Tageblatt-ReportageHightech-Drohnen und geklebte Kalaschnikows: Eindrücke aus dem Krieg um Bergkarabach

Tageblatt-Reportage / Hightech-Drohnen und geklebte Kalaschnikows: Eindrücke aus dem Krieg um Bergkarabach
Kaum Glaube an eine politische Lösung: Freiwillige an der Front in Bergkarabach  Foto: Tageblatt/Armand Back

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Drei Tage lang sammelte das Tageblatt Ende Oktober Eindrücke vom Krieg um Bergkarabach, der zwischen Armenien und Aserbaidschan wütet. Gekämpft wird mit allen verfügbaren Mitteln. Mal mit Hightech-Kriegsgerät – mal in Turnschuhen. Eine Reportage aus den Städten Stepanakert, Shushi und Martuni, über die seit dem 27. September Bomben niedergehen. 

Sieben Minuten. Heulen in Stepanakert die Sirenen auf, bleibt nicht viel Zeit, um sich in einen Keller zu retten. Die Hauptstadt Bergkarabachs wird seit einem Monat beschossen. Mit Artillerie. Aber vor allem vom Himmel aus, wo Drohnen ihre Kreise ziehen. Auch Streumunition wird eingesetzt. Zwischen Armenien und Aserbaidschan tobt seit dem 27. September ein äußerst verlustreicher Krieg um die bergige Region. Im Himmel kreisen Hightech-Killerroboter, am Boden kämpfen zumeist junge Burschen, darunter zahlreiche Freiwillige, die sich zur Front aufgemacht haben, mit wenig militärischer Erfahrung und oft nur notdürftig ausgerüstet.

Unsere armenischen Begleiter geben uns während der sechsstündigen Fahrt von Armeniens Hauptstadt Jerewan nach Bergkarabach die nötigsten Tipps. Wir, das sind fünf Journalisten aus Europa, die in dieses Gebiet im Südkaukasus aufgebrochen sind, um von einem Krieg zu berichten, der mit aller Härte und Erbarmungslosigkeit geführt wird. Und der das Potenzial hat, zu ernsthaften Zerwürfnissen zwischen der Aserbaidschan unterstützenden Türkei, Armeniens Schutzmacht Russland und dem angrenzenden Iran zu führen. Dass auf aserbaidschanischer Seite bis zu 2.000 über die Türkei eingeflogene syrische Söldner mitkämpfen, macht diesen geopolitischen Cocktail noch explosiver, der wie eine dunkle Drohung der Eskalation über diesem Konflikt hängt.

Eine nach Artilleriebeschuss schwer beschädigte Schule in Stepanakert
Eine nach Artilleriebeschuss schwer beschädigte Schule in Stepanakert Foto: Tageblatt/Armand Back

Seit Ausbruch der Gefechte vor einem Monat sind vorsichtigen Schätzungen zufolge auf beiden Seiten bereits mehr als 5.000 Menschen gestorben, vor allem Soldaten, aber auch viele Freiwillige und dutzende Zivilisten. Auf beiden Seiten. Aber wir waren in Bergkarabach, wir können nur von dort aus erster Hand berichten. Und dort machen die Angriffe offenbar vor nichts und niemandem halt. Eine Schule, ein Kulturzentrum, eine Geburtsklinik, Wohnhäuser wurden getroffen. Die meisten Frauen und Kinder unter den insgesamt rund 150.000 Karabach-Armeniern sind geflohen. In die andere Richtung aber strömen viele Freiwillige. Und einige Journalisten, darunter wir.

Allgegenwärtige Angst

Auch das Haus von Sergej wurde getroffen. Viel ist nicht mehr davon übrig. Seine Frau hat ihn trotzdem hergeschickt, um in den Trümmern nach dem Familienschmuck zu suchen. Der Sohn ist an der Front, seit zwei Tagen hat Sergej nichts von ihm gehört. „Ich halte das aus“, sagt der 67-Jährige aus Stepanakert, aber für die junge Generation sei es eine Katastrophe. „In Europa entwickeln sich Kinder, hier nicht, hier müssen sie in den Krieg.“ Für die aserbaidschanische Jugend gelte das ja auch. Das gehe doch nicht, dass die Jungen beider Länder so sterben müssten, sagt Sergej. Der Krieg müsse bald ein Ende finden, „sonst ist es für alle zu spät“. In Rosa Svetlanas Haus ist ebenfalls eine Smerch-Rakete eingeschlagen. Wir treffen sie in einem der zahlreichen Schutzräume. „Wo soll ich sonst hin?“, sagt die Frau, die seit ihrer Geburt in Stepanakert lebt. Sie hat einen Enkel an der Front. 19 Jahre ist er alt. „Ihr müsstet ihn sehen, so schlau und so hübsch.“ Ob sie keine Angst um ihn habe? Doch, große, sagt sie und schaut auf den Boden.

