Armeniens Premier Paschinyan im Interview„Keiner soll später sagen, wir hätten Europa nicht gewarnt“

Armeniens Premier Paschinyan im Interview / „Keiner soll später sagen, wir hätten Europa nicht gewarnt“
„Die Menschen in Bergkarabach müssen selbst entscheiden können“: Der Krieg setzt auch Armeniens Premier Nikol Paschinyan unter Druck  Foto: Office of the Prime Minister of the Republic of Armenia

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Armeniens Premier Nikol Paschinyan spricht im Interview mit dem Tageblatt über den Krieg mit Aserbaidschan, die Rolle der Türkei und die Abspaltung Bergkarabachs als einzige Rettung.

An den Hängen über Armeniens Hauptstadt Jerewan übertönt nur der Lärm der Bagger das Klagen der Trauernden. Schaufel um Schaufel heben sie auf dem Yerablur-Militärfriedhof neue Gräber für die Gefallenen des Krieges aus, der Armenien seit einem Monat in eine nationale Tragödie stürzt. Gekämpft wird um Bergkarabach – gegen das Nachbarland Aserbaidschan, auf dessen Gebiet die nahezu ausschließlich von ethnischen Armeniern bewohnte, von keinem Staat der Welt anerkannte Republik liegt.

Es ist ein ungleicher Kampf. Armenien zählt drei Millionen Einwohner, Aserbaidschan zehn. Armenien ist arm, Aserbaidschan mit Rohstoffen gesegnet. Armenien ringt um Unterstützung, Aserbaidschan weiß die Türkei hinter sich. Auf beiden Seiten sterben Zivilisten. Auf Stepanakert, der Hauptstadt Bergkarabachs, und vielen Dörfern der bergigen Region geht seit Wochen ein Dauerfeuer aus Artilleriebeschuss und Drohnenangriffen nieder. In der aserbaidschanischen Stadt Ganja wurden Wohnhäuser zerbombt. Baku macht keine Angaben zu seinen Gefallenen. Jerewan meldet rund tausend tote Soldaten und Freiwillige, 2.000 gelten als vermisst. Drei Waffenruhen wurden innerhalb von Minuten gebrochen. Viele Gefallene können nicht geborgen werden.

Der enorme Blutzoll setzt auch Armeniens Premier Nikol Paschinyan unter Druck. 2018 brachte eine friedliche Revolution den ehemaligen Journalisten an die Regierungsspitze. Jetzt muss der 45-Jährige die Republik Armenien durch die schlimmste Krise seit einem Vierteljahrhundert führen. Doch jeder Schaufelhieb der Bagger, jede Träne der Mütter, Töchter und Kinder über den Hängen Jerewans reißt neue Risse in Armeniens Gesellschaft. Paschinyan empfing das Tageblatt am Dienstag in seinem Amtssitz in Jerewan. Armenien ist im Krieg, der Ton ist ernst.

Tageblatt: Herr Premierminister, Ihr Land befindet sich seit dem 27. September im Krieg mit Aserbaidschan. Wo stehen wir jetzt?

Nikol Paschinyan: Sehen wir uns erst einmal an, wer hier gegen Bergkarabach kämpft. Die Türkei ist der Hauptinitiator dieses Krieges, sie hat Söldner und Dschihadisten von Syrien nach Aserbaidschan gebracht. Sie hat Teile ihrer Streitkräfte nach Aserbaidschan entsendet, militärische Ausrüstung und bewaffnete Gruppen aus Pakistan. Das Ziel war ein Blitzkrieg, um Bergkarabach zu erobern. Laut den Berechnungen der Türkei sollte er nur eine Woche dauern, aber Bergkarabach bleibt standhaft und wird weiterhin für seine Rechte kämpfen. Das ist kein Kampf um ein Territorium. Es ist ein Kampf um Rechte.

Aber völkerrechtlich gehört Bergkarabach zu Aserbaidschan.

Armenier leben seit Jahrtausenden in Bergkarabach, sie waren dort immer in der Mehrheit. Das historische Erbe der Armenier in Bergkarabach ist gewaltig. Der Krieg hat gezeigt, wie resilient Karabach ist, und die imperialistische Politik der Türkei enthüllt. Die Türkei kam nicht in erster Linie, um Aserbaidschan zu unterstützen, sondern um ihre imperialistische Politik weiterzuführen. Das tut sie auch im Mittelmeer gegen Griechenland und Zypern, in Libyen, in Syrien, im Irak. Die Armenier sind im Südkaukasus das letzte Hindernis auf dem Weg der Türkei in Richtung Südosten und Südwesten. Wenn die westliche Gemeinschaft es nicht schafft, dieses Verhalten angemessen zu beurteilen, dann wird sie die Türken bald vor den Toren Wiens wiederfinden.

