HintergrundVier Monate Ruhe: Warum in der Ostukraine die Waffen schweigen

Hintergrund / Vier Monate Ruhe: Warum in der Ostukraine die Waffen schweigen
Militärzeremonie in Kiew: Im Osten der Ukraine schweigen die Waffen, auch dort ist das Leben ruhiger geworden Foto: AFP/Sergei Supinsky

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Seit vier Monaten hält in der Ostukraine ein Waffenstillstand. Für lokale Bewohner bedeutet das mehr Sicherheit in ihrem Alltag. Die Hintergründe für die unerwartete Entspannung liegen in Moskau.

Seit fast vier Monaten hält eine Waffenruhe in der Ostukraine. Das gab es noch nie in dem seit Frühling 2014 dauernden Konflikt zwischen ukrainischer Armee und Kreml-treuen Separatisten. Fast zwei Dutzend von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) vermittelte Waffenstillstände waren zuvor gescheitert. Es dauerte meist nur ein paar Tage, bis sich ein bekanntes Muster wiederholte: Ein Schuss führte zum nächsten. Und der Einsatz schwerer Waffen ließ nicht lang auf sich warten.

Doch seit dem 27. Juli ist ein Waffenstillstand in Kraft, der weitgehend hält. Die Statistik bestätigt das. Zivile Opfer sind selten wie nie zuvor. Ein Todesopfer, knapp zwei Dutzend Verletzte zählt man seit dem Inkrafttreten. Insgesamt wurden seit Ausbruch des Krieges bis Ende Juli 2020 mehr als 3.300 Zivilisten getötet. Registrierte man im Vorjahr noch durchschnittlich mehr als 800 Verletzungen der Feuerpause pro Tag, liegen die täglichen Verstöße derzeit im einstelligen oder niedrigen zweistelligen Bereich. In einem aktuellen Bericht der OSZE-Beobachter heißt es: „Seit vierzehn Wochen ist die Sicherheitssituation relativ ruhig.“

Für die Bewohner auf beiden Seiten der mehr als 420 Kilometer langen Frontlinie bedeutet das Entspannung in ihrem Alltag. Das Leben in der Stadt sei „viel ruhiger und vorhersehbarer“ geworden, sagt Olexij Sawkewitsch, Bewohner der ukrainisch kontrollierten Frontstadt Awdiiwka gegenüber dem Tageblatt. „Wir hören nur noch selten Explosionen“, erzählt der 41-jährige Familienvater. Nur ein paar Kilometer von Awdiiwka entfernt liegt die frühere Millionenstadt Donezk. Sie befindet sich heute im Separatistengebiet. Anna Kowalenko beobachtet dort ebenfalls eine Beruhigung der Lage. Doch Kowalenko erklärt auch, warum manche das Schweigen der Waffen als Ruhe vor dem Sturm interpretieren würden: „Wenn Kampfhandlungen stattfinden, ist klar, was passiert. Jetzt wissen wir nicht, was kommt.“

Wieso der Kreml nun Beruhigung will

Der österreichische Diplomat und frühere OSZE-Verhandler in der Ukraine, Martin Sajdik, sprach stets von einem „Rätsel“, warum in der Ostukraine kein Waffenstillstand von Dauer sei. Dass es jetzt plötzlich möglich ist, bestätigt, was Sajdik und andere Konfliktbeobachter seit Jahren wiederholten: Eine Entspannung ist vom politischen Willen der Konfliktparteien abhängig. Man ging davon aus, dass vor allem der Kreml kein Interesse an einer nachhaltigen Beruhigung der Lage hatte. Durch den beständigen Eskalationsdruck an der Front wurde der politische Druck auf die Ukraine aufrechterhalten.

Doch nun scheint der russischen Führung an einer Beruhigung gelegen. Häufig wird das mit dem Amtsantritt des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskij in Zusammenhang gebracht, der anders als sein Vorgänger eine Beilegung des Krieges in der Ostukraine zu seinen Prioritäten machte und damit auf die verstärkte Kriegsmüdigkeit im Land reagierte.

Tatsächlich initiierte Selenskij nach seiner Wahl im Vorjahr einen Dialog mit dem Kreml, es kam zum Austausch von Gefangenen und Entspannungsmaßnahmen vor Ort. Vor fast genau einem Jahr beim ersten Treffen von Selenskij und seinem russischen Kollegen Wladimir Putin beim Normandie-Gipfel in Paris vereinbarten die Parteien weitere Schritte. Neben einer Waffenruhe sollten weitere Übergänge für Zivilisten, verstärkte Minenräumung und der Rückzug von Kriegsgerät an festgelegten Orten folgen. Doch dann kam das Coronavirus – und fror die Lage im Kriegsgebiet auf Monate ein.

