Vor 77 JahrenAn der größten Massenerschießung des Zweiten Weltkriegs waren auch Luxemburger beteiligt

Vor 77 Jahren / An der größten Massenerschießung des Zweiten Weltkriegs waren auch Luxemburger beteiligt
Jüdische Männer auf dem Weg zur Exekution  Foto: Staatsarchiv Hamburg, 213-12_0021_Band_045, Bild 73

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Am 3. und 4. November 1943 wurden im besetzten Polen, im KZ Majdanek und in den Arbeitslagern Trawniki und Poniatowa mindestens 42.000 Juden – Männer, Frauen und Kinder – erschossen. An dieser Erschießungsaktion waren auch Luxemburger in deutscher Polizeiuniform beteiligt.

Die Vorbereitungen für die Ermordung und Ausraubung der Juden in dem als „Generalgouvernement“ (GG) bezeichneten Teil des von Deutschland besetzten Polens liefen seit Oktober 1941. Nach dem Tod von Reinhard Heydrich, dem Architekten der „Endlösung der Judenfrage“, der Ende Mai 1942 in Prag Opfer eines Attentats wurde, bekam die Vernichtung der Juden auf diesem Gebiet sowie im angrenzenden Bezirk Byalistok die Tarnbezeichnung „Aktion Reinhard“.

In den fünf Distrikten des GGs (s. Karte) lebten im Dezember 1941 nach Angaben des „Generalgouverneurs Polens“, Hans Frank, „2,5, vielleicht mit den jüdisch Versippten und dem, was alles dranhängt, jetzt 3,5 Millionen Juden“. Dies sagte Frank am 16.12 1941 anlässlich einer in Krakau stattfindenden Regierungssitzung in seiner Abschlussrede(1). Frank machte unmissverständlich klar, dass es nach dem „Rückdeutschungsprozess“ der Ostgebiete keinen Platz mehr für Juden geben würde. Dies wäre ebenfalls der Fall für alle der deutschen Herrschaft unterworfenen europäischen Gebiete gewesen.

Der Teil des besetzten Polens, der „Generalgouvernement“ genannt wurde. Auf diesem Gebiet existierten vier Vernichtungslager, in denen allein zwischen März 1942 und November 1943 mehr als 1,6 Millionen jüdische Menschen auf industrielle Weise durch Gas ermordet wurden.
Der Teil des besetzten Polens, der „Generalgouvernement“ genannt wurde. Auf diesem Gebiet existierten vier Vernichtungslager, in denen allein zwischen März 1942 und November 1943 mehr als 1,6 Millionen jüdische Menschen auf industrielle Weise durch Gas ermordet wurden.

Frank führte aus: „Ich werde daher den Juden gegenüber grundsätzlich nur von der Erwartung ausgehen, dass sie verschwinden. Sie müssen weg. … Aber was soll mit den Juden geschehen? Glauben Sie, man wird sie im Ostland in Siedlungsdörfern unterbringen? Man hat uns in Berlin gesagt: Weshalb macht man diese Scherereien; wir können im Ostland oder im Reichskommissariat auch nichts mit ihnen anfangen, liquidiert sie selber!“ „Meine Herren“, fuhr Frank fort, „ich muss sie bitten, sich gegen alle Mitleidserwägungen zu wappnen. Wir müssen die Juden vernichten, wo immer wir sie treffen und wo es irgend möglich ist…“(2)

In seiner Rede verwies Frank auf die geplante Wannseekonferenz zur „Endlösung der Judenfrage“. Er sagte: „Im Januar findet über diese Frage eine große Besprechung in Berlin statt, zu der ich Herrn Staatssekretär Dr. Bühler entsenden werde.“

Aktion Reinhard

Die von Heydrich einberufene Konferenz fand am 20.1.1942 statt. Am Ende der Veranstaltung ergriff Bühler das Wort und bat darum, mit der „Endlösung“, also der Ausrottung der Juden, im GG beginnen zu dürfen(3).

Die Wannseekonferenz diente dem Zweck, den Vernichtungsprozess, der seit der Invasion der Sowjetunion im Juni 1941 bereits im rückwärtigen Gebiet voll im Gange und im GG bereits in Planung war, zu formalisieren sowie die Zustimmung aller wichtigen Stellen des NS-Staates dafür zu gewinnen.

