UltracyclingRalph Diseviscourt: „Bei Grenzerfahrungen lernt man sich selbst kennen“ 

Ultracycling / Ralph Diseviscourt: „Bei Grenzerfahrungen lernt man sich selbst kennen“ 
Gleich zehn Weltrekorde stellte Ralph Diseviscourt im Juli dieses Jahres auf der Mauer des Viandener Oberbeckens auf Archivbild: Jerry Gerard/Tageblatt

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Vor etwa zehn Jahren hat Ralph Diseviscourt das Ultracycling für sich entdeckt. Seit seinem zweiten Platz beim legendären Race Across America im Jahr 2018 gehört der hauptberufliche Bänker definitiv zur „Crème de la crème“ in seiner Disziplin. Die Corona-Pandemie stellte allerdings auch den Extremsportler vor einige Probleme – ganz ausbremsen konnte sie ihn jedoch nicht. Spätestens seit seiner 24-stündigen Weltrekordfahrt in Vianden ist „Dizzy“ weit über die einheimische Radsportszene hinaus bekannt. Das Tageblatt hat sich mit dem 44-Jährigen über den Radsport in seiner extremsten Form, die abgelaufene Saison und seine nächsten Projekte unterhalten.

Tageblatt: Ein spezielles Jahr geht zu Ende. Wie sind Sie mit dem Covid-19-bedingten Ausfall Ihres Saisonhöhepunktes, des „Red Bull Transsiberian Extreme Race“ über 9.000 km, umgegangen?

Ralph Diseviscourt: Die Absage des Rennens hat sich im Laufe der Wochen immer mehr abgezeichnet. Natürlich hatte ich bis zuletzt gehofft, dass das Rennen doch noch stattfinden wird. Zunächst war ich etwas enttäuscht und frustriert über die Absage, da ich viel Zeit und Energie in die Vorbereitung dieses Wettbewerbs investiert hatte. Letztendlich kann man verstehen, dass es für den Organisator nicht möglich war, das Rennen unter den gegebenen Umständen durchzuführen.

Dennoch sind Sie nicht tatenlos geblieben und haben Ihre gute Form bei dem spektakulären 24-Stunden-Weltrekord auf der Mauer des SEO-Speicherbeckens in Vianden unter Beweis gestellt. Dabei haben Sie große Aufmerksamkeit und auch Anerkennung genießen dürfen.

Das stimmt. Ich glaube, dass die Aufmerksamkeit hierzulande noch größer war als bei meiner zweiten Teilnahme am Race Across America. Das hat auch damit zu tun, dass im Juli in sportlicher Hinsicht sonst kaum etwas los war. Die Medien haben sich regelrecht auf den Weltrekordversuch gestürzt. Aufgrund der Restriktionen konnten leider nur wenige Zuschauer an der Strecke sein. Für meine Leistung wurde ich neben Sportminister Dan Kersch auch vom Großherzog beglückwünscht.

Hat der Rekord weiterhin Bestand?

Nur kurze Zeit nach meinem neuen Weltrekord hat ein Slowene versucht, die neue Bestmarke von 915 km zu knacken. Nach 20 Stunden hatte er bereits 780 km zurückgelegt, ist danach jedoch eingebrochen und hat den Rekord um einen einzigen Kilometer verfehlt.

Hat dieses geglückte Experiment – immerhin haben Sie ja binnen 24 Stunden insgesamt zehn Weltrekorde geknackt – das Interesse geweckt, weitere Bestmarken in Angriff zu nehmen?

Es würde mich schon reizen, den 24-Stunden-Weltrekord auf der Bahn anzugreifen. Dieser liegt bei 941 km und wird vom Österreicher Christoph Strasser gehalten. Bei meinem Weltrekord wurden 915 km gewertet, gefahren bin ich aber insgesamt 927 km, da die Ideallinie nicht zu halten war. Auf einem Velodrom ist dies möglich, man muss sich dort jedoch mit der Monotonie und den Fliehkräften zurechtzufinden. Von Vorteil sind der perfekte Belag und die Tatsache, dass man bei Nacht nicht mit niedrigen Temperaturen und Gegenwind zu kämpfen hat.

Was steht im kommenden Jahr auf dem Programm?

Ich bin fürs Red Bull Transsiberian Extreme Race, das auf Juli kommenden Jahres verlegt wurde, eingeschrieben und qualifiziert. Es ist schwierig, vorauszusagen, ob das Rennen dieses Mal stattfinden wird. Momentan weiß man nicht einmal, was nächste Woche sein wird. Ich hoffe, dass die Situation dann, so wie es auch in diesem Sommer der Fall war, weniger dramatisch sein wird.

Welchen Einfluss hat die Corona-Krise auf Ihr Trainingspensum?