Aber was können Sie realistischerweise von der Europäischen Union erwarten?

Wir setzen unsere Hoffnungen vor allem in uns selbst – und in unsere Verbündeten. Ich bitte die EU nicht, etwas für uns zu tun. Sie soll es für sich selbst tun. Ich denke an die Sicherheit der Menschen in Armenien und in Bergkarabach. Keiner soll später sagen, wir hätten Europa nicht gewarnt.

Schauen Sie, was in Frankreich geschehen ist. Hören Sie, mit welchem Ton der türkische Präsident den französischen Präsidenten anspricht. Was soll das sein außer einem Krieg?

Wovor warnen Sie denn?

Schauen Sie, was in den vergangenen Jahren in Europa passiert ist. Nur, weil keine Langstreckenraketen eingesetzt werden, heißt das nicht, dass dieser Krieg nicht längst begonnen hat. Der Wohlstand in Europa erschwert es, das zu bemerken. Solange die Bomben nicht in den Häusern einschlagen, neigt der Mensch, der im Wohlstand lebt, zum Wunschdenken. Das bietet vielen Akteuren weitreichende Möglichkeiten.

Von welchem Krieg in der EU sprechen Sie?

Schauen Sie, was in Frankreich geschehen ist. Hören Sie, mit welchem Ton der türkische Präsident den französischen Präsidenten anspricht. Wer hätte diesen Ton vor 15 Jahren für möglich gehalten? Ich kenne so eine Sprache gegenüber europäischen Führern nicht einmal aus den Zeiten des Kalten Krieges! Was soll das sein außer einem Krieg? Jetzt kann man diesen Krieg wahrnehmen wollen oder nicht. Doch je länger man wegsieht, desto schlimmer wird es: Menschen werden in den Straßen Europas geköpft. Ich nenne das die Mechanik des Genozids. Es kann immer wieder passieren. Wir sehen, wer das antreibt.

Sie haben vor Kurzem gesagt, dass es im Krieg um Bergkarabach keine diplomatische Lösung gibt. Haben Sie ihre Position seither geändert?

Ich sagte: nicht im Moment. Derzeit versammelt die OSZE-Minsk-Gruppe Staatschefs unterschiedlicher Länder: Die Präsidenten Frankreichs, der USA und Russlands haben einen Waffenstillstand verhandelt, der nicht hält. Wenn wir nicht einmal den ersten Schritt schaffen, wie soll dann der letzte diplomatische Schritt – die Lösung des Konflikts – gelingen?

Der Konflikt um Bergkarabach ist alt und flammt immer wieder auf. Seit Sie an der Macht sind, hat er ein beispielloses Level an Aggression erreicht. Denken Sie nicht, dass Sie etwas hätten tun können, damit die Situation nicht so eskaliert?

Das Problem ist, dass diese Sache nur durch gegenseitige Zugeständnisse gelöst werden kann. Seit 2011 gibt es eine Dynamik: Sobald Armenien ein Zugeständnis macht und etwas akzeptiert, ist das inakzeptabel für Aserbaidschan. Das ist der Grund dafür, dass die Aggression wieder aufgeflammt ist. Wir können nicht endlos Zugeständnisse machen, wenn sich die andere Seite gar nicht bewegt. Die andere Seite hat mehr Geld, um Waffen zu kaufen. Was hätte ich anders machen können, damit es nicht zu diesem Krieg kommt? Ich hätte aufhören können, die Interessen Bergkarabachs zu verteidigen. Hätte es den Krieg dann nicht gegeben? Doch, hätte es, denn in diesem Fall hätte Aserbaidschan noch mehr verlangt.

Nach Artilleriebeschuss nur noch Trümmer: Eine Frau vor den Überresten ihres Hauses in Stepanakert
Nach Artilleriebeschuss nur noch Trümmer: Eine Frau vor den Überresten ihres Hauses in Stepanakert Foto: Armand Back

Aber welche Zugeständnisse wären Sie denn bereit einzugestehen?

Ich habe das mit dem Münchner Abkommen von 1938 verglichen: Vor dem Zweiten Weltkrieg dachten die Staaten Europas, wenn sie Hitler Teile der Tschechoslowakei zugestehen, dann würde es nicht zum Krieg kommen. Was geschah? Hitler schluckte die Gebiete und sein Appetit war nicht gestillt. Hätten die europäischen Führer Tschechien nicht aufgegeben, dann hätten die Journalisten von damals gesagt: Ihr habt Tschechien nicht aufgegeben, deshalb befinden wir uns jetzt im Krieg. Stattdessen hat man damals Zugeständnisse gemacht. Wir kennen die Konsequenzen. Diesen Fehler werden wir nicht machen.