Viele sagen: Hauptsache, es wird nicht mehr geschossen – aber die Frage ist doch: Zu welchen Bedingungen ist Frieden möglich?

Olexij Sawkewitsch, Bewohner der ukrainisch kontrollierten Frontstadt Awdiiwk

Vieles von den Pariser Plänen ist bis heute nicht umgesetzt. Zu einem Folgetreffen, ursprünglich vier Monate später geplant, kam es nicht. Auch die Gespräche in Minsk, wo die Ukraine, Russland und Vertreter der selbsternannten Volksrepubliken unter dem Vorsitz der OSZE über die konkrete Umsetzung des Minsker Abkommens von 2015 verhandeln, finden nur noch im Online-Modus statt. Nach wie vor ist der maßgebliche Streitpunkt folgender: Während Kiew Sicherheitsgarantien für politische Reformen verlangt, pochen Russland und die Separatisten auf die prioritäre Umsetzung politischer Forderungen wie Wahlen und die Statusfrage.

Und hier kommen der Waffenstillstand und seine politischen Folgen ins Spiel. Dass der Kreml tatsächlich den Konflikt in der Ostukraine lösen will, ist wenig wahrscheinlich. Schließlich bietet der ungelöste Konflikt einen wichtigen Hebel der Einflussnahme auf die politische Zukunft der Ukraine. Mit der Feuerpause erfüllt Moskau aber eine wichtige Forderung Kiews – und dürfte die Gegenseite anderweitig zu Konzessionen drängen.

So ist es erklärtes Ziel des Kreml, die Separatisten als Verhandlungspartner in Minsk zu stärken. Kiew soll, kurz gesagt, zu direkten Vereinbarungen mit den Donezker und Luhansker Lokalherren gezwungen werden. In letzter Zeit gab es in Minsk mehrere Vorstöße der russischen Diplomaten in diese Richtung. Der Kreml verfolgt also eine „Regionalisierung“ und Überantwortung des Konflikts an seine Waffenbrüder im Donbass. Diese Entwicklung bestätigt auch die Kreml-Deutung des Krieges als „innerukrainische“ Angelegenheit, der angeblich ohne russische Einmischung begann.

Viele andere ungelöste Probleme

Darüber hinaus ist auch in anderen internationalen Schauplätzen in letzter Zeit eine gewisse Zurückhaltung des Kreml zu bemerken. Im Donbass ist man offenbar zum Schluss bekommen, dass eine Durchsetzung russischer Interessen derzeit auch ohne militärische Eskalation möglich ist. Was freilich nicht ausschließt, dass der eingefrorene Konflikt bei Bedarf wieder angeheizt werden kann.

Der Waffenstillstand hat den Bürgern entlang der Frontlinie mehr Sicherheit in ihrer Gegenwart gebracht. Was einen Friedensschluss in Zukunft betrifft, kommen noch keine allzu großen Hoffnungen auf. „Viele sagen: Hauptsache, es wird nicht mehr geschossen“, erzählt Olexij Sawkewitsch. „Aber die Frage ist doch: Zu welchen Bedingungen ist Frieden möglich?“

Anna Kowalenko aus Donezk klagt über die angespannte humanitäre Lage im Separatistengebiet. Viele Menschen sind arbeitslos, wegen Covid-19 sind die Krankenhäuser überfüllt, wichtige Medikamente fehlen. Noch dazu wurden seit Ende März wegen der Corona-Krise die Übergänge zwischen Separatistengebiet und ukrainischem Territorium geschlossen. Die Bewohner in den abtrünnigen Territorien sitzen seither quasi fest. Die Ukraine hat zwar vor kurzem die Übergänge einseitig geöffnet. Doch die Separatisten lassen Menschen nur in Ausnahmefällen durch. „Der Waffenstillstand ist eine gute Sache“, sagt Kowalenko. „Aber es gibt so viele andere ungelöste Probleme.“

HTK
20. November 2020 - 22.36

Boy-soldiers auch bei uns? Aber ohne Macheten wie die Knaben in Afrika. Wir schaffen uns ab.Da spielen Uniformen keine Rolle mehr.