Die „Aktion Reinhard“ lief von März 1942 bis November 1943. Die drei extra dafür geschaffenen Todesfabriken Belzec, Sobibor und Treblinka gingen zwischen März und Juli 1942 in Betrieb. Auch das bereits seit Oktober 1941 bestehende KZ Lublin (Majdanek) wurde in den systematischen Vernichtungsplan mit einbezogen(4). Hauptverantwortlicher für die „Aktion Reinhard“ war der SS- und Polizeiführer (SSPF) des Distrikts Lublin, Himmlers österreichischer Freund Odilo Globocnik.

Am 27.3.1942 notierte Propagandaminister Goebbels in sein Tagebuch: „Aus dem Generalgouvernement werden jetzt, bei Lublin beginnend, die Juden nach dem Osten abgeschoben. Es wird hier ein ziemlich barbarisches und nicht näher zu beschreibendes Verfahren angewandt, und von den Juden selbst bleibt nicht mehr viel übrig. … An den Juden wird ein Strafgericht vollzogen, das zwar barbarisch ist, das sie aber vollauf verdient haben. … Man darf in diesen Dingen keine Sentimentalität obwalten lassen. Die Juden würden, wenn wir uns ihnen nicht erwehren würden, uns vernichten. Es ist ein Kampf auf Leben und Tod zwischen der arischen Rasse und dem jüdischen Bazillus.“(5)

„Nach dem Osten abschieben oder evakuieren“ war die Formel der SS für die Vernichtung der Juden.

Aktion Erntefest

Bei der formalisierten „Endlösung der Judenfrage“ ging es in einer ersten Phase darum, die „schädlichen Fresser“, wie sich Frank am 16.12.1941 ausgedrückt hatte, verschwinden zu lassen. Demgemäß sollten alle arbeitsunfähigen jüdischen Menschen so schnell wie möglich ermordet werden. Allerdings sollten die „in kriegswichtigen Betrieben im Arbeitseinsatz stehenden Juden“ zunächst von der Ausrottung verschont bleiben, „solange noch kein Ersatz zur Verfügung steht“, hatte Staatssekretär Neumann von der Behörde für den Vierjahresplan anlässlich der Wannseekonferenz erklärt(6).

Im Distrikt Lublin befanden sich mehrere Zwangsarbeitslager für Juden, die auch dem SSPF des Distrikts unterstanden und von der SS wirtschaftlich ausgebeutet wurden. Diese Lager bestanden noch, als Globocnik nach der Auflösung der Vernichtungslager Belzec, Treblinka und Sobibor die Aktion Reinhard für abgeschlossen erklärte. Er schrieb am 4.11.1943 an Himmler: „Ich habe mit 19.10.1943 die Aktion Reinhard, die ich im Generalgouvernement geführt habe, abgeschlossen und alle Lager aufgelöst.“(7) Er fügte seinem Schreiben einen Abschlussbericht der Aktion bei. Der Brief wurde von Triest abgesandt, dem neuen Stationierungsort Globocniks. Himmler hatte nämlich seinen Freund „Globus“ im September 1943 befördert und ihm in der „Operationszone Adriatisches Küstenland“ neue Aufgaben übertragen. Globocniks Nachfolger in Lublin wurde SS-Gruppenführer Jakob Sporrenberg.

In seinem Antwortschreiben drückt der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei Globocnik seinen Dank „für die großen und einmaligen Verdienste“ bei der Durchführung der Aktion Reinhard aus, also für die Ermordung von rund 1,5 Millionen jüdischen Menschen.(8)

Für den 19.10.1943 berief Generalgouverneur Frank eine Versammlung mit Vertretern des Sicherheitsapparates im GG ein, anlässlich der er erklärte, die „Judenlager“ stellten „eine akute Gefahr für die Sicherheit der Deutschen“ dar. Nach dieser Besprechung soll Sporrenberg den Befehl erhalten haben, alle „Judenlager“ im Raum Lublin zu liquidieren. Dieser Befehl soll aufgrund eines Schreibens Himmlers an den SS-Obergruppenführer im GG, Friedrich-Wilhelm Krüger, erteilt worden sein.(9)

Die „akute Gefahr“, auf die hingewiesen wurde, rührte vermeintlich daher, dass es im Monat August in Treblinka und in Byalistok zu jüdischen Aufständen gekommen war. Als es nun am 14.10.1943 in Sobibor ebenfalls zu einer jüdischen Revolte kam, bestand vermutlich dringender Handlungsbedarf, um weitere Widerstandsaktionen zu vereiteln. Es wurde entschieden, die Juden aus den Lagern Majdanek, Trawniki und Poniatowa, aber auch aus kleineren Lagern, am 3. und 4.11.1943 zu ermorden.