Werden Sie Moskau um humanitäre Hilfe oder um militärische Intervention bitten?

Moskaus Rolle muss aus unterschiedlichen Perspektiven gesehen werden. Moskau ist Armeniens strategischer Partner und dient in der Minsk-Gruppe als Mediator. Ich bin für die Entsendung von russischen Friedenssoldaten ins Konfliktgebiet, aber das Problem ist, dass diese von allen Konfliktparteien akzeptiert werden müssen. Im Fall einer drohenden Gefahr für die territoriale Integrität Armeniens wird Russland seine partnerschaftlichen Verpflichtungen einhalten, militärische eingeschlossen.

Armeniens Premier Nikol Paschinyan und Tageblatt-Journalist Armand Back in Jerewan
Armeniens Premier Nikol Paschinyan und Tageblatt-Journalist Armand Back in Jerewan Foto: Ed Rama

Haben auch andere Länder angeboten, Friedenstruppen nach Bergkarabach zu entsenden?

Nein, aber diese Frage wird immer wieder debattiert. Wir denken, die optimale Lösung ist, russische Friedenssoldaten zu entsenden.

Was können Sie in dieser Krise vom Iran erwarten?

Iran ist unser freundschaftlich gesinnter Nachbar. Ich habe mit dem Präsidenten des Iran telefoniert, unser Außenminister war in Kontakt mit seinem iranischen Amtskollegen. Wir kooperieren und evaluieren die Situation, wir haben auch an der Grenze gemeinsame Truppen.

Die Streitkräfte Bergkarabachs haben zivile Ziele in der aserbaidschanischen Stadt Ganja mit Artillerie beschossen. Widerspricht das nicht der Position, bloß das eigene Volk zu verteidigen?

Nein. Die Frage ist, warum Ganja bombardiert wurde und warum, auf der Seite Bergkarabachs, Stepanakert (die Hauptstadt, Anm. d. Red.) für mehr als zehn Tage bombardiert wurde. Oder wieso Martakert, Martuni, Schuscha bombardiert wurden. Wieso gab es Raketenbeschuss auf die Kirche in Schuscha? Wäre es nur eine einzige Bombe gewesen, hätten wir es für ein Versehen halten können, aber so müssen wir uns fragen: Wieso?

Ein Bergkarabach innerhalb Aserbaidschans hätte eine ethnische Säuberung und einen Genozid an den Armeniern in Bergkarabach zur Folge

Aber schwächt der Angriff auf Zivilisten in Ganja nicht Ihre Position in der internationalen Gemeinschaft?

Die Verteidigungsarmee Bergkarabachs hatte legitime militärische Ziele in Ganja, die sie auch getroffen hat. Es kann sein, dass dabei auch zivile Infrastruktur zu Schaden gekommen ist. Aber in der Nähe der Kirche in Schuscha gibt es kein militärisches Ziel.

Die drei Waffenruhen wurden innerhalb von Minuten gebrochen. Was sind nun die nächsten Schritte?

Tschechien kann und muss alles tun, um sich selbst zu verteidigen! Ein Bergkarabach innerhalb Aserbaidschans hätte eine ethnische Säuberung und einen Genozid an den Armeniern in Bergkarabach zur Folge. Sie waren doch selbst dort, Sie sahen den Raketenbeschuss – das ist die Antwort auf Ihre Frage! Wieso bombardieren sie Stepanakert? Es gibt dafür einen einfachen Grund: Damit die Menschen nicht mehr dort leben wollen. Das ist die Formel für Genozid und ethnische Säuberungen. Unsere Schlüsselbotschaft lautet: Es muss eine Sezession geben, das ist die einzige Rettung.

Bisher hat kein einziger Staat Bergkarabach anerkannt …

Die armenische Bevölkerung in Bergkarabach kämpft um diese Anerkennung, gerade heute, wo das Gebiet zur Frontlinie im Kampf gegen den Terror wurde. Unsere Schlüsselbotschaft lautet: Die Menschen dort müssen selbst entscheiden können. Bergkarabach muss sich abspalten dürfen.

