschäftigt.

Die Meinung, dass die Jugendgewalt in den Jahren, in denen er in dem Bereich arbeitet, zugenommen hat, bestätigt er ohne Weiteres. Seine Vereinigung bekomme zwei bis drei Anfragen pro Tag, der klassische Fall dabei sei eine alleinstehende Mutter, die Schwierigkeiten mit ihrem Kind hat. Er müsse feststellen, dass die Jugendlichen, die er betreut, „oft emotional vernachlässigt, aber materiell verwöhnt“ sind. Die angesprochenen Familienverhältnisse hält er für einen wichtigen Faktor: „Ist die Kernzelle Familie zerstört, bleibt das nicht ohne Folgen.“ Etliche seiner Klienten seien gleichzeitig Traumapatienten, die vor allem unter Gewalt und Bindungstraumata litten.

Er müsse immer wieder feststellen, dass viel zu spät auf die ersten Symptome reagiert wird. „Gute Prävention muss früh anfangen. Wir sollen uns um 17-Jährige kümmern, bei denen man schon vor Jahren mit der Therapie hätte beginnen müssen.“ Probleme würden zwar oft gesehen, aber bagatellisiert bzw. ignoriert. Bei vielen der ihm bekannten Fälle sei es schon im Kindergarten zu Auffälligkeiten gekommen. „Ein Vierjähriger, der einen Dreijährigen schubst, ist in gewisser Weise ein Täter, doch oft wird das verniedlicht. Oft heißt es, der Kleine wachse noch aus dem Benehmen heraus. Was aber nicht immer der Fall ist; ich betreue Mütter, die von ihren Söhnen geschlagen werden.“ Allerdings: Das Stereotyp, dass Jungen aggressiver seien als Mädchen, kann er nicht bestätigen: Beide zeigten die gleichen Verhaltensmuster.

Eines der Hauptprobleme ist seiner Meinung nach Respektlosigkeit: „Viele Jugendliche haben keinen Respekt mehr vor einer Autorität.“ In diesem Zusammenhang kritisiert er die Haltung einiger Eltern in Bezug auf Grenzverletzungen in der Schule. Unter vielen Lehrern herrsche eine Laisser-faire-Attitüde. Problemfälle würden oft von klein auf weitergereicht ohne frühe Grenzziehung bei Fehlverhalten, bis man im Jugendalter von Tätern sprich, wenn sie jemanden niederstechen. Er wisse aber auch, dass Lehrer aufgrund unklarer Handlungsvorgaben verunsichert sind und daher erst mal nichts tun, um nichts Falsches zu tun. Seiner Meinung nach müssten Themen wie pädagogisches Konfliktmanagement und Deeskalationstraining Teil der Lehrerausbildung sein. Feller fordert zudem einen Eignungstest für Lehrer, da ihre Aufgabe über Wissensvermittlung hinaus gehe.

Die Eltern unterstützen in gewisser Hinsicht das Benehmen ihrer Kinder. Zu seiner Schulzeit hatte eine Strafe in der Schule die gleiche Botschaft zu Hause zur Folge, heute beschnitten die Eltern die Kompetenzen der Lehrer. Diese müssen wieder das Recht bekommen, etwas einzufordern. Es könne nicht sein, dass Jugendliche den Lehrern sagen „du hast kein Recht, mich zu bestrafen“ und der Lehrer dadurch unsicher wird. Die Lehrer zögen daraus die Konsequenz, im Problemfall nicht zu reagieren. Und die Lernerfahrung des Jugendlichen sei: „Ich kann mit jedem frech sein, es geschieht mir nichts.“ So entstünden bei manchen Jugendlichen Allmachtsfantasien.

Den Einfluss von Corona allerdings will Feller nicht überbewerten. Er glaubt, dass auffällige Jugendliche es auch schon vor der Pandemie waren. Allerdings habe Corona viel zu depressiven Störungen beigetragen, bis hin zu Suizidgedanken. Es mache sich Fatalismus und eine allgemeine Verunsicherung (Regierung, Wirtschaft) breit, was auch die Jugendlichen wiederum verunsichere.