Die streng geheimen Erschießungen wurden unter dem Decknamen „Aktion Erntefest“ vorbereitet. Es sollte die größte Massenerschießung in der Geschichte der deutschen Konzentrationslager werden. Am 3.11.1943 wurden in Majdanek mindestens 18.000 und in Trawniki etwa 10.000 jüdische Menschen erschossen, und am nächsten Tag in Poniatowa 14.000(10). In gewisser Hinsicht schloss erst die „Aktion Erntefest“ die „Aktion Reinhard“ ab.

13 Luxemburger

Mehrere Bataillone der Ordnungspolizei (Schutzpolizei und Gendarmerie) und der Waffen-SS waren an diesen blutigen Novembertagen im Einsatz, darunter das Reserve-Polizeibataillon 101 (RPB 101), das zu dem Zeitpunkt die Bezeichnung III./SS-Polizei-Regiment 25 trug.

Der Luxemburger Jean Heinen in der Uniform der deutschen Schutzpolizei. Heinen war der einzige Luxemburger, der zugegeben hat, an der „Aktion Erntefest“ beteiligt gewesen zu sein, und sich darüber öffentlich geäußert hat. 
Der Luxemburger Jean Heinen in der Uniform der deutschen Schutzpolizei. Heinen war der einzige Luxemburger, der zugegeben hat, an der „Aktion Erntefest“ beteiligt gewesen zu sein, und sich darüber öffentlich geäußert hat.  Foto: Staatsarchiv Hamburg, 331-8_795

Von den 14 Luxemburgern, die mit diesem Bataillon seit Ende Juni 1942 im Rahmen der Aktion Reinhard im Distrikt Lublin eingesetzt waren, gehörten Anfang November 1943 noch 13 dazu. Einer war bereits gefallen. Es handelte sich um den Oberwachtmeister der Schutzpolizei Pierre Weis aus Echternach, der am 4.7.1943 bei einem Einsatz gegen polnische Partisanen umkam. Er wurde auf dem deutschen „Heldenfriedhof“ Lapiguz bei Lukow beigesetzt(11). In Luxemburg befindet sich sein Name auf dem „Tableau d’honneur des morts pour la patrie de la Force Armée“.(12)

Unseren Recherchen zufolge müssten die anderen 13 Luxemburger, die dem Todesbataillon RPB 101 angehörten, an den Massenerschießungen in Majdanek am 3.11. und in Poniatowa am 4.11.1943 beteiligt gewesen sein. Nur einer von ihnen hat sich dazu öffentlich geäußert.

Es handelt sich um Jean Heinen, der nach dem Krieg seine polizeiliche Laufbahn in der Luxemburger Gendarmerie und in der Kriminalpolizei (heute: Police judiciaire) fortsetzte. Er war einer derjenigen Luxemburger, denen es wie ihren zahlreichen deutschen Kameraden in der BRD nach dem Krieg gestattet wurde, ohne viel Federlesens die Uniform zu wechseln. Kriegsheimkehrer wie Heinen mussten zwar eine sogenannte „Epurationsprozedur“ durchlaufen, in der geprüft werden sollte, ob sie mit dem Feind kollaboriert bzw. sich irgendwelcher „antipatriotischer“ Taten schuldig gemacht hatten. Allerdings war die schriftliche Befragung so angelegt, dass zu dem Zeitpunkt aus den gegebenen Antworten kaum Rückschlüsse auf eine Beteiligung an Kriegsverbrechen hätten gezogen werden können.

Heinen äußerte sich zu den „Massenhinrichtungen“ von November 1943 im Raum Lublin zweimal. Einmal in einem Rechtfertigungsschreiben, das in vier Teilen als Leserbrief in der Tageszeitung Luxemburger Wort am 3., 7., 10. und 14.8.1996 veröffentlicht wurde, und einmal in einem nicht veröffentlichten Interview mit dem Publizisten Victor Weitzel, das dieser am 13. und 27.9.1996 führte und aufzeichnete.

Im Wort vom 7.8.1996 ist diesbezüglich zu lesen: „Was die eigentliche Massenermordung von Juden anbelangt, war unsere Kompanie zweimal zu Absperrungen herangezogen worden. Diese beiden Massenmorde erfolgten am 2. und 3. November 1943“ (Anm. d. Red.: sie fanden in Wirklichkeit am 3. und 4.11.1943 statt). Und weiter: „Sie waren meiner Erinnerung nach die letzten Judenaktionen, zu denen wir herangezogen wurden.“

An anderer Stelle behauptet Heinen, diese beiden Judenmassaker seien die einzigen gewesen, an denen seine Kompanie beteiligt war. Dies ist eine eindeutige Lüge.