Seit Oktober arbeite ich wieder von zu Hause aus. Dadurch fallen die täglichen Fahrten von Nocher zur Arbeit in die Hauptstadt weg, ebenso wie die zusätzlichen Trainingseinheiten in der Mittagspause. Insgesamt bin ich dadurch weitaus weniger Trainingskilometer gefahren als sonst. Waren es 2018 noch 46.000 Trainingskilometer, so werde ich dieses Jahr auf maximal 38.000 km kommen. Hinzu kam jetzt noch die Ausgangssperre bis 6.00 Uhr in der Früh, die mir weniger Zeit lässt für die erste Trainingsfahrt. Ein positiver Aspekt dieser Krise ist allerdings die Tatsache, dass ich jetzt mehr Zeit mit der Familie verbringen kann. Ich hab jetzt die Gelegenheit, die Kinder zur Schule zu fahren und in der Mittagspause das Kochen zu übernehmen.

Konnten Sie trotz der Pandemie weiter auf Ihre Sponsoren zählen?

Beim Race around Austria konnte ich auf das restliche Budget vom Vorjahr zurückgreifen. Für meinen Weltrekordversuch und die erstmals in Luxemburg ausgetragene „Dizzy Challenge“ hatte ich kaum Ausgaben. Meine Sponsoren, hauptsächlich Firmen aus dem Mittelstand, haben derzeit auch ganz andere Sorgen. Sollte ich im Sommer in Russland starten, müsste ich dann wieder bei ihnen anklopfen.

Woraus beziehen Sie die Motivation, sich all den Strapazen – Sie sitzen bis zu 50 Stunden pro Woche im Rennsattel – zu unterziehen?

An allererster Stelle steht die Liebe zum Radfahren. Auf dem Rad finde ich den optimalen Ausgleich zum alltäglichen Stress, komme auf andere Gedanken und bin zudem in der Natur. Das Rad nutze ich wie gesagt auch als Transportmittel zur Arbeit. Was das Ultracycling anbelangt, so lernt man sich bei den Grenzerfahrungen selbst kennen. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die spezielle Atmosphäre und die Kollegialität unter den Konkurrenten bei den jeweiligen Abenteuern, die wir gemeinsam erleben. Jedes Rennen gleicht einer Expedition. Beim diesjährigen Race Across Austria, hab ich das Zusammensein mit den anderen Sportlern, das wegen der Einschränkungen nicht möglich war, vermisst.

Setzen die extremen Belastungen Ihrem Körper auf Dauer nicht zu?

Im Prinzip ist Radfahren gesund. Ob das auch fürs Ultracycling gilt, kann ich nicht einschätzen. Vor meiner ersten Teilnahme am Race across America hatte ich eine Venenentzündung. Ich kann jetzt nicht sagen, woran das gelegen hat, es kann vom vielen Radfahren kommen oder aber genetisch bedingt sein. Darüber hinaus war ich bislang noch nicht mit Gelenk- oder Bänderproblemen geplagt gewesen, ganz im Gegensatz zu vielen Fußballspielern beispielsweise. Das Gleiche kann man auch im Handball und Basketball beobachten.

Hatten Sie es schon mal anvisiert, ein Rennen als Solist anzugehen und somit ohne Begleitfahrzeug zu starten?

Das Fahren ohne Team liegt derzeit voll im Trend und bedeutet für den Athleten aus organisatorischer Sicht auch weniger Aufwand. Man soll ja nie nein sagen, dennoch bin ich froh über die zusätzliche Sicherheit, die das Fahren im Team mit sich bringt. Alleine auf sich selbst gestellt zu sein, ist sicherlich die puristischste Form des Extremradsports, aber auch die gefährlichste. Leider gibt es immer wieder Tote zu beklagen. Im Jahr 2017 sind gleich drei Fahrer während Ultrarennen ums Leben gekommen. Einer von ihnen war Mike Hall, ein Star in der Szene. Der Brite ist beim Indian Pacific Wheel Race im Morgengrauen auf einem Highway in der Nähe von Canberra von einem Wagen erfasst worden und war auf der Stelle tot.
Auch beim Race Across America gab es schon einmal einen Todesfall. Daraufhin wurde das Reglement geändert und minimale Schlafpausen eingeführt. Dies wurde danach leider wieder rückgängig gemacht. Ein Grund, weshalb mir das Rennen durch Sibirien zusagt, ist die Tatsache, dass es in Etappen ausgetragen wird und allen Fahrern erlaubt, Schlafpausen einzulegen.

Mit 44 Jahren gehören Sie zu den Weltbesten in Ihrer Disziplin. Sie scheinen das beste Alter in dieser Disziplin noch nicht erreicht zu haben?

Ich würde sagen, dass ich mich jetzt im besten „Ultracycling-Alter“ befinde. Bis zum 50. Lebensjahr ist es möglich, auf einem hohen Niveau zu fahren. Das beste Beispiel dafür ist der Slowene Marco Baloh, der mit 53 Jahren immer noch zu den Besten zählt.

de Prolet
23. Dezember 2020 - 15.17

Und genauso ist es. Die wenigsten Menschen kennen sich selbst, weil sie es nicht wagen, am besten durch Sport, ihre eigenen physischen und psychischen Grenzen auszuloten.