In einem Punkt ist Feller mit Politikern einer Meinung: Es bedarf einer Netzwerkarbeit von Schule, Polizei und sozialen Einrichtungen. „Es genügt nicht, einen Streetworker mehr dorthin zu schicken, wo es Probleme gibt.“

Fehlende Vorbilder

Die Psychologin Deborah Egan-Klein aus Differdingen ist spezialisiert auf Kinder und Jugendliche. Seit 2005 arbeitet sie u.a. auch für „La main tendue“, eine Vereinigung, die Personen betreut, die Gewalt, sexuellen Missbrauch oder sonstige körperliche Misshandlungen erlitten haben. Die oft gehörte Klage, es gebe immer mehr Jugendgewalt, bestätigt sie nicht. Was sie aber sagen könne, ist, dass die Hemmschwelle für Gewalt in den vierzig Jahren ihrer beruflichen Tätigkeit definitiv gesunken sei. Sie ist sich sicher: Wenn man die Biografie der beiden Täter aus Bonneweg analysierte, so finde man bestimmt eine Gewalthistorie.

Die Gründe, warum Jugendliche gewalttätig werden, seien zwar vielfältig, hätten aber oft mit der Erziehung zu tun. Sie findet klare Worte: „Viele Eltern sind keine guten Vorbilder.“ Die Kritik André Fellers bezüglich der materiellen Verwöhnung kann sie bestätigen: „Gute Eltern sind nicht diejenigen, die ihren Kindern Nike-Schuhe kaufen. Und es gibt Eltern, die einem Vierjährigen sagen, er sei dumm. So kann man nicht mit einem Kind reden“, sagt Egan-Klein. Viele Eltern wüssten gar nicht, was es bedeute, „gute Eltern“ zu sein, und dieser Zustand produziere Kinder, die in Unsicherheit leben. Mit einmal Ja sagen, dann Nein, dann wieder Ja, böten die Eltern keine festen Strukturen, die aber nötig seien. Den Kindern fehle dann der richtige Rahmen. In diesem Zusammenhang kenne sie Fälle von Kindern, die gewalttätig gegenüber den Eltern wurden.

Die Tatsache, dass der Täter selbst Gewalt erfahren hat, spiele als Ursache für Gewalt oft eine entscheidende Rolle. „Eines von fünf Kindern wird sexuell missbraucht. Ganz oft passiert es in der Familie vor dem elften Lebensjahr.“ Ein solcher Missbrauch beeinflusse natürlich erheblich die spätere Verhaltensweise. „Und es gibt noch die andere Seite: Kinder und Jugendliche, die Gewalt erleiden, bis hin zum Selbstmordversuch.“

Neben der physischen Gewalt gibt es natürlich die verbale Gewalt. In den „Maison relais“ gebe es etliche Fälle von Kindern, die Erzieher beschimpften. Bereits in den ersten Schuljahren würden Lehrer von Kindern überfordert, weil diese zu Hause keinen festen Rahmen haben. Als Basis für eine gesunde Entwicklung sieht Egan-Klein die Empathie: „Gewalttätige Kinder schlagen, weil ihnen die Worte fehlen, um sich auszudrücken. Doch wenn es Gewalt gibt, muss darüber geredet werden.“

Die akzeptierte Norm der Gewalt

Die Psychologin Catherine Hausherr praktiziert in Luxemburg-Stadt. Seit sechs Jahren bietet sie außerdem im Auftrag der Gerichte von Thionville und Sarreguemines Gruppenkurse für verurteilte gewalttätige Ehepartner an. Auch sie kann nicht sagen, dass es „mehr Gewalt“ gibt. „Was sich aber definitiv in den letzten Jahren geändert habe, sei die Norm der Gewalt. Bei jedem Gewaltakt gebe es einen Kontext, und die Bereitschaft zur Gewalt gehe oft einher mit dem Bedürfnis, zu einer Gruppe dazuzugehören. Der sich daraus ergebende Gruppenzwang könne den Schritt zu einer Tat beschleunigen. Schreitet ein Jugendlicher zur Tat, müsse man sich stets fragen, was die Norm ist, der er in seiner Familie oder seiner Gruppe begegnet. Zu einer Gruppe dazugehören, heißt deren Regeln akzeptieren.

Deshalb fordere sie, im Rahmen einer Therapie stets auch das Umfeld des Betroffenen kennenzulernen. Was die Familien betreffe, so betont Hausherr, dass nicht nur Alleinerziehende mit dem Problem konfrontiert seien, auch „normale“ Familien seien betroffen. Falls man in der Familie nichts Anormales findet, muss man weiter nach einem anderen Umfeld des Jugendlichen suchen, wo etwas nicht normal ist. „Jeder Jugendliche passt sich seinem Umfeld an.“ Dies gesagt, seien richtig funktionsgestörte Familien doch eher die Ausnahme.