 Grafik: Editpress/Yannick Schumacher 

„Schwerste“ Luftangriffe seit Beginn der Gefechte

Die Behörden der umkämpften Südkaukasus-Region Berg-Karabach haben die heftigsten Angriffe aserbaidschanischer Streitkräfte auf die Regionalhauptstadt Stepanakert seit Beginn der Gefechte vor vier Wochen gemeldet. „Aserbaidschan hat Stepanakert über mehrere Stunden attackiert“, sagte der Ombudsmann für Menschenrechte von Berg-Karabach, Artak Beglaryan, am Donnerstag der Nachrichtenagentur AFP. Laut Regionalpräsident Arayik Harutyunyan brachten sich aserbaidschanische Truppen zudem wenige Kilometer vor der strategisch wichtigen Stadt Schuscha in Stellung. Bei den Angriffen in Stepanakert seien auch Zivilisten verletzt worden, sagte Beglaryan. Es habe sich um die „schwersten“ Luftangriffe seit Beginn der Gefechte Ende September gehandelt. Regionalpräsident Harutyunyan richtete sich am Abend in einem über Facebook verbreiten Video an die Bevölkerung. Der „Feind“ sei nur noch wenige Kilometer von Schuscha entfernt, „höchstens fünf Kilometer“, sagte er. Ziel Aserbaidschans sei es offenbar, die Stadt „einzunehmen“. Der Regionalpräsident fügte hinzu: „Wer auch immer Schuscha kontrolliert, kontrolliert Arzach.“ Arzach ist die armenische Bezeichnung für Berg-Karabach.

Das Tageblatt in Armenien und Bergkarabach

Tageblatt-Journalist Armand Back war auf Einladung der Nichtregierungsorganisation European Friends of Armenia eine Woche zusammen mit vier anderen europäischen Journalisten in Armenien und Bergkarabach unterwegs. Das Interview fand auf Tageblatt-Initiative hin statt.  

Raoul Gerend
31. Oktober 2020 - 19.16

"Si vis pacem para bellum"! Das wussten schon die Römer. Europa ist in der Tat an einem Punkt, an dem man sich fragen kann, wie wehrhaft eine Gesellschaft wie die unsere noch ist. Erdogan ist seit Jahren dabei auszuloten, wie weit er gehen kann. Offenbar sehr weit, wie er mittlerweile herausgefunden haben wird. Die aktuellen Sticheleien in der Ägais sind Teil dieses Spiels und Europa sollte den Griechen tunlichst den Rücken stärken.

J.Scholer
30. Oktober 2020 - 11.36

@Knutschfleck: Infolge der politischen Strukturen, toleranten , humanistischen Einstellungen und Entwicklungen unserer Gesellschaft funktioniert das Prinzip der Abschreckung nicht mehr.Der „ political correctness“ wegen will und kann unsere Gesellschaft keine Kriege mehr führen.Diese Verweichlichung unserer Gesellschaft macht sie anfällig , angreifbar. Despoten wie Erdogan wissen gekonnt dies auszunutzen, „ an leit d‘Kand am Petz“ schreien wir auf .Wir müssen lernen umzudenken, man Krieg nur mit Krieg bekämpfen kann.

Knutschfleck
30. Oktober 2020 - 10.48

Wir sollten bei einer Wiederwahl Trumps schleunigst eine EU Armee zur Abschreckung aufbauen, sonst werden in naher Zukunft die freien Demokratien im Osten in die Schusslinie geraten.

J.Scholer
30. Oktober 2020 - 10.19

@Oswald: Das Problem ist tiefgreifender, Sie meinen. Israel hat ein Abkommen mit dem islamistischen Asebaidschan im Falle eines Angriffes seitens Iran , die Flugplätze für Angriffe zu nutzen. Das Land dient dem MOSSAD als Stützpunkt , liefert Waffen. Andere Nutznießer dieses Konfliktes sind Russland, vor allem die Türkei. Nicht nur alte Querelen mit Armenien aufflammen, geht es Erdogan darum die osmanischen Interessen weltweit auszudehnen, die türkische Machtpolitik längst geglaubter Träumereien vom Osmanischen Reich wieder in den Fokus zustellen. Hinzu kommt noch der Glaubenskrieg um die Vormachtstellung des Islam in der Welt.Die Türkei die diesen Krieg in Bergkarabach mit IS Kämpfern anfeuert, die in der Ägäis , Libyen, Kurdistan , der Flüchtlingsthematik die Konflikte anfeuert, will Europa destabilisieren, den Weg ihrer Vormachtstellung zu sichern.

Claude Oswald
30. Oktober 2020 - 9.23

Wenn die Karte stimmt, dann grenzt das rot eingezeichnete Bergkarabach nicht direkt an Armenien. Es wird also für Aserbaidschan immer möglich sein, den Menschen- und Warenverkehr zwischen Bergkarabach und dem Mutterland Armenien zu behindern. Oder liege ich da falsch ? Wie will man dieses Problem lösen, wenn auf aserbaidschanischer Seite der gute Wille zu einer friedlichen Nachbarschaft fehlt ?