Wladimir Putin will noch mehr KontrolleWie neue Gesetze im Jahr der Duma-Wahl kritische Stimmen weiter einengen

Wladimir Putin will noch mehr Kontrolle / Wie neue Gesetze im Jahr der Duma-Wahl kritische Stimmen weiter einengen
„Jeder kann betroffen sein“: Wladimir Putin bei einer Video-Pressekonferenz Foto: AFP/Natalia Kolesnikova

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Eine Reihe neuer Gesetze engen im Wahljahr unabhängiges Engagement und kritische Stimmen weiter ein. Angewendet werden sie punktuell. Ihr Hauptziel ist die Abschreckung.

Wie Tausende andere Russinnen ist Daria Apachontschitsch auf Facebook aktiv. Die junge Frau aus St. Petersburg kommentiert Aktuelles, teilt Fotos ihrer künstlerisch-feministischen Performances und postet Witze. Seit Jahresende schreibt sie vor allem über eines: ihren Status als „ausländische Agentin“. Apachontschitsch hat unlängst erfahren, dass das Justizministerium sie und vier andere Einzelpersonen in ein einschlägiges Register aufgenommen hat.

Ein Gesetz über ausländische Agenten und deren verpflichtende Kennzeichnung gibt es in Russland seit ein paar Jahren. Nun aber können nicht nur Nichtregierungsorganisationen und Medien als „Ino-Agenty“, wie es auf Russisch abgekürzt heißt, klassifiziert werden. Sondern auch Individuen, die weder für eine NGO noch für ein Massenmedium tätig sind. Um als ausländischer Agent abgestempelt zu werden, reicht es, Geld aus dem Ausland – etwa ein Honorar oder Spenden – erhalten zu haben und sich im weitesten Sinn politisch zu äußern.

Potenziell betrifft das sehr viele Menschen. „Ihr könnt über Politisches schreiben, Artikel zu Sozialthemen reposten, oder einfach auf Twitter meckern, dass die Zugtickets teurer geworden sind – das alles wird als politische Aktivität verstanden“, schreibt Apachontschitsch. Der Russischlehrerin wurden Honorare ausländischer Studenten zur Last gelegt.

Wenn der Staat etwas gegen dich hat, kommst du auf diese Liste

Galina Arapowa, Leiterin des Zentrums zur Verteidigung der Medien in der Stadt Woronesch

„Wenn der Staat etwas gegen dich hat, kommst du auf diese Liste“, konstatiert Galina Arapowa bei einem Briefing der Organisation „EU-Russia Civil Society Forum“ zum Thema. Arapowa ist Leiterin des Zentrums zur Verteidigung der Medien in der Stadt Woronesch, das Betroffene unterstützt. Sie erwartet in den kommenden Monaten viele neue Fälle – „angefangen von Bürgern, die in internationale Aktivitäten eingebunden sind, bis hin zu Russen im Ausland, die sich in einer NGO engagieren“.

Erleichterte Zensur, schwächeres Versammlungsrecht

Wer als ausländischer Agent gelistet ist, muss jede seiner Äußerungen entsprechend kennzeichnen. Er muss regelmäßig über seine Einkünfte Bericht erstatten und darf keine öffentlichen Ämter ausüben. Das Etikett diene dazu, internationale Kooperationen als ausländische Einflussnahme schlecht zu machen, sagt Galina Arapowa. Der Staat hat mit der Regelung ein Instrument in der Hand, mit dem potenziell sehr viele Bürger in sein Visier rücken – so viele, dass der bürokratische Aufwand zu hoch wäre.

In der Realität dürfte das Gesetz punktuell eingesetzt werden – „dort, wo es den konkreten politischen Willen der Behörden gibt“, wie Arapowa es ausdrückt. Wie im Fall Apachontschitsch. Die willkürliche Anwendung wirkt immer auch abschreckend auf andere kritische Stimmen. Die Botschaft ist: Es könnte – theoretisch – jeden treffen.

Arapowa und andere russische Experten sind der Ansicht, dass diese Schritte nicht zufällig gesetzt werden. Denn im September steht eine wichtige politische Entscheidung an: eine neue Staats-Duma wird gewählt. Ein Kreml-treues Parlament ist für Präsident Wladimir Putin wichtig. Doch die Staatsspitze fürchtet ein Protestvotum, angefacht von Wirtschafts- und Corona-Krise. In den letzten Wochen bereiteten Parlamentarier daher eine ganze Reihe von Verschärfungen im Bereich der Versammlungs-, Meinungs- und Informationsfreiheit vor. Die Anpassungen erschweren unabhängiges gesellschaftliches Engagement und erleichtern das Einschreiten des Staates gegen etwaige Kritiker.

Die Staatsmacht rückt näher an die Türschwelle der Menschen

Jelena Schachowa, Vereinigung Bürgerkontrolle in St. Petersburg

„Die Staatsmacht rückt näher an die Türschwelle der Menschen“, sagt Jelena Schachowa von der Vereinigung Bürgerkontrolle in St. Petersburg. So wurde das Versammlungsrecht weiter ausgehöhlt, Maßnahmen erleichtern die Zensur westlicher Socia-Media-Plattformen und eine Regelung verbietet die Veröffentlichung persönlicher Daten von Sicherheitskräften. Damit könnten in Zukunft journalistische Recherchen wie jene über die Verantwortlichen der Nawalny-Vergiftung kriminalisiert werden.

Die Staatsmacht und ihre geografischen Vorteile

Auch die Strafen für üble Nachrede wurden verschärft. Künftig können nicht nur Äußerungen gegen konkrete Betroffene geahndet werden. Auch bei herabwürdigenden Aussagen gegen soziale Gruppen drohen bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe. Im Falle schwerer Verbrechen wie etwa Korruption gilt ein Strafrahmen bis zu fünf Jahren. Laut Expertin Arapowa können damit Statements wie „Polizisten sind korrupt“ verfolgt werden. „Jeder, der sich kritisch über eine Gruppe von Menschen ausdrückt, kann betroffen sein“, sagt sie. „Das erschwert jegliche Kritik im Land.“

Waldspaziergang 75 Kilometer von Moskau entfernt: „Man schickt Polizeibeamte in fremde Regionen, damit es keine Solidarisierungsversuche gibt“
Waldspaziergang 75 Kilometer von Moskau entfernt: „Man schickt Polizeibeamte in fremde Regionen, damit es keine Solidarisierungsversuche gibt“ Foto: AFP/Yuri Kadobnov

Warum stellen sich in Russland so wenige gegen diese Beschränkungen? Die Gesprächspartner führen eine Art Gewöhnung an den langjährigen repressiven Kurs an. Die meisten Menschen versuchten, sich aus der Politik herauszuhalten. Engagement bringe nichts als Probleme, heißt es. Tatsächlich ist es ja auch oft so. Zudem verstehe es die Staatsmacht sehr gut, „die geografischen Vorteile des Landes zu nutzen“, sagt Galina Arapowa. Russland sei ein riesiges Land, politische Aktivität finde nur wenigen Städten statt, was anderswo passiere, sei oft Tausende Kilometer weit entfernt.

Während in anderen Ländern ein gesellschaftliches Band zwischen Bürgern und Behördenvertretern bestehe, sei das in Russland anders. Ein Beispiel: „Man schickt Polizeibeamte in fremde Regionen, damit es keine Solidarisierungsversuche gibt.“

J.Scholer
16. Januar 2021 - 12.44

Seine Wurzeln vergisst man nie, einmal Tchékist immer Tchékist.