„Ma petite pute“

Hausherr gibt zu bedenken, dass leider zu oft nur die männliche Gewalt im Fokus stehe. In ihren Therapiegruppen sehe sie genauso viele Mädchen wie Jungen. Neben der körperlichen Gewalt gebe es noch die verbale Gewalt, und die sei in einer Gruppe nicht zu unterschätzen. Es gebe Jungengruppen, die seien darin wesentlich „softer“ als Mädchengruppen. Sie kenne Mädchen, die sich in der Gruppe als „ma petite pute“ bezeichnen lassen, was für sie als Erwachsene bereits eine Beleidigung darstellt. 

„Die Gesellschaft honoriert eine gewisse Form der Gewalt.“ Aus Erfahrung wisse sie, dass einige Mädchen es durchaus akzeptieren, wenn sie von ihrem Freund eine Ohrfeige bekommen. „Für sie ist es ein Zeichen von Liebe. Sie sind der Meinung, er schlägt sie, weil er eifersüchtig ist, was wiederum als ein Zeichen seiner Liebe gedeutet wird.“

In den zwölf Jahren, in denen sie praktiziere, habe sie eine Banalisierung der Gewalt festgestellt. Heute redeten Jugendliche auch mal schon von einer „kleinen Ohrfeige“, die sie jemanden gegeben haben. „Mit dem Adjektiv ,klein‘ rechtfertigen sie indirekt ihre Handlung.“ Als Motiv einer Gewalttat diene oft schon „ein böser Blick“. Die subjektive Interpretation der Welt wird als die Realität empfunden.

Die Corona-Pandemie sieht sie nicht als Hauptgrund für Gewalt, aber: „Covid bringt Sachen ans Licht, die schon vorher präsent waren.“ Sie warnt vor Spekulationen in dieser Zeit: „Man muss beim Konkreten bleiben und sich nicht Interpretationen hingeben. Es gibt nicht mehr Tötungsdelikte als vor der Krise“, sagt Hausherr.

Computerspiele

Alle drei Fachleute zeigten sich kritisch gegenüber Computerspielen:
André Feller ist aufgefallen, dass gewaltbereite Jugendliche auch oft spielsüchtig sind: „Ich bin mir bewusst, dass nicht jeder diese Meinung teilt, aber ich glaube, durch Computerspiele geht die Empathiefähigkeit verloren. Ich sehe eine klare Korrelation zwischen der Gewalt im Spiel und der Gewalt auf der Straße.“
Deborah Egan-Klein weist ebenfalls auf die Suchtgefahr hin: „Die Kinder werden süchtig, doch die Eltern sind zufrieden, weil die Kinder während der Zeit ruhig sind.“
Catherine Hausherr sieht eine Verwässerung der Grenzen zwischen Realität und virtueller Welt: „Die Gewalt wird banalisiert. Kinder finden es normal, die Bösen zu töten, und manche sagen, es sei auch in der Realität normal.“

d'Mim
25. Februar 2021 - 19.38

Angesichts der Verrohung unserer Gesellschaft ist es nicht verwunderlich.

Blücher
25. Februar 2021 - 11.40

Plädieren wir noch mehr für eine anti-autoritäre Erziehung, fordern mehr Rechte für Kinder, Jugendliche , stopfen sie voll mit Konsum und Spassgesellschaft, ebnen ihnen den Weg auch durch Faulheit die Schule abzuschließen, gut bezahlte Jobs abgesichert durch gewerkschaftliche Rechte , vermitteln ihnen viel Urlaub durch wenig Anstrengung,Arbeit, ....... und wundern uns dann wenn alles aus dem Ruder läuft. Vor allem läuft alles aus dem Ruder , zeigen wir auch noch Verständnis, entschuldigen die Tat noch so schrecklich sie ist , suchen die Schuld anderswo und klopfen uns auf die Schulter , wie tolerant , verständnisvoll wir sind.

Charel Hild
25. Februar 2021 - 9.36

Sehr gute Arbeit Herr Molinaro. Sie haben in allen Punkten den Nagel am Kopf getroffen. Die multikulturelle Gesellschaft, und die liberalen Gesetze die wir uns leisten kosten wesentlich mehr Geld als wir hinein stecken! Integration und Inklusion sind ehrenwerte Ziele, aber eben, extrem teuer!

G.B.
25. Februar 2021 - 8.14

Es ist nicht nur ein Loch im Eimer , Karl Otto, Karl Otto .Es ist ALLES im Eimer Karl Otto, Karl otto !