Sisyphus in der GrubeDouglas Stuarts Romandebüt „Shuggie Bain“ ist der Gewinner des Booker Prize 2020

Sisyphus in der Grube / Douglas Stuarts Romandebüt „Shuggie Bain“ ist der Gewinner des Booker Prize 2020
Der Debütroman von Douglas Stuart spielt im Glasgow der 1980er-Jahre Foto: AFP Photo/The Booker Prizes

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„Shuggie Bain“ erzählt von einer Mutter-Sohn-Beziehung im Schatten von Alkoholismus, sozialer Verrohung und Verwahrlosung – ein bewegender Roman mit beeindruckenden Szenen, der trotz aller Bedrücktheit Mut macht.

Es gibt viele wütende, anklägerische Darstellungen sozialer Misere in Schottland. „Shuggie Bain“ ist keine davon und hätte doch allen Grund dazu: Douglas Stuarts Roman spielt im Glasgow der 1980er-Jahre, das unter den Folgen der Deindustrialisierung leidet, allen voran Arbeitslosigkeit und Alkoholismus. Agnes Bain, Ende 30, lebt mit ihren drei Kindern und ihrem Mann bei ihren Eltern in einem Hochhaus im Norden der Stadt. Sie ist eine schwere Trinkerin und stirbt über ein Jahrzehnt einen langsamen Tod, während die Menschen um sie herum nach und nach aus ihrem Leben verschwinden, bis nur noch ihr jüngster, zu Beginn fünfjähriger Sohn Hugh, genannt „Shuggie“, übrig ist.

Um Schuldzuweisungen oder offenkundige Sozialkritik geht es Stuart nicht. Sein Buch ist ein eindringliches, fast zärtliches Porträt der Familie Bain, des Milieus, dem sie entstammen, und des aussichtslosen Kampfs, den zumindest Shuggie gegen den Verfall seiner Mutter führt. Der Vater, „Big Shug“, ein Taxifahrer und alternder Schürzenjäger, verlässt die Familie früh, nachdem er ihr einen Neuanfang in einem Haus am Stadtrand versprochen hat. Es entpuppt sich als Bruchbude in einer Arbeitersiedlung nahe einer stillgelegten Kohlemine. Die Gegend trägt den treffenden Namen „The Pit“ (Die Grube). In diesem Mikrokosmos, in dem praktisch alle arbeitslos, miteinander verwandt oder verschwägert und alkohol- oder pillenabhängig sind, ist der Großteil der Handlung situiert.

Fluchten, Demütigungen und vorhersehbare Katastrophen

Auch Agnes’ Kinder aus erster Ehe, Catherine und Alexander, genannt „Leek“, wollen ihren Wurzeln so rasch wie möglich entfliehen. Die Schwester heiratet, kaum volljährig, einen Neffen ihres Schwiegervaters und zieht nach Südafrika. Der Bruder zeichnet und hört Musik, bis auch er alt genug ist, um auszuziehen. Nur Shuggie glaubt lange daran, dass seine Mutter sich irgendwann doch noch ändert – und erlebt eine nicht enden wollende Serie von Demütigungen, die der Roman penibel beschreibt. Da wären etwa die Besuche der „Tanten“ aus der Nachbarschaft, die darauf warten, dass die Hausherrin noch eine Bierdose oder Vodkaflasche aus einem ihrer zahlreichen Verstecke holt, und die der „Onkel“, die eine Einkaufstüte voller Getränke mitbringen und Agnes irgendwann ins Schlafzimmer zerren.

Mit fremder Hilfe kann Shuggie bei seinen Bestrebungen, das wöchentliche Arbeitslosen- und Kindergeld vor dem Zugriff der Mutter zu bewahren und ausreichende Essensvorräte anzulegen, nicht rechnen. Die Siedlung hat in dem Jungen, der gerne mit Puppen spielt und sich nicht für Fußball interessiert, schnell einen „Poof“ ausgemacht und begegnet ihm mit größtmöglicher Verachtung. Agnes’ verzweifelter Versuch, ihren homosexuellen Sohn durch den Kontakt zu einem Ersatzvater aus der Nachbarschaft zu einem „normalen Jungen“ zu machen, endet in einer vorhersehbaren Katastrophe.

Leben als Teufelskreis, aber nicht ohne Hoffnung

Es gibt wenig Lichtblicke im Verlauf der Geschichte: ein „gutes Jahr“ für die Mutter dank den Anonymen Alkoholikern, eine späte Freundschaft für den Sohn mit einem lesbischen Mädchen. Die Enge der Welt, die Douglas Stuart beschreibt, zeigt sich schon allein in der absurden Anzahl an Wiederholungen und Verdoppelungen, die den Roman durchziehen: Big Shug hat mit drei verschiedenen Frauen je einen Sohn, den er nach sich benennt; Agnes zwei große Beziehungen sind zu Taxifahrern; Shuggie sagt wie ein Mantra auswendig gelernte Fußballresultate auf, um eine stereotype Männlichkeit zu behaupten. In „Shuggie Bain“ erweist sich das Leben als Teufelskreis aus Ritualen, denen man kaum entfliehen kann. Wie wurde Agnes überhaupt zur Alkoholikerin? Der Roman gibt darauf keine Antwort. Sie ist es von Anfang an und wird es bis zum Schluss bleiben.

Stuarts Buch ist zweifellos niederschmetternd, aber nie ganz ohne Hoffnung. In der langwierigen Tortur, die Mutter und Sohn gemeinsam durchmachen, gibt es viele kleine heroischen Momente. Selbstmitleid kann sich Shuggie nicht erlauben und der Roman führt immer wieder seinen Mut, seinen Durchhaltewillen und seine unbedingte Loyalität gegenüber Agnes vor – sowie die Solidarität zwischen Shuggie und Leek, die trotz Leeks Abkehr von seiner Mutter nie abreißt. Die Einsicht, dass es der Mutter nie „besser gehen“ wird, ist gekoppelt mit derjenigen, dass nur verliert, wer aufgibt.

Präsentiert wird dies alles in Douglas Stuarts schnörkelloser Sprache, die uns abwechselnd ins Innere der unterschiedlichen Mitglieder der Familie Bain führt und ein genaues Ohr für die Schattierungen des Glasgower Dialekts besitzt. Man darf gespannt sein, wie sich die Übersetzungen anstellen; wer dazu in der Lage ist, sollte aber gleich zum Original greifen. „Shuggie Bain“ wird man so schnell nicht vergessen.

Info

Douglas Stuart, „Shuggie Bain“, Picador, London 2020, 448 Seiten, 14,99 £

 Foto: AFP Photo/The Booker Prizes