Alain spannt den Bogen„Nach der Krise wird es ein kreatives Erwachen geben“

Alain spannt den Bogen / „Nach der Krise wird es ein kreatives Erwachen geben“
Der Dirigent Markus Stenz Foto: Kaupo Kikkas

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Am 13. November leitete der renommierte Dirigent Markus Stenz gleich zweimal ein quasi improvisiertes Programm mit dem Orchestre Philharmonique du Luxembourg im großen Saal der Philharmonie vor jeweils 100 zugelassenen Zuhörern, ehe er sich deswegen danach in Deutschland in Quarantäne begeben musste. Unser Mitarbeiter Alain Steffen hat sich im Nachhinein mit dem Dirigenten unterhalten.

Tageblatt: Nach Ihren beiden Konzerten in Luxemburg vor jeweils nur 100 zugelassenen Zuhörern sind Sie nun wieder in Deutschland und mussten dadurch auch wieder in Quarantäne. Wie erleben Sie momentan die Corona-Krise?

Markus Stenz: Anstrengend! Aber ich freue mich für alles, was ich machen kann. Dann muss ich eben auch wieder zehn bzw. fünf Tage Quarantäne in Kauf nehmen. Niemand kommt momentan um diese Situation herum. Und besonders wir Künstler müssen gerade jetzt sehr flexibel und kreativ sein. Unsere Hauptaufgabe ist es, die Flamme weiterzutragen, nicht aufzugeben und der Musik, so gut es eben geht, zu ihrem Recht zu verhelfen. Die Realität ist, wie sie ist, und dieser unmögliche Zustand wird auch irgendwann vorbei sein. Dann werden wir wieder weiterspielen. Aber gerade jetzt darf der Kontakt zum Publikum nicht abreißen

Zwischen Europa und Amerika gibt es ja in dieser Hinsicht gewaltige Unterschiede. Während man sich in Europa quasi von Woche zu Woche vorwärtsarbeitet und Projekte anpasst, werden in Amerika von den großen Orchestern ganze Spielzeiten abgesagt.

Ja, in Amerika ist die Situation verheerend, zumal alle Orchester privat finanziert sind und keine staatlichen Subventionen bekommen. Da sind wir in Europa glücklicherweise viel besser dran, obwohl es auch hier besonders für die freischaffenden Künstler kritisch ist. Auch nach der Corona- Krise wird es wohl einige Zeit dauern, bis dieses Gleichgewicht zwischen Amerika und Europa wieder hergestellt ist, insbesondere was das Reisen und die Tourneen betrifft. Aber auch die Angstvisionen von 9/11, die wir damals alle hatten, haben sich nicht bewahrheitet und diese Attentate mit einer weltweiten Auswirkung hatten keinen wesentlichen Einfluss auf das internationale Musikleben. Und so wird es auch diesmal sein. Da bin ich optimistisch. Nach der Krise wird es ein kreatives Erwachen geben.

Die Situation erfordert oft auch kurzfristige Programm- und Besetzungsänderungen, die aber auch sehr spannend sein können.

Genau, und das ist ja auch ermutigend. Wir können in der Krise sehr kreativ sein und plötzlich entwickelt sich etwas ganz anderes, aber sehr Schönes, an das vorher niemand gedacht hat. Nehmen wir mein letztes Konzert in Luxemburg. Da mussten wir spontan auf ein neues Programm umsteigen, weil das auf zeitgenössische Musik fixierte Rainy-Days-Festival abgesagt werden musste. So stellten wir ein Programm mit Werken von Gabrieli, Dean und Haydn zusammen. Bei Gabrieli durften endlich die momentan oft vernachlässigten Blechbläser im Mittelpunkt stehen, weil wir sie in zwei Gruppen von fünf Musikern von den Türmen der Luxemburger Philharmonie spielen lassen konnten. Was einen tollen Effekt ergab. Für die Freunde zeitgenössischer Musik erklang danach themenverwandt Carlo von Brett Dean und die Klassiker konnten sich anschließend über Haydns letzte Symphonie mit ihren hellen Dur-Klängen freuen. Ein tolles und sehr spannendes Programm.

Kommen wir kurz auf den australischen Komponisten Brett Dean zurück, der ja auch als Bratscher 15 Jahre lang bei den Berliner Philharmonikern gespielt hat. In einem Interview, das wir vor über zehn Jahren führten, haben Sie bereits damals Dean als herausragenden Komponisten gelobt, obwohl er zu der Zeit in Europa noch wenig bekannt war.