Der 67-jährige Sergej aus Stepanakert vor den Trümmern seines Hauses
Der 67-jährige Sergej aus Stepanakert vor den Trümmern seines Hauses Foto: Tageblatt/Armand Back

Überall in Arzach, wie die ethnischen Armenier ihre selbsternannte Republik auf dem Staatsgebiet Aserbaidschans nennen, ist die Angst allgegenwärtig. Vor allem wegen der Drohnen. Bei Autofahrten sind die Fenster immer ein Stück weit geöffnet – um das Surren rechtzeitig zu hören. Außerhalb der Ortschaften warnen keine Sirenen. Dann bleiben auch keine sieben Minuten. Hört einer das Geräusch, heißt es Vollbremsung, Türen auf, alle raus und jeder in eine andere Richtung. Dann möglichst rasch auf den Boden werfen und hoffen, dass das aus der Türkei und Israel an Aserbaidschan gelieferte, ferngesteuerte Kriegsgerät weiterfliegt. Den Helm und die schusssichere Weste ziehen wir während der drei Tage in Bergkarabach nur zum Schlafen aus. Unsere Schutzausrüstung legen wir neben das Bett, unsere Kleidung behalten wir besser an. Sieben Minuten vergehen schnell.

In Schuscha, einer strategisch wichtigen Stadt auf einer Anhöhe nahe Stepanakert, schreiten Mariam und Hovik zum Altar der Christus-Erlöser-Kathedrale. Sie werden sich in wenigen Minuten das Jawort geben, Mariam im traditionellen Brautkleid, Hovik in Uniform. Im Dachgewölbe der Kathedrale klafft ein gewaltiges Loch, der Boden ist schuttübersät. Vor zwei Wochen schlugen hier in kurzem Abstand zwei Raketen ein. Unweit wurde fast zeitgleich das Kulturzentrum beschossen, zwei Dutzend Menschen starben.

Trauung in Trümmern

Die Kunde der Trauung war zu den Journalisten in Stepanakert durchgedrungen, alle eilen hin. Die Frischvermählten, die zerschossene Kirche, all die Journalisten mit ihren Westen und Helmen – der Krieg wirkt jetzt auf einmal surreal. Mariam erzählt uns, dass auch ihre Eltern in einem Krieg geheiratet haben. Damals, in den frühen Neunzigern, kämpfte sich Bergkarabach mit Unterstützung Armeniens von Aserbaidschan los. Ihren Ehemann Hovik sieht Mariam an diesem Tag das erste Mal seit Kriegsbeginn. Er kämpft an der Front, in Martuni. Bereits am Tag nach der Hochzeit wird er dorthin zurückkehren. Wir schlagen denselben Weg ein.

Mariam und Hovik geben sich in der zerschossenen Kirche in Schuscha das Jawort
Mariam und Hovik geben sich in der zerschossenen Kirche in Schuscha das Jawort Foto: Tageblatt/Armand Back

Martuni, das heißt auf Armenisch so viel wie „Fähig zum Kampf“. Wir fahren in zwei Autos hin. Die Streitkräfte Bergkarabachs haben die allermeisten zivilen Fahrzeuge eingezogen. Hier wird mit allen verfügbaren Mitteln gekämpft, man nimmt, was da ist. Uns bleiben ein verbeulter VW Jetta und ein alter Lada-Geländewagen. Der Lada ist nur dreitürig – was es nicht leichter macht, bei einem Drohnenangriff von der Rückbank zu entkommen. Dort nehmen die beiden Sportlichsten unter uns Platz. Unsere Begleiter haben die Autos irgendwie über Nacht aufgetrieben, keines springt auf Anhieb an. Eine Stunde später kommen wir doch an der Front an. Wenige Kilometer hinter Martuni, wo von den 5.000 Einwohnern aus Friedenszeiten gerade mal rund 500 geblieben sind.

Erst geht es durch einen Schützengraben, dann durch den nächsten, bis wir schließlich auf eine Anhöhe gelangen. In rund 200 Metern Entfernung liegen die Wrackteile einer Antonow An-2. Die alten sowjetischen Flugzeuge werden von Aserbaidschan aus mit Bomben behangen nach Bergkarabach ferngesteuert. In einem Kamikaze-Flug gehen sie auf ihre Ziele nieder. Dieses nicht, es wurde davor abgeschossen. Wir rennen hin, machen ein paar Fotos und rennen wieder zurück in den Schützengraben. Die Sonne drückt, wir bewegen uns auf knapp 1.500 Höhenmetern, das Artilleriegedonner in den Hügeln ringsum ist auch hier pausenlos zu hören. Die Nervosität ist groß, zurück im Schützengraben sind wir völlig außer Atem.