Bevor wir nun auf die Beschreibung dessen, was sich an den Tatorten abspielte, näher eingehen, sei erwähnt, dass die 14 Luxemburger der 1. Kompanie des RPB 101 angehörten. Diese besonders einsatzfähige Kompanie bestand, wie das gesamte Bataillon, zum größten Teil aus älteren Reservisten, die keine Berufspolizisten waren. Von allen Kompanien des Bataillons zählte die 1. Kp. die höchste Zahl an aktiven Berufspolizisten, nämlich 28. Von diesen 28 waren die Hälfte Luxemburger. Die historische Forschung hat ergeben, dass die 1. Kp. im Rahmen der Aktion Reinhard bis einschließlich November 1943 direkt oder indirekt an der Ermordung von mehr als 60.000 jüdischen Menschen beteiligt war(13). Allerdings waren damit die Judenaktionen noch nicht beendet. Einheiten des RPB 101 waren auch nach dem 4.11.1943 an groß angelegten Walddurchkämmungsaktionen beteiligt, bei denen die aufgegriffenen Juden befehlsmäßig an Ort und Stelle zu erschießen waren. Im Sinne der Hamburger Justiz begingen alle Angehörigen des RPB 101 Beihilfe zum Mord, egal an welcher Stelle sie bei Judenaktionen eingesetzt waren.

Nun zurück zu Heinens Erinnerungen. Was die Massenermordung im KZ Majdanek am 3.11.1943 betrifft, erinnerte er sich nur, dass die Aufgabe seiner Kompanie darin bestand, „mit anderen Kompanien eine viele Kilometer lange Straße abzuriegeln, auf welcher Tausende von Juden geschritten kamen, um etwas weiter von unserer Aufstellung entfernt erschossen zu werden“. „Das Erschießen sahen wir nicht, wohl aber hörten wir die Schüsse“, schrieb Heinen in Teil II seines Leserbriefes.

Lebendig begraben

Am nächsten Tag in Poniatowa wurde dann Heinen auch noch direkter Zeuge des Ermordungsvorgangs und beschrieb ihn 53 Jahre nach den Ereignissen wie folgt: „Am anderen Morgen … musste unsere Kompanie … (ein) an einem anderen Ort gelegenes Judenlager abriegeln, denn sämtliche Insassen wurden in einem breiten, tiefen und langen Graben erschossen. Ich hatte wie gewöhnlich das MG (Maschinengewehr) und als zweiter Schütze diente mir ein Luxemburger. Wir hatten von unserem Anführer eine Stelle zugewiesen bekommen, von der aus wir wegen eines Wäldchens … keine Sicht auf das Lager hatten. Ich hatte, als schon länger als eine Stunde geschossen worden war, meinen Platz verlassen, … um mich in dem Wäldchen bis auf etwa 50 Meter an das Lager heran zu begeben. Das Grauen, das ich dort sah, kann ich nicht beschreiben, weil mir die passenden Worte fehlen. Oben auf dem Graben standen drei Polizeimänner, die … in den Graben hinunterschossen, wo schon etliche Lagen von Leichen lagen, auf die dann die anderen stiegen, um im Graben weiter nach vorne zu gehen.“

Im Weitzel-Interview betont Heinen noch, dass diese Menschen nicht alle tot gewesen sein konnten, denn es sei unter den Umständen nicht möglich gewesen, gezielte Schüsse abzugeben. „Da waren viele, die nicht tot waren“, erklärte Heinen, „die waren verletzt, vielleicht schwer. Und die Folgenden sind dann auf sie getreten. … Wenn sie nicht alle tot waren, dann sind sie zu Tode getreten worden oder sind erstickt.“

Im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft Hamburg gegen die Führer der 1. und 3. Kompanie sowie andere ehemalige Angehörige des RPB 101 ging M. Diekmann in seiner Vernehmung ebenfalls auf das Massaker von Poniatowa ein und zeichnete ein ähnliches Bild wie Heinen. Er gab zu Protokoll: „Die ganze Angelegenheit war aber das Grausigste, was ich jemals in meinem Leben gesehen habe, denn ich habe häufig beobachten können, dass nach Abgabe einer Salve Juden nur verletzt waren und mehr oder weniger lebendigen Leibes mit den Körpern anderer Erschossener begraben wurden, ohne dass auf die Verletzten sogenannte Gnadenschüsse abgegeben wurden. So habe ich in Erinnerung, dass die SS-Leute noch aus dem Leichenstapel heraus von Verwundeten beschimpft wurden.“(14)