Ja, das war kurz nachdem ich aus Australien zurück war, wo ich Chefdirigent des Melbourne Symphony Orchestra gewesen war. Brett Dean ist ein toller Komponist. Seine Musik fasziniert mich, weil er viel mit Sampler-Klängen arbeitet, die er dann elektronisch miteinbindet. Ich habe beispielsweise seine Oper Bliss dirigiert, in der er mit Werbemusik arbeitet. Stilistisch ganz anders wieder seine Oper Hamlet, die in Glyndebourne zu einem wahren Publikumsrenner wurde. Brett Dean ist als Komponist eine unheimlich starke Persönlichkeit, weil er seine eigene Sprache hat und die konsequent immer weiter verfeinert und sich eigentlich nie wiederholt. Zudem hat er tolle Einfälle. Und obwohl seine Musik sehr komplex ist, ist sie bis auf die Knochen emotional. Und ich finde, sein Werk Carlo passte sehr gut zwischen Gabrieli und Haydn.

Ein Programm muss also auch innerlich „passen“ und einen roten Faden haben?

Auf jeden Fall, das ist ja das Spannende. Und das Publikum merkt es, wenn auch oft unbewusst. Und es spürt auch, wenn ein Programm eher lustlos zusammengesetzt ist. Ein Programm darf nie ein Kompromiss sein und es ist auch unsere Aufgabe als Interpreten, ein Programm so aufzubauen, dass es Sinn macht. Und gerade jetzt in diesen bizarren Zeiten ist dies doppelt wichtig.

Und auch Ihre Interpretation der Symphonie Nr. 104 von Haydn schien nicht beliebig. Ich war eigentlich sehr angenehm überrascht, wie Sie und das Orchestre Philharmonique du Luxembourg historisch informierte Spritzigkeit mit der Eleganz Mozarts und dem kraftvollen Zugriff Beethovens zu einem Ganzen fügten. Also wirklich kein Papa Haydn.

Genau so, wie Sie es jetzt gesagt haben, war dieser Haydn auch gedacht. Vor allem Freude sollte er machen. Dank der Aufnahmebereitschaft der Musiker konnten wir zusammen einen Haydn voller Überraschungen, Wiederholungen, Improvisationen und Farbveränderungen erarbeiten. Die Finnen sagen: „Play at the good side of risk“. In dem Sinne ist Haydn ein wirklicher Abenteuerspielplatz und meine Interpretation ist nur ein Vorschlag. Man kann Haydn auch ganz anders machen. Aber ich liebe diesen Mut zum Risiko, auch wenn mal was danebengeht. Doch so bleibt die Musik aufregend und lebendig und klingt niemals langweilig. Und in diesem Sinne ein großes Kompliment an die Musiker, die bei den beiden Konzerten wirklich mitgegangen sind und volles Risiko gespielt haben.

Sie dirigieren sowohl Konzerte wie auch Oper und sowohl moderne zeitgenössische Musik wie auch klassisches Repertoire. Wie wählen Sie aus, wie planen Sie?

Sehen Sie, ich genieße die Gabe, ein Allrounder zu sein. Ich genieße es, selbst bei komplexen Partituren nicht überfordert zu sein und bei der zeitgenössischen Musik den gleichen Atem wie bei Haydn auszumachen. Ich finde es toll, dass ich die Gelegenheit habe, mit lebenden Komponisten zusammenzuarbeiten, und so die musikalische Übersetzung der ersten Idee mit ihnen gestalten kann. Und das hilft mir sehr viel bei meiner Sichtweise der Klassiker. Ich versuche alle modischen Strömungen und Interpretationskonzepte zu vergessen und eben diesen Geist der ersten Idee zu finden und umzusetzen. Zurück zum Ursprung, zurück zur Unbefangenheit! Und ich habe das große Glück, arbeiten zu können, wie ich will. Ich muss mich nicht festlegen, ich erfreue mich an vielen verschiedenen Richtungen und Stilen, bin neugierig auf Neues und komme immer wieder gerne zum klassischen Repertoire zurück. Und an den vielen Möglichkeiten, die sich einem bieten, wenn man kreativ arbeiten viel. Ich bin also ein wirklich glücklicher Musiker. Einer, mit einem heißen Herzen.

Fuchsberger
28. November 2020 - 15.57

Nach der Krise ist vor der Krise.