Umgebautes Flugzeug: Abgeschossene „Kamikaze-Drohne“ an der Front nahe Martuni
Umgebautes Flugzeug: Abgeschossene „Kamikaze-Drohne“ an der Front nahe Martuni Foto: Tageblatt/Armand Back

Wenig später interviewen wir hier vier junge Männer aus Martuni. Bis vor einem Monat hatten sie normale Berufe, waren Friseure, Lehrer oder Mechaniker, jetzt dienen sie in den Streitkräften Bergkarabachs. Uniformen haben sie bekommen, zwei haben Militärstiefel an, einer Sneakers, einer Mokassins. Sie tragen alte Kalaschnikows, das Magazin eines der Sturmgewehre hält nur, weil es mit Tape umwickelt ist. Hayk, 31, arbeitet sonst in einer Bank. An eine diplomatische Lösung glaubt er nicht. „Wenn Politiker das hier lösen könnten, wieso haben sie es denn nicht längst getan?“ Nur eine „Niederlage des Feindes“ garantiere Frieden. Alle Armenier sollten kommen und an der Front kämpfen statt auf Facebook, sagt Hayk. So wie er und seine drei Freunde. In den Aussagen der Männer schwingt Stolz mit. Sie gehen von einem Sieg aus, Daumen hoch in unsere Kameras.

Von Raketen getroffenes Kulturzentrum in Schuscha – zwei Dutzend Menschen starben
Von Raketen getroffenes Kulturzentrum in Schuscha – zwei Dutzend Menschen starben Foto: Tageblatt/Armand Back

Immer wieder Drohnen

Zwei Minuten später hören wir das gefürchtete Surren über uns. Auch Hayk und seinen Freunden sieht man die Panik an. Um als Gruppe kein lohnendes Ziel für die teuren Geschosse abzugeben, rennt jeder in eine andere Richtung und wirft sich auf den trockenen, sandigen Boden. Die Drohne fliegt vorbei, wir klopfen uns den Staub ab, noch mal gutgegangen. Wir fahren weiter nach Martuni, Hayk und seine Freunde bleiben. In Martuni wollten wir uns die Kriegsschäden anschauen. Ringsum knallt es immer wilder. Weiterfahren ist jetzt auch nicht mehr drin. Die nächsten drei Stunden verbringen wir mit Soldaten in einem Hausflur. Dann geht es mit Vollgas im alten VW zurück nach Stepanakert. Zweimal springt der Fahrer auf die Bremse. Einmal hat eine Rakete ein frisches Loch in die Fahrbahn gerissen. Das andere Mal steht hinter einer Kurve eine Herde Kühe auf der Straße. Als wir nach Stepanakert hineinfahren, atmen wir auf. Wir haben es geschafft, machen ein Selfie, da heulen schon wieder die Sirenen auf. Wir rasen zum nächsten Schutzraum. Der Fahrer brüllt. „Rennt! Rennt! Drohne!“ Wir laufen, sind drinnen, irgendwo draußen schlagen die nächsten Bomben ein.

Abends verlassen wir Stepanakert wieder. Unsere Fahrer kleben die Bremslichter an den Autos ab. Auf der Rückfahrt über die Gebirgsstraße müssen die Scheinwerfer ausbleiben. Wer sichtbar ist, wird leicht zum Ziel. Drei Stunden später kommen wir heil in der armenischen Grenzstadt Goris an. Unser Nachtquartier. Über Nacht wird unter Führung der USA eine humanitäre Waffenpause ausgehandelt, um die Toten zu bergen. Es ist der dritte Versuch, die Waffen wenigstens ein paar Stunden zum Schweigen zu bringen. Auch dieser scheitert innerhalb von Minuten. Wir wollen gerade weiterfahren, da steigt auf der anderen Seite der Grenze eine Rauchwolke auf. Der Latschin-Korridor, den wir am Abend zuvor passieren mussten, steht wieder unter Beschuss. Dieser Krieg wird wohl noch lange dauern.

 Grafik: Tageblatt/Yannick Schumacher

Tageblatt-Journalist Armand Back war auf Einladung der Nichtregierungsorganisation European Friends of Armenia eine Woche zusammen mit vier anderen europäischen Journalisten in Armenien und Bergkarabach unterwegs.

BéGé
2. November 2020 - 9.02

Hightech-Drohnen und geklebte Kalaschnikovs erinneren mich an Hightech-Tests und auf Grippeviren geklebte Coronaviren , oder ?

J.Scholer
31. Oktober 2020 - 14.06

@HTK: Verbannen wir die Utopie einer Welt in Frieden, ohne Waffen endlich. Wer die Schmach des Völkermordes ertragen , wird nicht ein zweites Mal dem Schlächter vor das Beil rennen.

J.Scholer
31. Oktober 2020 - 13.07

Die Türkei mit Ziel in der Kaukasusregion sich als Ordnungsmacht zu etablieren wird von Europa hingenommen.Die Gefahren durch die türkische Expansionspläne in Syrien, Libyen, Bergkarabach, Ägäis verkannt.Die türkische Flüchtlingspolitik hingenommen, das islamistisch, fundamentale Gedankengut totgeschwiegen. Beispiel: Erst klagt Herr Erdogan Frankreich als dem Islam feindlich gesinnt an, dann nach dem Attentat in Nizza wird kondoliert . Höhnischer kann Politik nicht sein.

HTK
31. Oktober 2020 - 12.51

Soldat,Soldat....ihr seid alle gleich, lebendig und als Leich. Dass Sterben für's Vaterland noch immer so attraktiv sein kann.