Blick auf das Zwangsarbeitslager Poniatowa, November 1943
Blick auf das Zwangsarbeitslager Poniatowa, November 1943 Foto: Staatsanwalt beim Landgericht Hamburg

Aus dem Massengrab in Poniatowa konnte sich eine Frau namens Ludwika Fiszer befreien. Sie sagte zum Erschießungsvorgang nach dem Krieg Folgendes aus: „Wir zogen uns schnell aus und marschierten mit erhobenen Händen zu den Gruben, die wir selbst ausgehoben hatten. Zwei Meter tiefe Gräber bereits mit nackten Körpern gefüllt. … Sobald wir ankamen, hob ein SS-Soldat seinen Revolver, mit dem vielleicht etwas nicht stimmte, weil er damit herumfuchtelte. Ich sah auf zu ihm und er sagte: ‚Nicht so schnell.‘ Trotzdem legten wir uns hin, um nicht die Leichen zu sehen. Mein kleines Mädchen bat mich, ihre Augen zuzuhalten, weil sie Angst hatte. Ich umarmte ihren Kopf und bedeckte ihre Augen, so wie sie es wollte. Mit meiner rechten Hand hielt ich sie fest. So lagen wir da mit unseren Köpfen nach unten geneigt. Dann begann das Schießen. Sie schossen auf uns. Ich spürte Hitze in meinem linken Arm. Eine Kugel hatte ihn durchschlagen und den Kopf meiner zehnjährigen Tochter getroffen… Sie bewegte sich gar nicht. Dann hörte ich die nächste Salve von Schüssen donnern, ganz in der Nähe. Ich war ganz geschockt. Ich hatte Schmerzen im Kopf, aber ich erinnere mich nicht, ob ich bewusstlos wurde oder nicht. Ich hörte das Todesstöhnen meiner Nachbarin.

Dann ist es ganz still. Ich bin noch bei Bewusstsein; ich lebe immer noch und warte auf die Kugel, die allem ein Ende macht…. Nach einer Weile brachte die SS eine andere Frau mit ihrem Kind. Ihr letzter Wunsch war, ihr Kind zu küssen. Der Mörder erlaubte es nicht. Sie kniete neben mir auf meiner rechten Seite und legte ihren Kopf auf meinen. Der Schlächter schoss, und ihr Blut lief mir über den Kopf und sammelte sich in meinem Nacken und meinem Haar. Von hinten sah es sicher so aus, als ob ich tot sei. Ich höre dem Lärm der Schüsse für eine Weile zu, verliere das Zeitgefühl, und dann wird es still.“(15)

Anmerkungen:
(1) Sitzungsprotokoll, zitiert in: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945, Band 9, München 2014, S. 159-161, https://bit.ly/2XfcLbw
(2) Ebd.
(3) Wannsee-Protokoll, In: Poliakov, L./Wulf, J., Das Dritte Reich und die Juden, Berlin 1955, S. 126
(4) Kranz, T., Die Vernichtung der Juden im Konzentrationslager Majdanek, Lublin 2007, S. 9, S. 40, …
(5) Reuth, R.G. (Hrsg.), Joseph Goebbels Tagebücher, Band 4: 1940-1942, München 1999, S. 1776-1777
(6) Poliakov/Wulf op. cit., S. 125-126
(7) Staatsarchiv Hamburg, 213-12_0021_Band 020a, Bl. 2236
(8) Staatsarchiv Hamburg, 213-12_0021_Band 020a, Bl. 2238
(9) Klemp S., „Aktion Erntefest“: Mit Musik in den Tod. Rekonstruktion eines Massenmords, Münster 2013, S. 15
(10) Die Opferzahlen stammen aus Curilla, W., Der Judenmord in Polen und die deutsche Ordnungspolizei 1939-1945, Paderborn 2011, S. 725- 729
(11) Staatsarchiv Hamburg, 331-8_800
(12) Jacoby, L./Trauffler R., Freiwëllegekompanie 1940-1945, Tome II, Luxembourg 1986, S. 734
(13) Abgleich verschiedener Quellen: Hamburger Ermittlungsverfahren, Browning, Kopitzsch, Curilla, ….
(14) Staatsarchiv Hamburg, 213-12_0021_Band 003, Bl. 1612-1613
(15) Auszug aus der Aussage von Ludwika Fiszer, In: Klemp op. cit., S. 54