AnalyseIn der russischen Außenpolitik ist ein gewisser Wandel festzustellen

Analyse / In der russischen Außenpolitik ist ein gewisser Wandel festzustellen
Russische Soldaten im syrischen Aleppo: Irgendwann stellt sich bei den Einsätzen im Ausland die Kosten-Frage Foto: AP/Russian defense Ministry

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Spätestens seit der Ukraine-Krise galt Russlands Nachbarschaft als eine Region, in der der Kreml notfalls auch mit Waffengewalt seine Interessen vertritt. Doch nun gibt es Anzeichen für einen allmählichen Strategiewandel.

Die Sowjetunion ist seit knapp drei Jahrzehnten Geschichte. Doch noch immer beansprucht Russland in seiner Nachbarschaft eine Vormachtstellung. Spätestens seit der Ukraine-Krise schien klar: In der oft als „nahes Ausland“ bezeichneten Region setzt Moskau seine Interessen rigide durch, notfalls auch mit Waffengewalt.

Während der Kreml im Vorjahr im Nahen Osten eine schwindelerregende Aktivität entwickelte, ist 2020 gleich von mehreren Krisen im postsowjetischen Raum geprägt. Doch von Vorpreschen und Ausstechen der Konkurrenten keine Spur. Die Devise des Kreml scheint eine andere: abwarten und Tee trinken. Hat Wladimir Putin gar das Interesse an der Region verloren, die manche despektierlich „Russlands Hinterhof“ nennen? Von Kirgistan bis Belarus, von der Republik Moldau bis nach Berg-Karabach: Nirgendwo verfolgt Moskau eine Maximallösung.

Westliche Beobachter haben dieses Verhalten in den letzten Wochen und Monaten als Schwäche oder Überforderung gedeutet. Die Innensicht ist eine andere. Dmitrij Trenin, Leiter des Moskauer Carnegie-Zentrums, sieht sich in seiner These von einem schon länger währenden, geordneten Rückzug Russlands aus seiner Nachbarschaft bestätigt. Das Land sei auf einem durchaus schmerzhaften Weg zu einem „Post-Post-Imperium“, schreibt Trenin. Russland „gewöhnt sich daran, nur Russland zu sein“. Die zivilisatorische Mission einer „russischen Welt“ gehöre der Vergangenheit an. Es gehe – vergleichsweise emotionsbefreit – um die Wahrung konkret definierter russischer Interessen.

Eine stärkere Kosten-Nutzen-Orientierung der russischen Außenpolitik notiert auch der Außenpolitik-Experte Wladimir Frolow. Er spricht in einem Kommentar für das Internetmedium „Republic“ vom „Konzept der strategischen Zurückhaltung“. Die Vorstellung von der großrussischen Dominanz in der Nachbarschaft sei zwar attraktiv, aber oft nur mit großem Aufwand umzusetzen. Daher habe man entschieden, „die Ambitionen im postsowjetischen Raum zu optimieren und eine Bestandsaufnahme der realen Bedürfnisse und ihrer Umsetzungsmöglichkeiten vorzunehmen“. Eine der zentralen Fragen heute, so Frolow: Was nützt es uns? Unter diesem Aspekt unterziehe Moskau auch seine regionalen Bündnisse einer Revision.

Pragmatischere Haltung

Auch das Vordringen anderer Akteure in die Nachbarschaft werde pragmatischer bewertet – etwa Chinas Präsenz in Zentralasien oder die türkischen Ambitionen im Südkaukasus. Der jüngste Krieg in Berg-Karabach ist auch in anderer Hinsicht aufschlussreich. Zwei populäre Annahmen wurden da entkräftet. Erstens: Moskau würde im Südkaukasus keine große Eskalation zulassen. Zweitens: Moskau würde seinem Verbündeten Armenien Schützenhilfe leisten.

Der Kreml griff erst zu einem Zeitpunkt ein, als die armenischen Kräfte extrem bedrängt waren. Moskau bezog seine Beistandspflicht, die der Vertrag über die Kollektive Sicherheit garantiert, nur auf das armenische Staatsgebiet, nicht aber auf das Karabach-Territorium. Der Kreml konzentrierte sich auf seine Rolle als Vermittler. Dieses Verhalten beschreiben Regionalexperten wie Laurence Broers als Ausdruck einer pragmatischeren Haltung Russlands gegenüber seinem „nahen Ausland“, die „die Vor-Ort-Realitäten der klebrigen Verbundenheit einer neoimperialen Nostalgie bevorzugt“.

Tatsächlich gibt es noch andere Beispiele, in denen Moskau sich einer Konfrontation entzogen hat. In der Republik Moldau wählte eine Mehrheit der Bürger die prowestliche Politikerin Maia Sandu zur Staatspräsidentin. Im Wahlkampf hatte Moskau zwar eindeutig den betont Putin-freundlichen Amtsinhaber Igor Dodon unterstützt. Die Inszenierung eines vermeintlichen Wahlbetrugs schlug der Kreml aus und enttäuschte damit Dodon. Seine elementaren Sicherheitsinteressen werden sowieso durch russische Soldaten in der abtrünnigen Region Transnistrien gewahrt.

Wirtschaft verschlechtert sich

Zurückhaltung übte man auch im noch weiter entfernten Kirgistan, wo Russland eine Militärbasis unterhält. Als es nach der Parlamentswahl zu chaotischen Zuständen kam, unterstützte Moskau zwar zunächst Amtsinhaber Sooronbaj Scheenbekow. Als dieser in einem von Sadyr Schaparow geführten Coup weichen musste, akzeptierte der Kreml das zähneknirschend. Moskau mag keine Revolutionen und Umstürze. Doch wenn es sich dabei um einen innenpolitischen Disput handelt und keine West-Orientierung droht, muss man nicht unbedingt Partei ergreifen. Armeniens Revolutionsführer Nikol Paschinjan ließ man aus diesem Grund gewähren.

Auch im Fall des an EU- und NATO-Staaten grenzenden Verbündeten Belarus hätte Moskau mehr Mittel einsetzen können. Die Finanzhilfe sowie diplomatisch-propagandistische Stärkung des Minsker Regimes ist Minimalprogramm, gleichwohl toleriert man die Gewaltexzesse in Minsk. Im Kreml dürfte man wissen, dass die Tage von Alexander Lukaschenko gezählt sind. Allerdings will Moskau einen allfälligen Wechsel im eigenen Interesse nutzen. Moskau mag wendiger geworden sein, aber Einflusssphären sind nicht passé.

Welche anderen Hintergründe hat die Realpolitik-Wende? In Russland ist eine gewisse Sorge über die außenpolitischen Abenteuer des Kreml zu bemerken, die sich auch in der öffentlichen Meinung niederschlug: Die Führung würde sich in fernen Gegenden übernehmen und den Problemen im Land zu wenig Aufmerksamkeit widmen. Zudem haben sich seit Jahresbeginn die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen durch die Corona-Krise noch einmal verschlechtert. Ein Zurückfahren des außenpolitischen Engagements ist daher auch aus budgetpolitischem Kalkül klug. Und nicht zuletzt könnte der Kreml auch zu dem Schluss gekommen sein, dass seit der Ukraine-Krise gegenüber dem Westen die Methode der Abschreckung vollkommen ausreicht.